10. Kapitel
Alexandra de Lacy
Noch immer läuft Alexandra ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran denkt, was Raffaello passiert ist. Schon damals bei den Cherletons ist es mehr als erschreckend gewesen, doch nun ist noch eine der sieben Familien bloßgestellt worden. Für Alexandra bedeutet das nur eines, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass noch jemand von ihnen bloßgestellt wird.
Doch würde das ihrer Familie passieren, wäre es das Ende, oder vielleicht auch eher der Anfang vom Ende. Sie würde nicht nur ihr ganzes Ansehen und den Respekt ihrer Mitschüler verlieren, nein, auch die Firma ihrer Mutter wäre ruiniert und am Ende würden sie mit nichts da stehen.
Somit ist für Alexandra mehr als klar, dass dieser Fall zu verhindern ist, koste es, was es wolle. Dafür hat sie sogar auch schon einen genauen Plan ausgearbeitet und um den nun umzusetzen hat sie bis auf Eadlyn jeden einzelnen von ihnen heute um Abend zur Küche bestellt.
So sehr es ihr auch widerstrebt, muss sie zugeben, dass sie nun an einem Strang ziehen müssen. Alleine würde alles wahrscheinlich nur nach hinten losgehen. Aus diesem Grund sitzt sie nun in der kleinen Küche und starrt ungeduldig auf die Uhr. Die anderen sollten eigentlich in fünf Minuten da sein, doch bis jetzt ist noch keiner in Sicht.
Dies ändert sich schon nach wenigen Minuten, als Avaline den Raum betritt und sich wortlos neben ihr niederlässt. Für einen Augenblick spielt Alexandra mit dem Gedanken, nun ein Gespräch mit ihr zu beginnen, doch schon nach kurzem Überlegen wirft sie es wieder über den Haufen.
Nein, würde sie nun ein Gespräch beginnen, würde Avaline dies als Herausforderung sehen, sie wieder ins Unermessliche provozieren und schließlich gleich bei dem Treffen jedem einzelnem Vorschlag widersprechen. Aber dafür ist dieses Treffen nun zu wichtig, als zwischenmenschliche Kontakte, die seit gut drei Jahren eigentlich nicht mehr existieren.
Also richtet Alexandra ihren Blick wieder auf die Uhr, wo der Sekundenzeiger sich mit jedem Ticken einen kleinen Zentimeter weiter bewegt. Im Takt dazu fängt sie an, mit ihrem Fuß auf dem Boden herumzutippen und kann es dabei nicht fassen, wie viel Zeit sich die anderen lassen, schließlich muss man ja nicht immer unbedingt auf die letzte Sekunde kommen.
Doch die nächsten alten Bekannten lassen nicht lange auf sich warten und ganz knapp, bevor der Sekundenzeiger wieder auf der Zwölf ankommt und die Kirchenuhr in der Nähe fünf Uhr schlägt, betritt Nikolai natürlich als Letzter den Raum. Eigentlich ist es kein Wunder, dass ausgerechnet er sich am meisten Zeit lässt, trotzdem verdreht sie die Augen. Aber eigentlich sollte sie sich nicht beschweren, schließlich sind alle ihren Anweisungen gefolgt, was sie ganz sicher so nicht erwartet hätte. Selbst Dante hat sich in der Runde mit vor der Brust verschränkten Armen niedergelassen und sieht sie erwartungsvoll an, obwohl ihm eigentlich klar sein sollte, dass es hier um seine beste Freundin geht.
„Also, wenn ich es deiner Nachricht richtig entnehmen konnte, sind wir hier, weil du Eadlyn loswerden willst?" Charlotte ist die Erste, die etwas sagt und sieht Alexandra dabei fragend an. Dieser nickt einfach nur, auch wenn sie es recht hart formuliert findet.
„Besser zu sagen wäre, ich möchte Eadlyn davon überzeugen, dass ihr Platz nicht hier, sondern irgendwo anders auf der Welt ist", formuliert sie das Ganze um, in der Hoffnung, dass sich die anderen so leichter beeinflussen lassen.
„Egal, wie du es formulierst, es kommt aufs Gleiche hinaus. Wieso sollten wir dir helfen? Es ist ganz klar, dass du dich von Eadlyn bedroht fühlst, schließlich kann sie dir das Wasser reichen und ist vielleicht sogar besser als du. Doch was haben wir davon?", nimmt Dante sofort die Position ein, die Alexandra von ihm erwartet hat. Derjenige, der alles hinterfragt und sich eigentlich lieber auf Eadlyns Seite stellen würde. Vielleicht tut er das auch jetzt schon und ist nur hier, um ihr später von alldem zu erzählen, doch dafür hält er sich wahrscheinlich zu würdevoll.
„Darf ich dich allein schon an das Abendessen erinnern? Das hat allein stattgefunden, um Eadlyn wieder hier zu begrüßen und es ist klar, dass solche Essen öfter stattfinden werden, wenn Eadlyn hierbleibt. Zudem findet ihr es nicht auch ein bisschen seltsam, dass ausgerechnet als Eadlyn wieder hier in England ist, Raffaellos Familie enttarnt wird. Wollt ihr etwa, dass eure Familie die nächste ist?" Alexandra wird dabei immer lauter und sieht erwartungsvoll in die Runde.
Die anderen blicken bei der Erwähnung dieses Geschehnis hingegen zu Boden, als würden sie sich schuldig wegen etwas fühlen. Dabei hat Alexandra gehofft, dass genau dieses Argument die anderen zum Schweigen bringt. Sie alle haben die gleiche Erziehung genossen und sie alle haben gelernt, dass das Wohl der Familie über alles geht. Selbst über die besten Freundschaften. Langsam schleicht sie ein triumphierendes Lächeln auf Alexandras Gesicht und sie sieht sich schon in wenigen Wochen wieder als alleinige Königin der Eliot-Cherleton-Academy. Tatsächlich muss sie sogar zugeben, dass es besser läuft, als sie sich es vorgestellt hat.
„Gut, ich schätze, damit hast du uns alle überzeugt. Und so wie ich dich kenne, hast du dir schon einen genauen Plan zurechtgelegt, wie du Eadlyn vertreiben kannst, oder?", bekommt Charlotte als erste ihre Stimme wieder und blickt Alexandra erwartungsvoll an. Dieser entfährt ein Schnauben, natürlich hat sie schon einen genauen Plan, wie sie Eadlyn wieder los wird.
„Ich habe mir überlegt, dass wir darüber nachdenken, wieso Eadlyn so handelt, wie sie handelt, um ihre Beweggründe zu vereiteln. Nehmen wir doch einmal das Beispiel mit ihrer Rückkehr. Wieso ist sie aus Amerika zurückgekehrt?" Fragend blickt Alexandra in die Runde und hofft, dass die anderen einfach nur verstehen, wie sie das Ganze meint.
„Sie ist wegen uns zurück. Weil wir ihre Freunde gewesen sind", führt Avaline den Denkansatz fort und Alexandra ist froh, dass wenigstens eine es versteht.
„Richtig, und genau da will ich ansetzen. Wenn wir ihr zeigen, dass wir nicht mehr ihre Freunde sind, wird sie wohl auf Dauer verstehen, dass es nicht die richtige Entscheidung gewesen ist, hierher zu kommen. Ob ihr sie jetzt nur noch wie eine entfernte Bekannte oder eine Feindin behandelt, ist mir völlig egal. Abe behandelt sie auf keinen Fall so, dass sie Hoffnung schöpft, dass sich unsere Freundschaft wieder entwickeln kann", erklärt Alexandra es ihnen. Dabei ist Dante nicht der Einzige, der sie ein wenig entsetzt ansieht.
„Alexandra, ich weiß ja nicht, wie du dir das vorstellst, aber Eadlyn ist meine Verlobte", versucht er, ihr zu widersprechen, doch auch das hat sie kommen gesehen.
„Dante, mein Lieber. Nur weil ihr verlobt seid, müsst ihr nicht auf Friede, Freude, Eierkuchen machen. Sieh dir Raffaellos Eltern an, die den Hauptteil ihrer Ehe auf zwei verschiedenen Kontinenten verbracht haben. Und vielleicht wird die Ehe ja auch gar nicht vollzogen, schließlich sind Raffaellos Vater und Eadlyns Mutter auch einmal verlobt gewesen. Insofern wüsste ich nicht, wieso das eine Ausrede sein sollte, Eadlyn wie eine Freundin zu behandeln", erklärt sie ihm streng und er senkt den Blick.
Natürlich ist ihr klar, dass es nicht so leicht wird, wie sie es sich vorstellt, aber man muss es wenigstens versucht haben, sonst würde man sich später nur Vorwürfe machen. Doch bevor sie ihren nächsten Schritt erläutern kann, betritt eine Person den Raum, die eigentlich nicht eingeplant gewesen ist. Eadlyn blickt überrascht in die Runde, scheinbar hat sie nicht damit gerechnet, sie alle an einem Tisch vorzufinden.
„Was macht ihr denn alle hier?", fragt sie misstrauisch und blickt insbesondere zu Alexandra, als würde sie schon ahnen, dass das Ganze hier ihre Idee gewesen ist. Doch Alexandra bleibt ruhig und setzt ein Lächeln auf.
„Raffaello hat uns angeboten, etwas zum Essen zu machen. Wenn du möchtest, kannst du dich natürlich gerne zu uns setzen, wenn das für alle hier in Ordnung ist." Während ihres ersten Satzes wirft Alexandra vor allem Raffaello einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldet, ehe sie auch die anderen der Reihe nach anblickt.
„Stimmt das?" Eadlyn steht dem Ganzen immer noch mehr als misstrauisch gegenüber, als könnte sie nicht glauben, was sie sieht.
„Natürlich stimmt das. Es tut mir Leid, aber ich schätze, ich habe dich einfach vergessen", stimmt Raffaello Alexandra zu und sie würde ihm jetzt fast sogar ein Lob aussprechen. Die Idee mit dem Vergessen zeigt Eadlyn hoffentlich nur allzu deutlich, dass sie in den normalen Freundeskreis nicht mehr miteingerechnet wird. Prüfend blickt Alexandra wieder zu Eadlyn, um zu sehen, wie diese darauf reagiert, doch wie nicht anders erwartet, hält sie den Kopf weiter hoch erhoben.
„Das kann schließlich jedem Mal passieren, schließlich haben wir uns lange nicht mehr gesehen", überspielt sie das Ganze, nimmt sich einen Stuhl und lässt sich genau zwischen Dante und Raffaello nieder.
„Ehm ja, dann schätze ich, mache ich uns mal etwas zu essen", sagt Raffaello nach einigen Sekunden zögernd und Alexandra kann jetzt nur noch hoffen, dass er es nicht versaut. Während Raffaello also in der Küche hantiert, kehrt zwischen den alten Freunden Stille ein, als wüssten sie nicht, worüber sie sprechen sollten.
„Eadlyn, wie sieht es eigentlich bei dir aus? Denkst du, du wirst beim Festival mitmachen?", durchbricht Dante schließlich die Stille und augenblicklich richten sich alle Blicke auf ihn. Überrascht sieht Alexandra ihn an und weiß damit noch nicht ganz, was er bezwecken will. Scheinbar ist er nicht so gut wie Raffaello darin, dass gerade Abgemachte umzusetzen.
„Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Ich glaube, Lust hätte ich schon gerne", antwortet sie und merkt dabei scheinbar nicht, wie die Stimmung immer eisiger wird oder sie weiß es immer noch sehr gut zu überspielen.
„An welcher Stelle denn genau? Da du ja von uns allen die Beste bist, wäre es doch eigentlich nur gerecht, wenn du uns im Kampfduell mit Kräften vertrittst." Bei Dantes Worten wirft Alexandra ihm einen tödlichen Blick zu, doch seine Mundwinkel, die leicht nach oben zucken, zeigen ihr ganz genau, dass das alles ganz sicher kein Versehen gewesen ist.
Tja, scheinbar ist es wirklich ein Fehler gewesen, ihn gerade zu dem Treffen einzuladen. Aber nun ist es zu spät und Alexandra muss jetzt gucken, wie sie das wieder hinbekommt. Doch viel mehr verletzen sie seine Worte. Sie muss zugeben, dass das Mädchen, das neben ihr und den anderen fünf beim Festival gekämpft hat, nicht unbedingt sonderlich gut gewesen ist. Somit wäre es mehr als in Ordnung, hätte er Eadlyn einfach nur gefragt, ob sie mitmachen möchte.
Doch ihr direkt eine Position vorzuschlagen, vor allem Alexandras Position geht zu weit. Viel zu weit. Seit dem ersten Jahr ist sie mehr als stolz darauf, Gruppenanführerin zu sein und als diese ist es nur ihr gutes Recht, in der letzten Kategorie ihre Schule zu vertreten. Und nun schafft Dante es, diese Position und ein Stück weit auch den Titel der Gruppenanführerin nicht nur Eadlyn anzubieten, sondern sie auch noch als Beste zu betiteln, was ja noch nicht einmal wirklich feststeht.
Wieder kann man ganz genau sehen, warum es das Beste für alle wäre, wenn Eadlyn verschwindet. Ihre Anwesenheit bringt Chaos und Unordnung in ihre geregelten Leben. Somit bleibt ihr nur noch der Hoffnung, dass sich der Rest ihrer alten Freunde nicht so sehr gegen den Plan wehren wird wie Dante und sie es schaffen, Eadlyn so schnell wie möglich zu vertreiben. Währenddessen sind die anderen mittlerweile schon in ein reges Gespräch über das Festival vertieft und selbst Raffaello hat sich wieder zu ihnen gesellt.
Ihr Plan, Eadlyn keine großen Hoffnungen über eine neue Freundschaft zu machen, scheint jeder vergessen zu haben. Alexandra ballt eine Hand zu einer Faust, ehe sie wortlos aufsteht und verschwindet. Egal, ob sie es alleine tun muss oder nicht, sie wird sich von Eadlyn nichts zerstören lassen, schwört sie sich, während sie die Gänge der Schule durchquert.
Die Luft der kleinen Halle ist mehr als stickig und von dem Geruch nach Schweiß und Blut durchtränkt. Schon mehr als einmal hat Alexandra einen Ellbogen in die Seite bekommen und eben so fest zurückgeschubst, während sie sich ihren Weg durch die dicht aneinanderstehende Menschenmenge bahnt.
Durch das Tuch vor ihrem Gesicht, dass nur einen Spalt für ihre Augen und die Nase übrig lässt, fällt ihr das Atmen noch schwerer und die lange Kleidung ist eigentlich viel zu warm für diese Umgebung.
Doch würde sie normal auftreten, wäre es das Ende ihres und des Ansehens ihrer Familie. Die Presse würde sich das Maul darüber zerreißen, wenn man einen Erben eines Imperiums bei den Undergroundkämpfen entdecken würde.
Doch genauso wenig schafft sie es, sich von diesen Orten, an denen sie sich wirklich lebendig fühl, fernzuhalten. Immer weiter kämpft sie sich vor, bis sie schließlich nur noch wenige Meter vor dem Ring zum Stehen kommt. In diesem kämpfen gerade zwei Männer miteinander und angestrengt beobachtet sie den Kampf.
Der eine ist eigentlich ein Riese und seine Muskeln sind klar und deutlich durch das enge T-Shirt sichtbar. Trotzdem wirkt er nicht wie ein einziger Schrank, weswegen er wahrscheinlich nicht nur eine Verehrerin hat. Der andere im Ring ist eher klein, doch auch nicht gerade untrainiert. Das Messer in seiner Hand blitzt immer wieder im schwachen Schein der Lampen leicht auf, während der Hand nur mit seinen Fäusten kämpft.
Für gewöhnlich hätte Alexandra nun angenommen, dass der kleinere gewinnt, da er schnell und flink ist. Aber dafür sind seine Bewegungen zu ungelenkig, fast wirkt es so, als wäre er zum ersten Mal hier. Zudem scheint ihnen die lauten Rufe der Menschen und das Gejohle immer wieder abzulenken und zu verunsichern. Bei seinem Gegner sieht man hingegen, dass er nicht zum ersten Mal hier ist. Sein Blick schweift nicht einmal über die Zuschauer, stattdessen fixiert er die ganze Zeit ihn.
Während Alexandra den Kampf immer weiter beobachtet, überlegt sie die ganze Zeit fieberhaft, woher ihr der größere der beiden bekannt vorkommt, bis es ihr schließlich wieder einfällt. Sie hat schon vor einiger Zeit gegen ihn gewonnen, doch anders als die meisten ihrer Gegner hat er sich nicht einfach von ihr abgewendet und sich geschämt, gegen eine Frau verloren zu haben, sondern ihr Respekt gezollt und ein paar bewundernde Worte ausgesprochen, wie es sich eigentlich gehört. Seitdem sind sie sich noch ein paar weitere Male hier über den Weg gelaufen und immer wieder haben sie sich freundlich gegrüßt.
Augenblicklich beobachtet sie ihn noch aufmerksam und stellt erfreut fest, dass er ihre Tipps damals ziemlich gut umgesetzt hat. Somit ist es auch kein Wunder, dass er schon nach wenigen Minuten als Sieger feststeht. Ein Mann tritt zu den beiden Männern, der die Kämpfe immer moderiert und ruft ihn als Sieger aus.
Danach verlässt der kleinere der beiden Kämpfe den Ring, wahrscheinlich um seine Wunden zu lecken. Der Moderator fragt nach einem neuen Kämpfer und bevor Alexandra sich mehr Gedanken machen kann, hebt sie den Arm, um zu zeigen, dass sie als Nächste kämpfen möchte. Die Zuschauer um sie herum sehen sie erstaunt an, als könnten sie nicht glauben, dass auch eine Frau an den Kämpfen teilnehmen möchte.
Dadurch, dass sie ihr ein kleines wenig Platz machen, fällt es ihr um einiges leichter, die letzten paar Meter zum Ring zu überwinden und klettert dort hoch. Doch bevor der Moderator die beiden Kämpfer bekannt geben kann, hebt ihr Gegner einen Arm, um zu zeigen, dass er nicht bereit ist, gegen sie zu kämpfen. Er schenkt ihr ein kurzes Lächeln, scheinbar ist ihm seine Niederlage gegen sie noch mehr als präsent. Hoch erhobenen Hauptes verlässt nun auch er den Ring und lässt sich dabei von dem Buhlen der Zuschauer nicht aus der Ruhe bringen, die es scheinbar als Unding ansehen, als Mann gegen eine Frau ohne Kampf aufzugeben.
Wieder nimmt ihr Respekt vor ihm zu, da ihm die Meinung der Menschen um ihn herum egal zu sein scheint. Eine Eigenschaft, die sie auf keinen Fall besitzt, schließlich richtet sie schon fast ihr Leben nach der Meinung und Aussagen anderer. Doch es dauert nicht sonderlich lange, bis sich jemand findet, der bereit ist, gegen sie zu kämpfen. Vom Sehen her kennt sie ihn zwar auf keinen Fall, doch der Name, den der Moderator nach kurzer Zeit ausruft, ist ihr mehr als bekannt.
Eigentlich kämpft er an anderen Orten, aber dort hat er sich mittlerweile als ziemlich guter Kämpfer etabliert, zumindest hat sie das aus den Gesprächen der Zuschauern einmal herausgehört. Somit scheint ihr heutiger Kampf ja doch noch interessanter zu werden, als gedacht, und für einen kurzen Moment überlegt sie, ob es nicht doch ein Fehler gewesen ist, ihre Waffe zuhause gelassen zu haben.
Aber nun bleibt ihr auch keine Zeit mehr, sie zu holen oder es wenigstens zu bereuen. Stattdessen begibt sie sich genau wie ihr Gegner auf die Startposition und kann es dabei nicht lassen, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Für die Kämpfer, gegen die sie hier schon gekämpft hat oder die sie hier schon hat kämpfen gesehen, würde sie ihn eher als Durchschnitt betiteln. Er ist weder sonderlich groß oder klein, weder sonderlich kräftig noch schmächtig.
Trotzdem sollte sie diesen Kampf nicht auf die leichte Schulter nehmen, schließlich ist jeder Mensch zu einer Überraschung gut. Mit dem Blick, mit dem er sie beobachtet, ist ihr auch klar, dass er sie auch garantiert nicht unterschätzt, sondern als Gegnerin ernst nimmt, etwas, was die meisten nicht tun. Somit ist es auch keine Überraschung, dass sie sich schon nach wenigen Minuten in einem hitzigen Kampf befinden, und nun muss auch Alexandra zugeben, dass er den Gerüchten um sich mehr als gerecht wird.
Wieder weicht sie einem seiner Schläge aus und verzweifelt sucht sie nach einer Lücke in seiner Deckung, doch es scheint keine zu geben. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und beobachtet jede einzelne seiner Bewegungen. Jeder Mensch hat seine Schwächen, er also auch, versucht sie, sich Mut zu zu sprechen, während sie immer weiter ausweicht. Momentan dirigiert mehr er den Kampf und es liegt an ihr, auszuweichen. Dabei ist ihr mehr als, dass wenn dieser Kampf so weiter geht, sie auf Dauer die Kraft und Energie verlieren wird, gegen ihn zu gewinnen.
Ruckartig duckt sie sich weg und seine Faust rauscht nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf vorbei. Ihr Atem wird hektischer, während sie sich eigentlich schon als Verliererin am Boden sieht. Was würde ihre Mutter dann nur sagen, wenn sie sie sehen könnte? Sie sieht den Gesichtsausdruck ihrer Mutter bildhaft vor sich und ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Zwar ist es schon länger her, dass ihre Mutter sie so angesehen hat, doch es hat eine Zeit gegeben, da ist das keine Seltenheit gewesen.
Jedes einzelne Mal, wenn Alexandra einen Kampf gegen Eadlyn verloren hat. Jedes einzelne Mal, wenn sie den Erwartungen ihrer Mutter nicht gerecht geworden ist. Doch diese Zeit ist eigentlich vorbei. Ein schmerzhafter Stich durchfährt ihre linke Seite und dieser kurze Augenblick reicht aus, um sie daran zu erinnern, was passiert, wenn ihre Mutter Wind davon bekommt, dass Alexandra einen Kampf verloren hat. Selbst, wenn sich ihre Mutter selber nicht hier herumtreibt, so hat sie doch ihre Kontakte, ihre Mitarbeiter, die ihr jederzeit Bericht erstatten werden. Bethany de Lacy hat ihre Augen überall. Alexandra wird klar, dass sie diesen Kampf nicht verlieren kann. Sollte sie es dennoch, wäre es ihr Ende.
Mit dieser Erkenntnis macht sich eine neue Kraft in ihr breit. Eine besondere Energie strömt durch ihre Adern und erreicht so jede Ecke ihres Körpers. Alexandra hält inne und bringt ihren Gegner damit völlig aus seinem Takt. Überrascht beobachtet er, wie nach oben blickt und endlich fühlt sie sich wieder lebendig.
Ein Lachen kommt über ihre Lippen, dass für die meisten Menschen wahrscheinlich mehr als angsteinflößend ist, so verrückt wie es klingt und auch ihr Gegner weicht einen Schritt zurück. Darauf hat sie gewartet. Ihr großer Moment. Die Energie, die durch ihren Körper geflossen ist, verleiht ihr neue Stärke, neue Kraft. Noch bevor ihr Gegner wirklich versteht, was vor sich geht, stürmt sie auf ihn zu und wirft ihn direkt zu Boden. Nun ist es an ihr, den Taktstock zu nehmen und diesen Kampf zu leiten.
Mittlerweile ist ihr Gegner völlig hilflos und somit dauert es auch nicht allzu lange, bis der Kampf entschieden ist. Der Moderator steigt wieder zu ihnen in den Ring und hebt Alexandras Arm in die Höhe, um zu zeigen, dass sie gewonnen hat. Das Jubeln der Menschen und die anerkennenden Pfiffe versetzen sie in einen neuen berauschenden Zustand, nachdem der erste fast abgeflacht ist.
Sie ist Alexandra de Lacy und ganz sicher wird sie sich nicht so einfach besiegen lassen. Das sollte nun jedem in diesem Raum klar sein. Als sie ihren Blick zur Seite richtet, stellt sie mit Erstaunen fest, dass ihr Gegner jetzt schon verschwunden ist. Scheinbar kommt er doch nicht so gut damit klar, gegen eine Frau zu verlieren, wie sie es von ihm erwartet hätte.
Da dieser Kampf ihr aber auch schon eigentlich genug gewesen ist, verschwindet sie aus dem Ring, noch ehe der Moderator nach einem weiteren neuen Gegner für sie suchen kann. Während sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge zurück bahnt, lauscht sie dem Getuschel und Gerede der Menschen um sie herum.
Die meisten sehen sie nun mit einem misstrauischen Blick an, wobei kaum einer genau verstanden hat, was jetzt gerade genau passiert. Aber wahrscheinlich könnte das auch keiner. Während sie die kleine Halle durch eine Tür verlässt, stiehlt sich ein triumphierendes Lächeln auf ihre Lippen. Die Todsünde der Hochmut verliert nie, komme, was wolle.
Zwar ist die Luft im Raum neben der Halle nicht unbedingt besser, doch ihr dominiert mehr der Geruch nach Rauch und Alkohol, als nach Schweiß und Blut. Alexandra ist sich dabei aber noch nicht ganz sicher, welchen Geruch sie bevorzugt. So selten wie sie mittlerweile hierherkommen kann, ist ein kleiner Drink nach jedem Kampf sicher in Ordnung.
Wie immer sucht sie sich einen Platz an der Theke eher am Rand und bestellt einen Cocktail, den sie bisher noch nicht probiert hat. Jedes Mal, wenn sie sich hier einen Cocktail bestellt, nimmt sie einen, den sie noch nicht kennt, sodass sie den meisten Namen auf der Karte mittlerweile einen Geschmack zu ordnen kann.
Am Rande bemerkt sie, wie sich jemand neben ihr niederlässt, doch ihr Augenmerk gilt in diesem Moment mehr dem Cocktail, der in diesem Moment vor ihr abgestellt wird. Wortlos greift sie nach dem Glas und will gerade einen Schluck trinken, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt.
„Wir haben zwar nie über das Thema Alkohol gesprochen, doch auch so hätte ich vermutet, dass du eher Cocktails trinkst, anstatt etwas einfachem", wird sie von dem Mädchen neben ihr angesprochen.
Diese scheint etwa ein oder zwei Jahre jünger zu sein als sie, doch wirkt durch das viele Make-up mehr als erwachsen. Während die Stimme Alexandra wage bekannt vorkommt, sagt ihr das Aussehen des Mädchens gar nicht.
„Darf ich mal probieren?", fragt diese und ohne eine Antwort abzuwarten, greift sie nach dem Cocktail in Alexandras erstarrter Hand und nimmt einen Schluck. Danach verzieht das Mädchen. „Viel zu bitter", äußert sie ihre Meinung, während sie den Cocktail einfach nur wieder auf die Theke stellt. Nun trinkt auch Alexandra endlich etwas von ihrem Cocktail.
Ihr schmeckt er hingegen sehr gut, wobei er aber auch nur über eine leichte bitter Note verfügt. Dabei fällt Alexandra sofort eine Person ein, die ein besonderes Gespür dafür hat, Bitteres aus einem Getränk oder Gericht herauszuschmecken. Mit einem Mal weiten sich Alexandras Augen und die Erkenntnis macht sich in ihr breit.
„Molly?", spricht sie ihre Nachbarin nun namentlich an und auf deren Lippen taucht ein Lächeln auf.
„Na endlich erkennst du mich mal. Eigentlich müsstest du dich doch jetzt mehr als schlecht fühlen, die eigene kleine Schwester nicht erkannt zu haben, oder?" Alexandra hingegen kann ihre kleine Schwester nur mehr als erstaunt ansehen. Eigentlich müsste sich jetzt auch ihr schlechtes Gewissen melden, doch noch immer ist sie viel zu sehr von Mollys Auftreten überrascht. Nie im Leben hätte sie dieses Mädchen für ihre kleine Schwester gehalten, wenn sie sich einfach so auf der Straße über den Weg gelaufen wären.
„Woher weißt du, wo ich bin? Und überhaupt, was machst du hier?", überschüttet sie Molly mit Fragen, auf die sie nicht die geringste Antwort hat.
„Na ja, zur zweiten Frage, unsere Mutter hat mir erlaubt, dich zu besuchen und da es zuhause mehr als langweilig ist, habe ich mir gedacht, mache ich das doch einmal. Und zur ersten Frage, dich zu finden ist nicht sonderlich schwer. Man sucht einfach immer nur dort, wo man am meisten Ansehen und Anerkennung finden kann. Dann bist du nicht weit." Be ihren letzten Worten wirft Molly ihrer großen Schwester einen wütenden Blick zu und Alexandra weiß in diesem Moment nicht, was sie mehr verletzt.
Mollys Auftreten, ihr Verhalten gegenüber oder die Art und Weise, wie sie über sie denkt. Nichts an diesem Mädchen, das nun neben Alexandra sitzt, erinnert noch an die Molly, die Alexandra vor drei Jahren zuletzt gesehen hat. Zwar ist Molly schon immer sehr kränklich gewesen, doch vor drei Jahren hat sie einen Tiefpunkt gehabt, der kein Ende zu nehmen schien. Also hat ihre Mutter entschieden, sie auf ein Familienanwesen ans andere Ende der Welt, nach Russland, zu schicken, wo sie sich wohl wunderbar erholen konnte.
Alexandra hat sich damals mit Händen und Füßen gewehrt, doch am Ende bliebt ihr nichts anderes übrig, als ihre Schwester dabei zu beobachten, wie sie in den Privatjet steigt, um sie für sehr lange Zeit zu verlassen. Da kurz zuvor auch Eadlyn spurlos verschwunden ist, hat Alexandra damals mit einem Mal die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren, ohne irgendetwas tun zu können.
Während sie am Anfang noch Briefe an Molly schickte, da es dort draußen wohl kein Netz gab, hörte sie bald jedoch damit auf, als sie auf keinen einzigen Brief eine Antwort erhielt. Seitdem hat sie kein Wort mehr mit ihrer Schwester gewechselt, während sie als kleine Kinder beste Freundinnen gewesen sind. Alexandra ist öfter bei Molly gewesen, wenn es ihr nicht gut ging, als irgendjemand sonst, und niemand hat besser zwischen ihren Zwiespalt zu Eadlyn Bescheid gewusst, als Molly.
Die beiden sind ein Herz und eine Seele gewesen, obwohl ihre Leben nicht unterschiedlicher hätten sein können. Während Alexandras Tagesablauf von ihrer Mutter bestimmt wurde und aus Tanz-, Geige- und Benimmunterricht bestand, richtete der von Molly sich nach ihrem Gesundheitszustand und dazu gehörten Therapien, Arztbesuche und Krankengymnastik. Doch Alexandra hat es schon immer bewundert, wie Molly sich von alldem nie hat unterkriegen lassen.
Stattdessen hat sie ihr Leben geliebt und ist alles mit einem Optimismus angegangen, der Alexandra zumeist gefehlt hat. Das Mädchen ihr nun gegenüber wirkt bei weitem nicht mehr so glücklich, wie die kleine Molly und das verletzt Alexandra fast schon sogar mehr, als es Beleidigungen könnten.
„Ich habe deinen Kampf beobachtet. Du hättest fast verloren." Der Gesichtsausdruck, den Molly ihr dabei zu wirft, und den abschätzigen Tonfall kennt Alexandra dabei mehr als nur gut, allerdings von einer sehr viel anderen Person.
„Hast du oft Kontakt zu Mutter gehabt?", geht sie ihrer Vermutung auf die Spur und beobachtet dabei ganz genau, Mollys Gesichtsausdruck.
„Tatsächlich ja. Am Anfang eher weniger, doch zum Schluss ist Mutter wirklich oft bei mir gewesen, antwortet sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ein Schnauben entfährt Alexandra und mit einem Mal ist ihr klar, warum Bethany de Lacy in letzter Zeit auf so vielen Geschäftsreisen gewesen ist und warum so lange.
Statt sich mit irgendwelchen Geschäften zu beschäftigen und die Firma weiter nach vorne zu bringen, hat sie sich um ihre jüngste Tochter gekümmert. Daran wäre auch rein gar nichts auszusetzen, wäre ihre Mutter nicht Bethany de Lacy.
Als Molly noch kleiner gewesen ist, musste Alexandra sich bei jedem ihrer Besuche neue Ausreden einfallen lassen, warum ihre Eltern diesmal nicht mitkommen konnten, schließlich konnte sie einem achtjährigen Mädchen wohl kaum erzählen, dass ihre Eltern mal wieder keine Lust hatten und sie als reine Zeitverschwendung ansahen.
„Na ja, sie meinte, sie müsse endlich die verlorene Zeit von früher nachholen. Es hat ihr wirklich leid getan, dass sie damals kaum mitkommen konnte, aber sie musste wohl viel arbeiten", erzählt Molly weiter und in diesem Moment fragt Alexandra sich, ob sie immer noch von derselben Person reden. Bethany de Lacy tut rein gar nichts leid.
In diesem Moment wird Alexandra vollkommen klar, wieso ihre Mutter so oft bei Molly gewesen ist. Molly ist nun genau die Person, die ihre Mutter eigentlich immer aus Alexandra machen wollte. Das naive Mädchen, das alles glaubt und tut, was Mami sagt, und dabei dennoch weiß, wie sie ihren eigenen Willen durchsetzen kann. Am liebsten würde Alexandra sich nun auf der Stelle auf den Weg zu ihrer Mutter machen und von ihr fordern, Molly wieder freizugeben.
Das Mädchen neben ihr ist nicht mehr ihre Schwester. Das Mädchen neben ihr ist ein Soldat ihrer Mutter. Ein dumpfer Schmerz macht sich in Alexandra breit, als hätte ihr jemand einen Dolch in die Brust gestoßen und breitet sich in jeden Zentimeter ihres Körpers aus. Was würde sie dafür geben, noch einmal mit der kleinen Molly zu reden, die immer zu ihr aufgesehen hat und immer stolz gewesen ist, zu behaupten, Alexandra sei ihre große Schwester.
Die jetzige Molly betrachtet sie stattdessen nur mit einem abschätzigen Blick und scheint nicht mehr den geringsten Hauch von Liebe gegenüber ihrer großen Schwester zu besitzen. Ohne ein Wort zu sagen, greift Alexandra wieder nach ihrem Cocktail und nimmt einen tiefen Schluck. Hätte sie gewusst, was sie nun erwartet, hätte sie ganz sicher etwas Hochprozentiges genommen und in diesem Moment bereut sie es, es nicht getan zu haben.
„Mutter hat mir auch noch gesagt, dass ich dir ausrichten soll, dass sie Großes von dir erwartet und du dich nicht von dieser Eadlyn aufhalten lassen sollst. Aber diese Eadlyn kann doch eh nichts, niemand kann eine de Lacy besiegen." Bei den Worten von Molly fängt wieder Alexandras Herz an, zu bluten. Der letzte Satz kommt ganz sicher von Molly selbst, da ihre Mutter so etwas nie im Leben sagen würde.
Dabei verletzt es Alexandra, wie ihre kleine Schwester über ihre beste Freundin denkt. Doch noch mehr verletzt es sie, wie Molly sie als eine de Lacy betitelt, statt große Schwester oder Alexandra. Nein, mittlerweile scheint Alexandra wirklich nur noch eine entfernte Verwandte für sie zu sein.
Aber gleichzeitig hat sie Recht. Eine de Lacy, vor allem Alexandra, lässt sich von nicht besiegen. Somit wird sie ihrer kleinen Schwester wohl kaum zeigen, wie sehr sie von ihren Worten verletzt ist.
„Sollest du unsere Mutter das nächste Mal sehen, kannst du ihr schöne Grüße von mir ausrichten, Margarethe." Genau so, wie ihre Schwester das Gesicht bei der Nennung ihres vollen Namens verzieht, fühlt es sich auch für Alexandra an, die sie eigentlich immer nur Molly genannt.
Nun ihren vollen Namen zu nennen, fühlt sich mehr als nur seltsam und falsch an, dass sie für einen kurzen Moment überlegt, sich noch zu verbessern. Doch auf der anderen Seite ist Molly der Name eines kleinen, fröhlichen Mädchens, dass völlig unberührt von der Realität zu sein scheint und nach ihren eigenen Regeln spielt.
Das Mädchen vor ihr ist hingegen ein anderes, sie ist nur eine Spielfigur eines anderen, die diesen Namen ganz sicher nicht verdient. Noch bevor Molly etwas erwidern kann, steht Alexandra auf und verlässt den Raum, nicht sicher, wie lange sie diesen Anblick noch ausgehalten hätte.
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