Schlaflied
Es gab nur wenige Menschen auf dieser Welt, denen das Glück zuteilwurde, ihren Seelenverwandten zu finden. Manchmal passierte es in den gewöhnlichsten Situationen: ein zufälliger Zusammenstoß im Supermarkt, ein Treffen im Restaurant oder auch ein Kennenlernen im Internet. Doch es gab auch Ausnahmen, da geschah es auf wundersame, fast unerklärliche Weise, die manch einer als Magie bezeichnen würde. Und auch wenn es keine Magie war, dann zumindest Schicksal.
☁️
Seine Augenlider wurden immer schwerer, schlossen sich schließlich flatternd, bis ihn die Schwärze komplett umhüllte. Der Schlaf erlöste ihn aus der unglücklichen Realität seines trögen Alltags und katapultierte ihn hinein in eine Welt, die so viel Fantasievolleres, Magischeres und Traumhafteres für ihn bereithielt. Eine Welt, in der er glücklicher nicht sein konnte.
Der Gedanke abends zu Bett zu gehen und sich in diese Traumwelt entführen zu lassen, war sein täglicher Lichtblick, um die anstrengenden Schichten im Supermarkt über sich ergehen zu lassen. Mit dem Regale einräumen und Kunden abkassieren hielt er seine private Existenz mühsam über Wasser, der magere Lohn reichte ihm gerade so. Doch zu etwas anderem war er mit seinem schlechten Realschulabschluss sowieso nicht zu gebrauchen, zumindest bläute ihm das sein Stiefvater immer wieder ein.
Der bunte Strudel wirbelte ihn durch die Lüfte, mittlerweile liebte Louis dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, auch wenn es ihm anfangs etwas Angst eingeflößt hatte. Lachend streckte er die Arme weit von sich, während er sich um die eigene Achse drehte und landete schließlich mit einer gekonnten Leichtigkeit, die ihm einen stattlichen Hofknicks wert war, auf beiden Füßen.
„Angeber." „Du bist doch bloß neidisch, weil du durch diesen dunklen Tunnel kriechen musst, um in die Traumwelt zu gelangen." „Überhaupt nicht wahr!" „Und ob das wahr ist!" Die beiden Jungs gingen aufeinander zu und dann ließen sie die scherzhaften Neckereien, scherzhafte Neckereien sein und fielen sich wie zwei Ertrinkende in die Arme.
„Ich hab dich vermisst, der Tag war viel zu lang." „Mein Stiefvater hat mir nach dem Abendessen wieder einen seiner Vorträge gehalten, wie wichtig es doch wäre, mit beiden Beinen im Leben zu stehen, ich konnte leider nicht früher kommen." Entschuldigend löste sich Louis aus ihrer Umarmung und strich eine der wilden schokobraunen Locken seines Gegenübers aus dessen Gesicht, ehe er ihm einen Kuss auf die Lippen drückte.
„Ist es immer noch nicht besser geworden?" „Für ihn bin ich ein Träumer,... wenn er nur wüsste, wie recht er damit hat", kicherte er und der andere Junge stimmte mit ein. „Wohin geht es heute, Lou?" „Hm...", nachdenklich legte Louis den Kopf in den Nacken, blickte der grellen Decke entgegen und sah dann den ellenlangen Flur entlang, der sich vor ihnen erstreckte. Abertausende an weißen Türen, so viele, dass sie mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen waren.
„Ein Ausritt durch den Wilden Westen, mit den Aliens durchs All, an Lianen durch den Dschungel schwingen oder vielleicht doch lieber ein Spaziergang am Grunde des Pazifischen Ozeans? Du weißt, wie sehr ich es liebe, wenn dein Körper bloß in dieser glitzernden Schwanzflosse steckt." Ein Schnauben neben ihm ertönte und ein mittelschwerer Boxhieb traf ihn gegen die Brust.
„Oder... Oh Harry! Lass uns nochmal hoch zu den Wolken. Uns einfach treiben lassen und Zeit zu Zweit verbringen." Flehend blickt er dem Lockenkopf entgegen und auch wenn Louis wusste, dass es nicht Harrys liebstes Ausflugsziel war, würde er seinen blauen Kulleraugen nicht widerstehen können. „Sieh mich nicht so an, Lou", jammerte Harry und versuchte seinem Blick auszuweichen. „Du weißt, dass ich ein bisschen Höhenangst habe." „Ich bin bei dir und passe auf dich auf. Dir kann doch gar nichts passieren, das hier ist nicht echt."
Ein leises Seufzen entfloh den Lippen des Lockenkopfs und Louis wusste, dass er gewonnen hatte. Triumphierend schnappte er sich Harrys Hand und zog ihn rennend an mehreren hundert der weißen Türen vorbei, bis sie endlich zu einer Leiter kamen, deren Ende ebenso wenig ersichtlich war, wie das Ende des Flurs.
„Du zuerst", ermutigte Louis seinen Freund. „Ich fange dich auf, wenn du fällst." Augenrollend trat Harry vor, die Hände an der Strickleiter und ließ sich noch einen Kuss von Louis klauen, ehe er zu klettern begann. Immer weiter und weiter hinauf, bis das Licht immer greller wurde und er schließlich durch eine Luke das Tor zum Himmel öffnen konnte.
Ein brausender Wind fegte ihm durch die Locken, als er den ersten Schritt auf eine der weißen fluffig Wolken trat, um Louis Platz zu machen. Diese wie Zuckerwatte aussehenden Himmelskörper waren ihm bereits in der realen Welt suspekt, wo er sie niemals auch nur mit einer einzigen Fingerspitze würde berühren können, da sie bloß aus Wasserdampf bestanden. Jetzt auf einer von ihr zu stehen, war... verrückt und außerdem hatten sie ihm bereits einen seiner größten Schreckmomente verpasst.
„Schnell Lou, sie zieht weiter!", rief er, als sich seine Wolke von der Luke entfernte und auffordernd streckte er seine Arme aus, bis Louis mit einem großen kräftigen Sprung neben ihm auf dem weichen Untergrund landete. „Das war lustig", kicherte der Wuschelkopf, dessen karamellfarbenes Haar ihm mit einem schrägen Pony das Gesicht einrahmten. Einzelne wilde Fransen ragten aus der sonst so glatten Frisur heraus und verliehen ihm so etwas Freches.
„Das war verdammt knapp", schnaubte Harry und ließ sich stöhnend auf der Wolke nieder. „Sei kein Spielverderber, Haz. Das Schlimmste was passieren könnte wäre, dass ich vom Himmel falle und aufwache." „Das fände ich schon ziemlich schlimm." Mit zu einem Schmollmund verzogenen Lippen, schloss er den kleineren Jungen in die Arme, nachdem dieser sich mit einem liebevollen Lächeln auf den eigenen Lippen, neben ihn gelegt hatte.
„Außerdem bist du schon einmal daneben gesprungen, wenn ich dich daran erinnern darf?" Grinsend zwickte Louis ihm in den Arm und zwinkerte ihm einmal zu. „Das habe ich doch nur getan, damit du ganz heldenhaft wie Khaleesi von Game of Thrones auf einem Drachen angeflogen kommst und mich rettest." „Damals wussten wir noch nicht, was passiert, wenn du dich im Traum verletzt, Lou."
Leise seufzte der Wuschelkopf, ehe er seine Wange gegen Harrys Brust drückte, die nächsten Worte bloß ein Nuscheln gegen den Stoff seines Pyjamas. „Ich weiß, ... aber wäre ich nicht ein so schlechter von-Wolke-zu-Wolke-Springer, wären wir uns vielleicht nie begegnet. Du warst mein Retter in der Not."
„Und dabei wollte ich bloß ein wenig durch die Lüfte fliegen und nicht um einen lebensmüden Träumer bangen, der mir aus den Wolken in den Schoß fällt." Missfallend brummte Louis, doch Harry strich ihm versöhnlich durch die Haare. Das Kraulen seiner Kopfhaut beruhigte ihn immer.
„Wie viel Zeit haben wir noch?", fragte er nach einer Weile. „Ich merke noch nichts und du?" „Ich auch nicht." Zufrieden stütze Louis sich auf dem größeren Körper seines Freundes ab, eine seiner Handflächen fand ihren Weg an seine Wange und streichelte dort sanft über die warme glatte Haut, bis er sich das letzte Stück nach unten beugte und ihre Lippen zu einem liebevollen Kuss miteinander verband. Wohlig seufzend ließen sie sich beide in den Kuss fallen, ihre gemeinsame Zeit ein kostbares Gut.
Louis wünschte sich dies wäre die Realität, doch leider war dem nicht so. Jeden Abend musste er hoffen und bangen, in einen ruhigen Schlaf zu finden, um die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Treffens mit Harry zu maximieren. Doch nie konnte er wissen, was auf der anderen Seite passierte, ob Harry zur gleichen Zeit schlafen ging wie er, ob er überhaupt zu Bett ging oder ob er sich die Nächte um die Ohren schlug.
Schlaflosigkeit, Albträume, mangelnder Tiefschlaf. All diese Faktoren spielten mit hinein, ob sie sich in der Traumwelt trafen oder nicht. Unzählige Nächte hatte Louis alleine in diesem weißen langen Flur verbracht, zu niedergeschlagen, um ohne Harry eine der Türen zu erkunden. Das waren die Nächte, an die er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnerte.
Er wusste nicht einmal, ob dieser Junge, zu dem er sich mit solch starken Gefühlen hingezogen fühle, sodass er morgens nach jeder ihrer gemeinsamen Nächte mit wild klopfendem Herzen aufwachte, überhaupt existierte. Vielleicht war Harry eine Erscheinung seiner Fantasie, entsprungen aus den Tiefen seines Unterbewusstseins und die Verwirklichung eines absoluten Traums von Mann.
Er hatte einfach alles an sich, was Louis' Herz höher schlagen ließ und das vom ersten Moment an, in dem sie sich begegnet waren. Auf dem Drachen.
Schokoladenbraune, dichte Locken, schwarze lange Wimpern, die ihm die strahlend grünen Augen einrahmten und Louis zum Träumen einluden - ja er konnte auch im Traum träumen - rote plumpe Lippen, die so herrlich nach Erdbeeren schmeckten und sich zu einem atemberaubenden Lächeln verziehen konnten, welches ihm zwei tiefe Grübchen in die Wangen grub.
Louis' Herz schmolz dahin. So ein Traum von Mensch konnte gar nicht wirklich existieren, oder? Solche Dinge passierten nur im Traum.
Leider konnte er den Lockenkopf all diese Dinge nicht fragen, denn scheinbar war dies ein ungeschriebenes Gesetz in der Traumwelt. Sie konnten sich nicht über ihr reales Leben unterhalten, zumindest über nichts, was über ein bisschen alltäglichen Smalltalk hinausging.
Louis hatte es versucht, Harry bereits unzählige Male nach seiner Herkunft und einem Treffen in der realen Welt gefragt, doch immer, wenn er die Worte in seinem Kopf sagte, blieben seine Lippen verschlossen. Er konnte sie nicht laut aussprechen.
„Sieh nur, ein Nashorn mit Engelsflügeln, das ein Erdbeertörtchen isst", rief Louis und deutete hinauf in den Himmel. Harry lachte. „Du hast zu viel Fantasie, Lou." „Wir leben gerade in unserer Fantasie." Ein Seufzen verließ seine Lippen, das Grinsen von seinem Gesicht fiel. Besorgt richtete Harry sich auf und zog den Wuschelkopf mit sich, bis Louis schließlich auf seinen Schoß saß und er die Arme um ihn legen konnte.
„Was ist los? Wo ist dein Lächeln hin?" „Ich wünschte bloß, diese Fantasie wäre die Realität." Plötzlich sprangen ihm die Tränen in die Augen und eine Welle an verschiedenen Emotionen überrollte ihn. „Weine nicht, mein Schatz." Harry strich ihm die glitzernden Tropfen von den Wangen, ehe er ihm jeweils rechts und links ein Küsschen unter die Augen hauchte. „Das wird sie. Das hier ist die Realität, Lou. Es fühlt sich bloß nicht so an."
„Aber du bist weg, wenn ich aufwache. Ich wünschte, du würdest auch dann noch neben mir liegen. Meine Tage sind furchtbar, Harry, die Nächte sind das, worauf ich mich freue, was mich durchhalten lässt." Liebevoll strichen die Finger des Lockenkopfs über seine Haut, seine Lippen trafen diesmal seine Nasenspitze, die Louis unweigerlich kichernd kräuselte.
„Es ist gleich so weit, Lou. Deine Lider flackern bereits." Ein schweres Gefühl riss sein Herz in die Tiefe. Fest kniff er die Augen zusammen, obwohl er wusste, wie zwecklos es war. Er würde sein Aufwachen nicht verhindern können, egal wie sehr er sich anstrengte.
„Ich mag den Sommer nicht", seufzte er. Denn Sommer bedeutete, dass die Nächte kürzer waren und es länger hell blieb. Und wenn es länger hell blieb, schlief Louis schlechter und wachte früher auf. Und das, obwohl er alles versucht hatte. Schlafmasken und dunkle Jalousien, selbst den Kopf hatte er schon unter die Decke oder das Kopfkissen gesteckt, doch zwecklos. „Es wird auch wieder Winter."
Louis' Welt um ihn herum begann zu verschwimmen, die weißen Wolken lösten sich Stück für Stück auf, verpufften zu Staub und hinterließen nichts als blauen Himmel. Seine Finger, die sich halt suchend an dem Lockenkopf festklammerten, hielten diesen noch ein Stück dichter und traurig presste er ihre Lippen zu einem letzten Abschiedskuss aufeinander.
Und dann begann der Lockenkopf eine Melodie zu summen, die er immer summte, wenn sich ihre Wege am Ende eines gemeinsamen Traums trennten. „Schlaf endlich ein, wir treffen uns im Traum und zwar gleich." „Gleich", wiederholte Louis die Worte, ehe sein Körper zu schweben begann. Der bunte Strudel ließ ihn im Kreis drehend durch die Lüfte wirbeln, sog ihn hinaus aus seiner schönen Traumwelt und schubste ihn zurück in die harte Realität.
Keine zehn Sekunden später öffnete er die Augen und lag in seinem Kinderzimmer, wo ihm die tristen hellgrauen Wände entgegenblickten. Seufzend zog er sich die Bettdecke über den Kopf, schloss die Augen und versuchte sich zurück auf ihre Wolke zu beamen, doch schwermütig musste er sich geschlagen geben.
Jetzt hieß es den bitteren Alltag ertragen, die nächste Schicht im Supermarkt über sich ergehen lassen und die Sprüchen seines Stiefvaters abzublocken. Auf dem einen Ohr rein und auf dem anderen wieder raus, das war meist die effektivste Methode. Auch wenn ihn seine Worte insgeheim verletzten.
☁️
„Ja Mum, ich hole Lottie morgen vom Bahnhof ab. Hab ich doch schon gesagt. Gute Nacht." Seufzend schloss Louis seine Zimmertür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die anstrengende Schicht hing ihm noch in den Knochen, seine Arme schmerzten vom Paletten stapeln und Regale auffüllen und dann hatte ihm seine Mutter an seinem einzigen freien Tag der Woche aufgebrummt, seine jüngere Schwester vom Bahnhof abzuholen, wenn sie von ihrer Klassenfahrt zurückkam.
Jetzt freute er sich jedoch erst einmal darauf, schnellstmöglich in den Schlaf zu fallen und sich in einer seiner magischen Traumwelten wiederzufinden, die ihm ein gewisser braunhaariger Lockenkopf mit hinreißenden Grübchenwangen versüßte.
Mit aufgeregt schnell klopfendem Herzen zog er sich seinen Pyjama an, die dunklen Jalousien bedeckten bereits die zwei großen Fenster in seinem Zimmer und verhinderten den Großteil des durchdringenden Mondlichtes von draußen. Zur Sicherheit zog er trotzdem zusätzlich die dünnen Gardinen davor, auch wenn sie nicht viel Helligkeit abhalten würden.
Mit einem wohligen Seufzen kuschelte er sich tiefer in die dünne Decke, die ihm die nötige Wärme in dieser lauen Augustnacht spenden würde und fast augenblicklich bildete sich ein vorfreudiges Lächeln auf seinen Lippen. Er konnte Harrys Gesicht bereits vor seinem inneren Auge sehen und gleich würde er ihn auch wieder in den Armen halten können.
Die Dunkelheit umhüllte ihn, Louis merkte wie die Welt um ihn herum an Bedeutung verlor und ihn der mittlerweile altbekannte Strudel in den langen weißen Flur seiner Traumwelt beförderte. Er war so etwas wie ein zentraler Ort, ein Startpunkt. Ein Raum, in dem er sich mit Harry traf und wo sie aufeinander warteten. Manchmal war Harry schon vor ihm da und manchmal, so wie heute Nacht, war Louis der Erste.
Doch lange musste er nicht warten, dann war Harry da und gemeinsam stolperten sie durch die nächstbeste Tür, nichtsahnend, was sich hinter ihr verbarg.
Sie fanden sich in einer Bibliothek wieder. Meterlange Regale reihten sich zu langen Gängen aneinander, so hoch, dass sie ihr Ende nicht erkannten. Der Duft von alter Druckerschwärze und Staub lag in der Luft, entlockte Harry ein Niesen und Louis ein Kichern.
„Komm H, wir haben so viel vor", lachte Louis und zog den Lockenkopf an der Hand an den ersten Regalreihen vorbei. Romane, Krimis, Thriller, Sachbücher und schließlich „Märchen", lächelte der Kleinere und schnappte sich mit gezieltem Handgriff eins der Bücher wahllos aus dem Regal.
Er pustete den Staub von dem Buchdeckel, kleine graue Partikel tanzten durch die Luft und entlockten dem Lockenkopf ein weiteres Niesen. „Hausstauballergie", murmelte dieser und rieb sich die kribbelnde Nase, während Louis eine beliebige Seite aufschlug. Und ehe sie sich versahen, befanden sie sich bereits mitten in einer kleinen Holzhütte im Wald, eingepfercht auf engstem Raum und zu weit in eine muffige Standuhr gequetscht.
„Was soll das denn?!", beschwerte sich Louis, der kaum Platz zum Atmen hatte, da ihm Harrys rechter Arm gegen die Bauchdecke drückte. „Love, das-" „Shh", brachte Harry ihn mit seiner Hand zum Schweigen, die sich nun auf seinen Mund presste. „Hast du das gehört? Das Heulen?", flüsterte er und erkannte, wie Louis' Augen in dem schwachen Licht ganz großen wurden. „Der Wolf und die sieben Geißlein."
Behutsam nahm Louis Harrys Hand von seinem Mund. „Aber wenn wir jetzt hier in der Wanduhr hocken, dann-" „nehmen wir dem siebten Geißlein sein Versteck weg", beendete Harry seinen Satz, dem scheinbar in diesem Moment derselbe panische Gedanke kam. „Wir müssen hier raus. Nicht nur aus der Uhr, auch aus der Geschichte."
Vorsichtig lugte Harry aus dem Uhrkasten, musste sich dabei jedoch so weit zu Louis herüberbeugen, dass dieser gegen das schwere Pendel stieß und einen lauten Gong auslöste. Kurz darauf war es mucksmäuschenstill, doch lange hielt diese Ruhe nicht an. Denn ihr Missgeschick hatte nicht nur die Aufmerksamkeit des kleinen Geißleins auf sie gelenkt, welches zuvor mitten im Raum stehend, panisch nach einem Versteck gesucht hatte, sondern scheinbar auch die des Wolfes, welcher nun mit aller Kraft versuchte, die Tür von außen aufzustemmen.
„Hey Kleines, komm schnell her! Hier in dem Uhrkasten bist du sicher, da findet dich der Wolf nicht", rief Louis es herbei und gerade als die Klappe der Uhr hinter dem Geißlein zufiel und die Tür der Hütte kurz darauf mit einem lauten Grollen des Wolfes aufgedrückt wurde, griff Louis nach Harrys Hand, schloss die Augen und brachte sie mithilfe seiner Gedankenkraft zurück in die Bibliothek. Das war knapp.
Sie schlüpften noch in viele weitere Kindergeschichten, diesmal jedoch mit Obacht, dass keine Gefahr bestand. So reisten sie mit Nils Holgersson und Krümel auf Wildgänsen Richtung Süden, schwammen mit Arielle, Sebastian und Dario durch die Tiefen des Meeres und brauten mit der Kleinen Hexe einen Zaubertrank, der ihnen die Haare grün färbte. Ganz zu Louis' Leidwesen, denn der Lockenkopf mit grüner Haarpracht war doch tatsächlich eine absolute Augenweide, die sein Herz zum schneller schlagen animierte.
Kichernd landeten sie zurück in den weiten Gängen der Bibliothek, der Geschmack des Zaubertrankes noch auf der Zunge und einzelne grüne Strähnen in ihren Haaren. „Du solltest wirklich darüber nachdenken, dir die Haare grün zu färben. Wenn es einer tragen kann, dann sicherlich du", kicherte der Wuschelkopf, drückte seinem Freund einen freudigen Kuss auf die Lippen und wollte schon nach dem nächsten Buch greifen, als die Welt um sie herum zu flackern begann.
„Es ist schon wieder so weit", seufzte Harry und griff nach Louis' Hand, um sie bekräftigend zu drücken, da er genau wusste, wie sehr der Kleinere das Gefühl des Aufwachens verabscheute. „Ich will dich noch nicht gehen lassen", jammerte Louis und drückte sein Gesicht gegen Harrys Brust, die Arme schlangen sich fest um dessen Rumpf, pressten ihre Körper dicht gegeneinander. „Es hat so Spaß gemacht, heute Nacht."
„Der nächste Traum wird kommen, mein Schatz." Und damit begann Harry die vertraute Melodie des Schlafliedes zu singen, welche er immer summte, während sich die Traumwelt um sie herum auflöste. Keine fünf Minuten später fand Louis sich, von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen, in seinem Bett wieder. Alleine, ohne Harry, jedoch mit einer altbekannten Melodie im Ohr.
☁️
Die Straßen waren leer, als Louis viel zu früh für einen Sonntagmorgen in Richtung des Bahnhofs Kings Cross durch London kurvte. Welche Schule kam auch auf die Idee, eine Klassenfahrt an einem Wochenende zu beenden, wo doch genau das die Zeit für Berufstätige war, um sich von einer stressigen, nervenzehrenden Woche zu erholen.
Immerhin fuhr der Zug aus Frankreich pünktlich auf Gleis 7 ein und seine kleine Schwester Lottie stürmte zeitnah im Strom ihrer Klasse aus einem der Abteile. „Hey Lotts, wie war's in Paris?", fragte Louis, als das blonde Mädchen geradewegs auf ihn zukam. Er zog sie zur Begrüßung in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel, ehe er ihr den Koffer abnahm, da sie mit ihrem Rucksack bereits genug zu tragen hatte.
„Joe ist ein Arsch und Mel und Sandy aus der Parallelklasse sind doofe Zicken. Lass uns nicht darüber sprechen", nuschelte sie. Sie blickte niedergeschlagen drein, ehe ihr Blick kurz über ihre Schulter glitt, wo ein hochgewachsener Junge in einer Traube an Jungs und Mädchen stand. „Können wir bitte gehen?" „Natürlich, Love, na komm." Mit einem Arm um ihre Schultern führte er sie von dem Rest ihrer Klasse weg.
Innerlich seufzte er, da er genau nachempfinden konnte, was es für ein schreckliches Gefühl war, sich auf einer Klassenfahrt fehl am Platz zu fühlen. Es gab fast nichts Schlimmeres, als nach Hause zu wollen, doch nicht zu können und den Rest der Fahrt leidig auszuharren.
„Zuhause mache ich uns erstmal einen leckeren grünen Tee", begann er sie aufmuntern zu wollen, während sie Richtung Parkplatz liefen. Sein Blick glitt über die wenigen Menschen, die den gleichen Weg wie sie hatten oder gehetzt zu einem der Züge eilten, die in den nächsten Minuten abfuhren. All dieser Stress an einem Sonntag.
„Wir kuscheln uns in dein Bett, gucken einen deiner Lieblingsfilme und dann-" Und dann sah er ihn.
Zwar nur in der Ferne und von der Seite, doch die große Statur, die Tattoos und die schokobraune Lockenpracht waren unverkennbar. Schockiert blieb er stehen, starrte dem Mann hinterher, der auf eine Tram zujoggte, die ihn in die Londoner Innenstadt bringen würde.
Louis' Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, dann war der Lockenkopf weg und es zog sich schmerzhaft zusammen . „Harry", hauchte er ungläubig und starrte der grünen Tram hinterher, die nun in entgegengesetzte Richtung davonfuhr.
„Und dann?", fragte Lottie neugierig, da ihr Bruder seinen Satz nicht beendet hatte und setzte sich wieder in Bewegung, riss Louis somit mit sich, welcher seinen Kopf immer noch verrenkte, obwohl es hinter ihm gar nichts mehr zu sehen gab. „Und dann, ehm... d-dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus."
Und wie anders die Welt plötzlich aussah.
Es gab ihn wirklich. Er existierte, nicht nur in seinen Träumen. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, hier in der echten realen Welt und dann auch noch in der gleichen Stadt wie er. Er war es doch gewesen, oder? Plötzlich kamen die Zweifel zurück, stellten Harrys Existenz und Louis' Sehkraft infrage. Vielleicht tagträumte er bereits, weil er sich die Anwesenheit seines geliebten Lockenkopfs so sehr ersehnte.
Kopfschüttelnd riss er sich aus seinen Gedanken, drückte liebevoll Lotties Schulter und fuhr dann mit ihr nach Hause.
☁️
Louis war nervös. Das erste Mal, seitdem Harry in seinen Träumen aufgetaucht war, war er nervös schlafen zu gehen.
Unruhig wälzte er sich in seinem Bett umher, entknotete seine Beine aus der geknuddelten Bettdecke, breitete sie glatt über sich aus, nur um sie kurz darauf wieder zu zerknüllen. Viel zu viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Fragen, die er dem Lockenkopf nicht würde stellen können, da sie in ihren Träumen nicht über die reale Welt sprechen konnten, doch Fragen, die ihm auf der Zunge brannten und schwer im Magen ruhten.
Irgendwie müsste er es schaffen, Harry danach zu fragen. Ihn fragen, ob er am Morgen am Kings Cross gewesen war und ob er ein burgunderrot-weiß gestreiftes Hemd besaß, welches seine eh schon große Statur noch länger erscheinen ließ.
Schließlich schlief er nach einer Weile doch ein. Der Strudel wirbelte ihn in den weißen langen Flur mit den unzählig vielen Türen. Harry war noch nicht da. Eigentlich hatte Louis geglaubt, er wäre diesmal der spätere von ihnen beiden, da er so lange zum Einschlafen gebraucht hatte, doch scheinbar fiel es dem Lockenkopf heute auch nicht leicht.
Ungeduldig tigerte Louis durch den ellenlangen Gang, vor und zurück, hin und her, doch die Öffnung zu dem Tunnel, durch welchen Harry in seine Traumwelt gelang, tauchte nicht auf.
Louis wusste nicht, wie lange er schon in diesem weißen endlosen Flur umherirrte, ohne auch nur eine der Türen zu öffnen, doch als die Wände um ihn herum zu flimmern begannen, schossen ihm augenblicklich die Tränen in die Augen.
Eine lange Zeit war es her, dass er einen seiner Träume hatte alleine träumen müssen. Dass der Lockenkopf nun nicht hier gewesen war, zerbrach ihm das Herz. Einzelne Tränen liefen ihm die Wangen hinab, hinterließen nasse Spuren auf seinem Gesicht, die auch noch da waren, als er kurze Zeit später in seinem Zimmer aufwachte.
Die nächsten Tage waren furchtbar.
Vollkommen übermüdet kämpfte er sich durch seinen Arbeitsalltag, kassierte mehr als nur einmal eine Standpauke seines Chefs, da ihm beim Einräumen der Regale etwas zu Bruch gegangen war oder er zu langsam arbeitete. Er war unkonzentriert.
Tagsüber war er hundemüde und nachts schlief er unruhig, fand sich jedes Mal aufs Neue alleine in dem weißen langen Flur wieder, welcher sich langsam aber sicher zu Louis' persönlichem Albtraum entwickelte.
Wo steckte Harry? Warum erschien er nicht mehr in seinen Träumen? War Harry doch nur eine Einbildung seiner Selbst, eine Wunschvorstellung, eine fiktive Person aus dem Ursprung seiner Fantasie? Vielleicht wurde Louis langsam irre, paranoid.
„Ich wurde gekündigt, Harry. Das ist alles DEINE VERDAMMTE SCHULD!", brüllte er eines Nachts, als er wieder einmal alleine, zusammengekauert zu seiner kleinsten Form, in dem leeren weißen Flur verbrachte. Seine Worte hallten mit einer unglaublichen Intensität an den Wänden wieder, echoten durch den Gang, so laut, dass Louis sich selber die Ohren zuhalten musste.
„Deinetwegen sind nicht mehr nur die Tage furchtbar, sondern auch die Nächte", führte er sein Selbstgespräch weiter, hineingekauert in eine der vielen Ecken. So klein und so alleine.
„Ich möchte das alles nicht mehr, ich kann nicht mehr. ICH KANN NICHT MEHR, HARRY, hörst du das?" Ein leises Winseln entwischte seinen bebenden Lippen und fest presste er die Augen zusammen, was die Tränen jedoch nicht am Überlaufen hindern konnte.
Beschützend schlang er die Arme um seine angewinkelten Knie, zog sie dicht an seinen Körper. Der Urinstinkt eines Embryos, um sich in Sicherheit zu wiegen.
„Louis." Sein Schluchzen hallte so laut in seinen Ohren wider, dass er die Stimme anfangs gar nicht wahrnahm, die seinen Namen rief, doch nach dem dritten „Louis" horchte er auf. „H-Harry?", wisperte er und wischte sich schnell mit beiden Händen die Tränen von den nassen Wangen, ehe er sich suchend nach dem Lockenkopf umsah. Doch noch immer war nichts von ihm zu sehen.
„Louis." „Harry, wo bist du?" Verzweifelt stand er auf, so schnell, dass seine zittrigen Beine ins Wanken gerieten, doch trotzdem eilte er den langen Flur entlang, riss jede der weißen Türen auf und lugte hindurch, doch nirgends war eine Spur des Ursprung der Stimme auszumachen.
Dann plötzlich erschien ein heller goldener Schimmer um eine der Türen, ganz weit hinten im Gang und Louis glaubte noch nie so schnell gerannt zu sein. Doch noch während er rannte, begannen die Wände zu flimmern, erschwerten ihm die Sicht und versetzten den Wuschelkopf in einen Wettlauf mit der Zeit.
„Nein, nein, nein, nein", nuschelte er und versuchte noch einmal einen Zahn zuzulegen, doch es war gar nicht so einfach im Traum zu rennen. Er konnte die Beine noch so schnell bewegen, am Ende blieb er doch immer auf derselben Stelle stehen. Erneut flackerten die Wände auf, einige Türen verschwanden bereits im Nichts und auch die Decke des Flurs hatte sich in Luft aufgelöst.
Verdammt, wieso musste sein Körper ausgerechnet jetzt aufwachen. Er musste doch nicht einmal zur Arbeit, er hatte keinen Job mehr, war arbeitslos und konnte theoretisch so lange schlafen wie er wollte. „Jetzt lauf schon. HARRY!", brüllte er nach dem Lockenkopf, als auch die anderen Türen verschwanden, bis auf die, die im goldenen Licht glänzte.
Gefrustet blieb er stehen und raufte sich verzweifelt die Haare, da er nie an seinem Ziel ankommen würden. Wenn die Tür doch nur zu ihm kommen würde.
Louis schloss die Augen, stellte sich darauf ein, gleich in seinem Bett aufzuwachen, doch als er die Augen das nächste Mal blinzelnd öffnete, strahlte ihm das goldene Licht so grell entgegen, dass er sie beinahe wieder zukneifen musste. Schnell griff er nach der Türklinke und drückte sie hinunter, gerade, als ein weiterer Ruf nach seinem Namen durch die Lüfte hallte, in denen Louis und die Tür als einzige verbleibende Objekte in einem sonst schwarzen Nichts zurückblieben.
Gleich würde er aufwachen, es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.
Schnell drückte er die Tür auf, erhaschte einen Blick auf die Landschaft, die sich dahinter verbarg, schenkte ihr jedoch keine große Beachtung, da sie für eine Location seiner Traumwelt viel zu gewöhnlich wirkte. Ein grüner Park mit einigen Bäumen und einem Kiesweg, der zu irgendeinem Brunnen führte, aus dem Wasser heraussprudelte.
Irgendetwas daran kam ihm bekannt vor, doch er war viel zu beschäftigt damit, nach seinem gelockten Freund Ausschau zu halten, als sich darüber Gedanken zu machen. Doch auch hinter dieser hoffnungsvollen Tür verbarg sich kein Harry und dann war es zu spät, der Park verschwamm, die Tür löste sich in Luft auf und Louis wachte auf.
„Lou, endlich! Ich versuche schon eine ganze Weile dich aufzuwecken, aber du wolltest einfach nicht wach werden", erklang eine Stimme neben seinem Bett und erschrocken blickte Louis zu ihrem Ursprung, doch es war nur Lottie, die auf dem Boden kniete und ihn besorgt musterte.
„Scheiße Lottie, warum hast du mich geweckt?", meckerte er seine Schwester an, frustriert schlug er die Bettdecke zurück. „Du hast ganz unruhig geschlafen und geweint", erklärte sie und richtete sich nun auf, um sich auf seine Bettkante zu setzen. „Und du hast nach einem Harry geschrien... wer ist Harry?"
Das war eine sehr gute Frage. Wer war Harry überhaupt?
Er musterte seine jüngere Schwester einen Augenblick, sah ihren besorgten Gesichtsausdruck, die Fürsorge, die ihre Augen ausstrahlten und das liebevolle Lächeln, welches ihr Lippen umspielte. Sie machte sich wirklich Sorgen um ihn und Louis beschloss, ihr die Wahrheit zu erzählen. Ob sie sie glaubte oder nicht. Vielleicht würde sie ihn danach auch in die Psychiatrie einweisen lassen.
„Harry ist ein Junge, der seit einigen Monaten in meinen Träumen auftaucht. Wir erleben so tolle Abenteuer miteinander und ich- ich habe mich in ihn verliebt, Lotts. Das klingt jetzt vielleicht verrückt, weil er vielleicht bloß eine Erscheinung meiner Träume ist, aber ich könnte schwören, dass ich ihn letzte Woche am Bahnhof gesehen habe, als ich dich abgeholt habe. Seitdem erscheint er mir Nachts nicht mehr, aber eben- eben habe ich seine Stimme gehört und sie hat mich zu dieser Tür geführt, doch dahinter war bloß ein gewöhnlicher Park und Harry nirgends zu sehen. Ich vermisse ihn..."
Sicherlich würde ihn seine Schwester nun für verrückt erklären, doch womit er am allerwenigsten rechnete war, dass sie ihn in den Arm nahm. „Ich glaube dir, Lou. Britts Eltern sind sich auch im Traum das erste Mal begegnet, sie nannten sich soetwas wie Traumwandler, glaube ich. Frag mich nicht wie das funktioniert und was das für eine Seelenverwandtschafts-Scheiße ist, aber das ist verdammt niedlich und ich bin ein bisschen neidisch", seufzte sie verträumt und strich ihm über den Rücken.
Dann wechselte ihr Gesichtsausdruck jedoch zu entschlossen und mit festem Blick fixierte sie seine Augen, packte ihn bekräftigend an den Schultern. „Also lass uns deinen Harry finden. Kings Cross sagtest du. Was gibt es denn dort für Parks in der Nähe, die infrage kämen? Camley Street Natural Park, St. Pancras Gardens oder etwas weiter weg, den Regent's Park, Hyde Park und-"
„Der Regent's Park. Natürlich, Lottie, der Regent's Park! Der Brunnen mit diesen drei übereinander gestapelten Kelchen, den hab ich gesehen! Jetzt ergibt alles Sinn." Schwungvoll schwang er die Beine aus der Decke, schubste seine Schwester dabei beinahe von der Bettkante, welche jedoch schnell aufsprang, um ihrem euphorischen Bruder Platz zu machen.
Dieser zog sich nun in Windeseile Jeans und T-Shirt über und schlüpfte in ein Paar ausgetretene Vans, ehe er noch einmal zu Lottie eilte und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. „Danke, Schwesterherz, du bist die Beste. Wünsch mir Glück." „Glück!", grinste sie breit und streckte ihm ihre gedrückten Daumen entgegen. Louis lachte, eilte aus seinem Zimmer und ignorierte sogar die Rufe seines Stiefvaters, der sich über diesen Lärm am frühen Morgen beschwerte und Louis als einen faulen Arbeitslosen beschimpfte.
Doch all das konnte ihm in diesem Moment nicht egaler sein, in dem er sich hinter das Lenkrad seines alten silbernen VW Polos schwang, den er sich von seinem Lohn, die Jahre über, mühsam zusammengespart hatte.
Die gesamte Fahrt über geisterten ihm Lotties Worte durch den Kopf, dass die Eltern ihrer besten Freundin sich ebenfalls in ihren Träumen begegnet waren und später im echten Leben zueinander gefunden hatten. Traumwandler.
Vielleicht hatte jeder im Laufe seines Lebens diese eine Person, mit der er auf schicksalhafte Weise zusammengeführt wurde und die für einen bestimmt war. Und manchmal eben traf man sie im echten Leben und manchmal leider nicht. Louis hoffte auf ersteres.
Sein Herz drohte ihm bereits jetzt, alleine bei dem Gedanken an den Lockenkopf, aus der Brust zu springen. Seine Beine zitterten wie Wackelpudding, sein Puls pumpte in einer ungesunden Geschwindigkeit das Blut durch seine Adern und sein Magen meldete sich auch schon zu Wort, da er alles andere als Gefallen an diesem nervösen Nervenbündel in seinem Inneren fand.
Doch trotzdem hastete Louis schnellen Schritte durch den Park, der an diesem frühen Morgen mitten in der Woche noch recht leer war. Bloß einzelne Hundebesitzer waren unterwegs, die ihre Tiere frei über die Wiese toben ließen. Der staubige Boden knirschte unter seinen Vans und als der große Brunnen in sein Sichtfeld trat, schlug sein Herz einen doppelten Salto.
Tatsächlich erstreckte sich nun genau jenes Bild vor seinen Augen, welches er hinter der golden schimmernden Tür gesehen hatte. Er umrundete den Brunnen einmal, doch er war alleine.
„Harry?", flüsterte er mit leiser Stimme in die Stille, die einzig und alleine von dem Rauschen des Windes und der zwitschernden Vögel untermalt wurde. „Louis." Eine Hand legte sich auf seine Schulter und plötzlich stand der Lockenkopf direkt hinter ihm.
Ein Mensch aus Fleisch und Blut, anderthalb Köpfe größer als er, mit braunen Locken, moosgrünen Augen, neckischen Grübchen und einem warmen Lächeln auf den plumpen Lippen. Die exakte menschliche Kopie seines Traum-Harrys.
„Harry, du- ich... träume ich?" Der Lockenkopf vor ihm lachte und es war das schönste Geräusch, welches Louis je gehört hatte. Sachte zwickte er ihm einmal in den Oberarm.
„Au", formten Louis' Lippen fast tonlos und er rieb sich besagte Stelle, bevor seine Augen zu der Größe von zwei Untertassen anwuchsen, als er begriff. Schwungvoll fiel er ihm um den Hals.
„Du bist echt. Du bist hier. Du bist echt, Harry. Ich kann dich fühlen und riechen und... und", er löste sich leicht aus der Umarmung und blickte dem Lockenkopf in die funkelnden Augen, die ihn liebevoll musterten. Langsam verringerte er die Distanz zwischen ihnen und fing Harrys Lippen sanft mit seinen eigenen ein. „Und ich kann dich schmecken."
Sie tauschten noch eine ganze Weile Liebkosungen miteinander aus, ohne viele Worte zu verlieren, doch irgendwann interessierte es Louis dann doch, wie Harry ihn gefunden hatte. „Wo warst du die ganze letzte Woche? Du warst nicht mehr in meinen Träumen." „Ich war da", antwortete Harry und strich dem Kleineren über die Wange, als dieser verwirrt die Stirn runzelte. „Ich habe dich in dem leeren Flur umherirren sehen, doch scheinbar war ich nicht sichtbar für dich."
„Ich habe dich letzte Woche am Bahnhof gesehen." „Wirklich?" Harry zog Louis mit zu dem Brunnen und ließ sich dort auf dem gewärmten Rand der Steinmauer nieder. „Das erklärt es natürlich." „Ich verstehe nicht recht", offenbarte Louis seine Verwirrung, da der Lockenkopf in Rätseln sprach, die für ihn einfach keinen Sinn ergaben.
„Ich habe mich damals an meine Mutter gewendet, direkt als du die zweite Nacht hintereinander in meinen Träumen aufgetaucht warst. Ich wusste von ihr, dass sie ebenfalls eine Traumwandlerin ist, die ihren Seelenverwandten, meinen Stiefvater, im Traum kennengelernt hat. Es kam mir komisch vor, dass ich von einer Person träume, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, wo man doch eigentlich nur von Menschen träumen kann, dessen Bild man bereits im Kopf hat."
Das war auch der Punkt gewesen, der Louis damals verwirrt hatte, doch irgendwann hatte er ihn nicht mehr hinterfragt. „Sobald sich diese Personen im echten Leben treffen, erscheinen sie einem nicht mehr Traum. Da du mich am Bahnhof gesehen hast und ich dich nicht, konnte ich dich im Traum noch sehen, du mich aber nicht."
„Traumwandler", ließ Louis das neu gelernte Wort über seine Zunge rollen und lächelte leicht. „Es gibt nicht allzu viele von ihnen, doch du und ich gehören scheinbar dazu. Es ist vererbbar." Er nickte, darüber würde er sich später Gedanken machen, jetzt zerbrachen ihm allerdings andere Dinge den Kopf.
„Aber ich habe dich gehört. Heute Nacht." Der Lockenkopf griff nach seiner Hand und umschloss sie mit beiden Händen, ehe er Louis' sanft drückte. „Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, mich kenntlich zu machen. Und da du mich nicht sehen konntest und wir vorher nicht über unsere Herkunft oder unser reales Leben sprechen konnten, wollte ich dir zumindest einen Ort zeigen, an dem ich auf dich warte und hoffen, dass du es verstehst. Es war nicht ich, der nach dir gerufen hat, das war die Tür."
Louis glaubte schon Kopfschmerzen zu bekommen, von den vielen Gedanken, die ihm den Kopf zermalmten, doch Harrys Worte brachten Stück für Stück Licht ins Dunkle. „Wieso ging das nicht schon vorher? Wir hätten uns viel früher schon treffen können. Ich wusste nicht einmal, ob du wirklich existierst."
Niedergeschlagen senkte er den Kopf. Der Gedanke Harry nie wiederzusehen, war noch immer tief in seinem Kopf verankert, auch wenn er jetzt leibhaftig neben ihm saß. An diesen Gedanken würde er sich erst noch gewöhnen müssen, doch eigentlich könnte er nicht glücklicher sein, wo doch der Lockenkopf mit das Beste in seinem Leben war.
„Du bist wirklich echt", flüsterte er deshalb noch einmal und zwirbelte eine von Harrys Locken um seinen Finger, zog leicht daran, bis dieser das Gesicht verzog. Dann lachte Harry. „Ich bin wirklich echt. Und du bist auch echt."
„Ich habe dich vermisst, weißt du das?" Der Lockenkopf brummte zustimmend. Eine seiner Hände löste sich von Louis', fuhr dessen Arm hinauf und legte sich schließlich um seine Taille, um ihn noch ein Stück dichter gegen sich zu ziehen. „Ich dich auch, Lou." Sie tauschten einen liebevollen Kuss miteinander, der alles in Louis zum Kribbeln brachte und ihm noch einmal mehr bewusst machte, dass das hier nun seine Realität war.
„Heißt das eigentlich, dass wir uns jetzt nie wieder Nachts im Traum begegnen werden?", fragte er traurig nach, da sie sich ja nun beide im wahren Leben gesehen hatten. Seine Lippen zogen sich zu einer Schnute, die Harry kichernd wegküsste. „Solange ich dafür jeden Tag mit dir verbringen kann, kann ich gut damit leben."
Und ja, damit würde auch Louis gut leben können. Denn was nützte ihm eine hirngespinstige Fantasie, wenn stattdessen ein wahr gewordener Traum darauf wartete, von ihm gelebt zu werden.
---
Song: Schlaflied - Fynn Kliemann
Wörter: 6.292
Info: Die Idee zu dem One Shot geistert mir bereits seit einer langen Weile durch den Kopf, noch weit bevor das ganze Drama um Fynn Kliemann öffentlich würde. Seht da also bitte drüber hinweg. Ich persönlich finde, einen Künstler und seine Musik sollte man im gewissen Maße auch voneinander trennen können.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro