Teddy- zweiter Teil
And here we go again, we know the start, we know the end
Masters of the scene
We've done it all before and now we're back to get some more
You know what I mean
Voulez vous...
Sie tanzte ausgelassen. Sang den Text mit, ohne zu wissen, was es bedeutete, obwohl sie genauso gut englisch wie deutsch sprach, weil ich es ihr von klein auf beigebracht hatte. Aber dieses schwedisch- englisch war für sie schwerer zu verstehen, außerdem konnte sie mit acht solche Dinge einfach noch durchschauen und blinzelte mir ganz unschuldig zu.
Voulez vous?
Und dann wurde die Tür aufgerissen und Polizisten stürmten herein, alle in siebziger- Jahre- Outfit und fluffigen Kotletten. Sie sangen:
Gimme, gimme, gimme a man after midnight!
und tanzten mit meiner Enkeltochter herum. Mein Kopf platzte, weil die Musik so laut war, und dann zog Birgit an meinem Ärmel. Nicht mit der Hand, sie hatte sich in dem Stoff festgebissen, wie ein Hund, und knurrte. Die Polizisten waren fort.
„Does your mother know that you're out?" fragte ich meine Enkelin.
Sie zerrte immer noch, fiepte, und endlich wachte ich auf.
Nicht einfach so. Ich fuhr hoch, schnappte hektisch nach Luft, als wäre ich aus dem Wasser aufgetaucht, dabei lag ich auf der Couch und Bobby zog sich jaulend zurück. Ich starrte ihn an, er legte den Kopf schief und guckte erwartungsvoll. Ich griff in mein Gesicht. Spürte meinen Bart. Meine Hände waren faltenfrei. Mein Rücken war nicht krumm, meine Gliedmaßen nicht schwer. Ich war immer noch siebenunddreißig, immer noch Thomas William Hiddleston. Kein pädophiler Opa. Doch ich konnte den Schmerz noch fühlen, den mir die anderen Häftlinge gerade zugefügt hatten! Ich rannte ins Bad, untersuchte meinen Körper, doch alles war so, wie vor dreißig Jahren. Was? Es war doch...2018. Nichts um mich herum war Achtziger! Mir wurde schwindelig, ich hielt mich am Waschbecken fest. So etwas hatte ich noch nie erlebt, hatte Albträume gehabt, ja, aber das...ich roch das Gefängnis, den Schweiß des Kerles, der meinen Penis in Scheiben geschnitten hatte. Ich guckte panisch in meine Hose, er war noch dran, doch spürte ich den Schmerz, die Ohnmacht, und den Tod. Ich war gestorben, und hier wieder aufgewacht. Aber wenn ich eine Reinkarnation von Thomas Helwig war, dann hätte er zwei Jahre früher sterben müssen! Mein Todesdatum war der 21. Mai 1983. Nein, das war absurd. Genauso wie...sie es gewesen war. Ich musste handeln, musste unter Menschen. Also rief ich Mum an, fragte sie, wann wir zuletzt gesprochen hatten.
„Na, gestern!" lachte sie. „Hast du gefeiert?"
„Sowas Ähnliches." murmelte ich. „Und...war ich gestern...schräg drauf oder so?"
Bobby fiepte. Er wollte raus und ich flüsterte:
„Gleich."
Mum antwortete:
„Nein. Schatz, was ist? Möchtest du reden?"
„Ich...muss mich erstmal sortieren. Muss mit Bobby gehen. Ich rufe dich später nochmal an, ja?"
Sie war nicht begeistert, legte aber auf. Ich leinte Bobby an. Wenn er mir nur sagen könnte, was in den letzten Stunden passiert war! Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, wann ich mich auf die Couch gelegt hatte, und warum überhaupt. Es war heller Tag, ich hatte doch bestimmt etwas anderes zu tun gehabt? Draußen kam mir ein Pärchen entgegen, die Frau hatte einen Herzluftballon in der Hand und sie schauten sich verliebt in die Augen. Und dann wußte ich wieder, warum ich auf der Couch gelegen hatte. Weil Weinen im Stehen nicht so gut funktionierte! Heute war der 14. Februar, und ich war alleine. Ich hatte geweint, und dann...war sie bei mir gewesen, in dem anderen Leben. Erst Maria, aber sie wirkte nur noch wie ein blasser Schatten, während das Mädchen, mein Mädchen, meinen Geist erstrahlen ließ. Ich schmeckte sie, roch sie, hörte ihre süße Stimme: „Ich liebe dich!" flüstern. Wieder liefen die Tränen und mein Hund fast auf die Straße, im letzten Moment rief ich ihn und Bobby setzte sich brav hin. Unter Tränen erklärte ich ihm wiederholt, dass er am Straßenrand warten sollte. Bobby schaute mich verständnislos an. Mann, so traurig ist das nun auch wieder nicht, schien er zu denken und ich lächelte. Die Ampel sprang um und wir gingen los. Wieder ein Pärchen, ein altes, wie ich und Maria. Die es nie gegeben hatte! Vielleicht hatte ich irgendein Buch gelesen, dass ich im Traum verarbeitet hatte. Ich konnte mich nicht erinnern. Doch nein, weder hatte ich etwas über den zweiten Weltkrieg, noch über Deutschland gelesen. Jedenfalls nicht in den letzten Wochen, das wußte ich genau. Auch hatte ich mich nicht mit Pädophilen beschäftigt. Geschweige denn, dass ich selbst solche Neigungen hatte! Auch jetzt fühlte ich nichts, wenn junge Mädchen an mir vorbei liefen, meistens beachteten sie sowieso nur Bobby. Doch ich spürte die Sehnsucht nach Birgit, immer noch.
Und dann, mitten auf der Straße, hatte ich die Erleuchtung. Ich musste heraus finden, ob es eine Birgit Naß gab. Vielleicht hatte Anne auch wieder ihren Mädchennamen Helwig angenommen. Oder Birgit war verheiratet...Aber eigentlich konnte sie doch nicht existieren, denn in der anderen Welt hatte es Tom Hiddleston auch nie gegeben. Obwohl...der war ja gerade erst geboren gewesen, Hallo? Natürlich hatte ich ihn nicht finden können, weil er ja noch gar nicht berühmt gewesen war! Und wieso dachte ich gerade über mich in der dritten Person nach? Weil ich mich nicht wie Tom Hiddleston fühlte, sondern immer noch Thomas Helwig war. Der Engländer, der mit einem gefälschtem deutschen Pass jahrelang unentdeckt geblieben war. Ich hatte meinen richtigen Namen vergessen. Doch, Tom war es immer gewesen, ich denke, Eduard, der deutsche Professor, hatte nur meinen Nachnamen ändern lassen. Ich erinnerte mich an den Tag, als wir ihn beerdigt hatten, wie Maria weinend an meinen Arm gekuschelt am Grab gestanden hatte. Sie war mit Lothar schwanger gewesen. 1951. Eduard war stolze einundneunzig geworden! Ich konnte mich besser daran erinnern, als an das, was ich vorgestern getan hatte. Oder an die Early Man Premiere! Es fühlte sich an, als wäre ich nicht wirklich dabei gewesen. Als hätten sie einen Roboter in das Jahr 2018 geschickt...
Ich ging langsam zurück, wollte nicht in meine Wohnung, weil ich Angst hatte, wieder geholt zu werden. Obwohl es nicht passieren konnte, ich war ja gestorben. Außer, ich bekam noch eine Parallelwelt um die Ohren geschmissen, aber bitte nicht wieder Sex mit einer Minderjährigen! Die absolut nicht wie eine gewesen war...so, wie Birgit mit mir gesprochen hatte, war sie nicht zwölf gewesen. Vielleicht war es eine Schauspielerin gewesen, ein Roboter. Ich schüttelte den Kopf und rief meinen Assistenten Luke an. Bat ihn, für mich herauszufinden, ob es in Deutschland eine Birgit Naß oder Birgit Helwig geben würde, und zwar in Norddeutschland. Mein Haus war zehn Minuten vom Wasser entfernt gewesen. Ostsee, fiel mir noch ein.
„Wieso willst du das wissen?" fragte er interessiert.
„Ich kannte sie mal. Ist schon lange her." murmelte ich.
„Verstehe. Denkst du an die Theaterpremiere morgen? Im NST?"
„Ich denke an nichts anderes." seufzte ich und verabschiedete mich.
Kraulte Bobby und schloß die Augen. Sofort sah ich ihre Grübchen vor mir und die Kulleraugen. Wie sie ernsthaft versucht hatte, ihren Eltern zu erklären, warum ihre Pferdetapete sie krank machen würde und Jürgen meinte, sie solle sie doch einfach übermalen. Schließlich hatte ich ihr geholfen, zu tapezieren, ja, ich war immer für so etwas da gewesen, während ihr Papa durch Abwesenheit geglänzt hatte. Erinnerte mich daran, dass ich das Mädchen in eine Tapete gewickelt und sie herum geschleppt hatte, hatte ihr süßes, glockenklares Lachen noch im Ohr. Ihren energischen Gesichtsausdruck, als ich sie wieder abgesetzt hatte und sie gemeint hatte:
„Opa, so kommen wir nicht vorwärts. Benimm dich bitte."
Ich hatte schallend gelacht und dann hatte sie auch los geprustet. Ich spürte, wie mein Herz aufging. Ich brauchte diese Welt. Ich brauchte dieses Mädchen, wollte nicht mehr hier sein. Dann klingelte es an der Haustür. Ich seufzte, schlurfte zur Gegensprechanlage und fragte, wer da sei.
„Hier ist Mum. Lass mich rein. Ich mache mir wirklich Sorgen, Thomas!"
Ich stöhnte. Drückte auf den Türöffner. Ich hörte ihre Schritte im Treppenhaus und fragte mich, warum ich nichts mehr für sie fühlte. Nichts stimmte nicht ganz, ich spürte Liebe, Dankbarkeit, aber nicht so, wie ich es vor diesem Traum getan hatte. Ob sie in der anderen Welt auch meine Mutter gewesen war? Mum riss die Augen auf, als sie mich sah.
„Schatz, oh, Himmel. Hast du geweint? Komm her."
Ihre Umarmung tat gut, aber sie reichte nicht aus, den Schmerz tief in mir zu betäuben. Eigentlich tat mir alles weh, als wäre ich wirklich verprügelt worden.
„Was ist los?" fragte sie sanft.
Ich schüttelte den Kopf und klammerte mich an sie, als könnte ich ihr alle Gefühle übergeben und dann wäre alles wieder gut, ich wäre wieder Thomas William und würde mich mit Shakespeare und Fangirls herumschlagen. Mein Blick fiel auf mein Bücherregal über ihre Schulter, landete genau auf dem Rücken einer deutschen Originalausgabe von „Faust".
Ich machte mich los und schnappte es mir, klappte es auf. Las laut und absolut akzentfrei vor und Mum runzelte die Stirn.
„Hast du noch eine Sprache gelernt? Ich bin immer wieder überrascht, wieviel Wissen in deinen Kopf passt, mein Schatz."
„Ich auch." japste ich. „Sag mal, waren wir in den Achtzigern mal in Deutschland gewesen?"
Mum verzog gequält den Mund, als hätte ich sie mit der Frage verletzt. Sie nickte.
„Ich brauche einen heißen Tee, wie sieht es bei dir aus?" murmelte sie.
Ich ging in die Küche und setzte Wasser auf. Mum sprach mit Bobby, der sich nun freute, dass er endlich beachtet wurde, nachdem sich die Menschen so merkwürdig benommen hatten. Keine Ahnung, was er heute über mich dachte. Ich vermutete, dass Bobby verwirrt sein musste, weil ich es auf ihn übertrug. Das Wasser kochte, ich goss den frischen Earl Grey auf und ging dann ins Wohnzimmer. Mum nahm die Tasse und seufzte.
„Bitte, sei nicht böse, Tom. Ich...wollte dich nicht damit beunruhigen."
„Was meinst du?"
„Die Narbe an deiner Flanke."
„Wo ich mich an einem Nagel geratscht habe? Als Kleinkind?" fragte ich und war genervt, dass ich ihr alles aus der Nase ziehen musste.
„Es war kein Nagel gewesen. Wir waren in Deutschland und...ich hatte dich einen Moment aus den Augen gelassen. Wir waren in einer Fußgängerzone, ein Rollerfahrer fuhr verbotenerweise hindurch und du bist genau vor ihn gelaufen. Er konnte abdrehen, doch fiel er auf dich. Du hattest furchtbare Quetschungen und wärest..." sie schluchzte.
Ich umarmte meine Mutter sanft und sie weinte:
„Deine Gallenblase war geplatzt. Sie haben Stunden operiert. Dann haben sie gesagt, dass du eine Neue brauchen würdest und sie hätten einen Spender, natürlich habe ich zugestimmt."
Ich seufzte und fragte:
„Warum hast du mir nie erzählt, dass es so schlimm gewesen war? Das ich mit der Gallenblase eines Fremden herumlaufe?"
„Du warst noch so klein. Und irgendwann...dachte ich, es tut nichts mehr zur Sache, dir geht es ja gut damit. Du merkst es ja nicht mal, dass dieses Organ nicht mit dir auf die Welt gekommen ist."
„Wo kam es her? Und wann war das genau?"
„Am 22. Mai 1983. Diesen Tag werde ich niemals vergessen...du wärst fast gestorben." weinte sie leise.
Mir wurde schwindelig. Das letzte Puzzleteil war gefunden, das Rätsel gelöst! Und doch überstieg es meine rationalen Grenzen. Mum fuhr fort:
„Ich...weiß nicht, wo es her kam. Sie sagten nur, dass sie von einem Mann kam, der Organspender war und dass er völlig gesund gewesen sei. Er hätte am Tag zuvor einen Hirnschlag gehabt und war im Koma gewesen, bevor er am Morgen gestorben wäre. Ich wollte mich bei seinen Angehörigen bedanken, aber die Ärzte meinten, er hätte niemanden gehabt."
„Weil er im Knast getötet worden war." brummte ich.
„Wie bitte?" hauchte Mum verwirrt.
„Ach, nichts. Mum, merkwürdigerweise geht es mir nach dieser Geschichte etwas besser. Ich fühle mich nicht mehr ganz so traurig. Das Leben hat mir damals eine zweite Chance gegeben, und ich sollte sie nutzen, oder?" lächelte ich sie an.
Sie drückte mich an sich und wir weinten eine Weile, doch es tat gut. Dann gingen wir in ein Restaurant und schlemmten, später kamen auch meine Schwestern Sarah und Emma hinzu und ich spürte, wie die Trauer verflog. Ich konnte abschließen.
Doch als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, war sie wieder da. Das Wissen, woher diese Geschichte in meinem Kopf gekommen war, hatte sie nicht gelöscht, ganz im Gegenteil. Die Sehnsucht nach diesem anderen Leben war groß, ich zog mein Kissen an mich heran und atmete tief ein, versuchte, mich an den Geruch ihrer Haare zu erinnern. Sofort sah ich Birgit auf meinem Schoß sitzen und verträumt die Menschen um uns herum beobachten, wir waren auf einem Gartenfest oder so etwas. Jürgen stand am Grill, hatte eine Schürze mit einer barbusigen Frau darauf um und ich dachte gerade, dass er wirklich der Falsche für meine Anne war. Birgit seufzte. Sie schaute zu ihren Cousinen, die sich um einen Puppenwagen stritten. Birgit war kein Puppentyp gewesen. Sie hatte mit Playmobil gespielt, gebastelt und gemalt oder gelesen. Man konnte sie stundenlang in einen Raum setzen, ohne, dass man einen Mucks von ihr hörte. Nur selten drehte sie auf, dann aber richtig. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und seufzte noch einmal. Nun roch ich ihr Haar, es duftete nach Erdbeeren.
„Was ist los?" hatte ich gefragt.
Ich erinnerte mich deutlich.
„Ich hab Angst vor der neuen Klasse. Tatjana will auf eine andere Schule gehen und ich hab da niemanden." hatte sie erklärt, während unsere Finger miteinander gespielt hatten.
„Ich bin mir sicher, du wirst schnell eine neue beste Freundin finden." hatte ich zuversichtlich gelächelt.
Sie schüttelte empört den Kopf.
„Opa! Lass es."
„Was?" brummte ich. „Du bist ein liebes, schlaues Mädchen, warum sollten sie dich nicht mögen?"
„Es geht nicht um Mögen. Du verstehst das nicht." hatte sie gemurrt.
„Du gibst dir auch keine Mühe, es mir zu erklären, Spatz." hatte ich erwidert und durch ihr Haar gestrichen.
Sie hatte mich ernst angeguckt und ich hatte ihre Nasenspitze gestupst. Natürlich hatte sie dann gelächelt und geflüstert:
„Was würde ich nur ohne dich tun?"
„Du wärst genau das selbe wunderbare Mädchen wie jetzt. Nur ohne den langweiligen Opa."
Sie hatte gekichert und mir sanft in die Seite geboxt.
„Langweilig! Komm, wir spielen Federball, ja?"
„Damit ich dich wieder abziehe?" hatte ich gelacht.
Ich hätte stundenlang weiter machen können. Die Tage mit Birgit Revue passieren lassen können, jeden einzelnen, doch Bobby jaulte. Wenn ich nicht eine Pfütze im Wohnzimmer haben wollte, sollte ich also meinen Hintern aus dem Bett bewegen! Ich reckte mich und es war komisch, mich nicht mehr alt zu fühlen. Obwohl der andere Tom auch sehr fit gewesen war. Er hatte keinen Ausdauersport machen können, weil er immer noch an der Kriegsverletzung am Bein gelitten hatte, jedoch war er viel Fahrrad gefahren und hatte Muskeltraining gemacht. Wahrscheinlich hatte er-ich?- deshalb so lange durchgehalten, als ihn die anderen Gefangenen in der Mangel gehabt hatten. Ich erinnerte mich daran, dass er sich nicht gewehrt hatte, weil er sich seiner Schuld bewußt gewesen war. Während ich duschte, fiel mir auf, dass ich solche Männer immer als krank eingestuft hatte und dass sie genau das über sich dachten. Nun hatte ich einen Einblick bekommen und wußte, wie schnell die Grenze überschritten war, wenn man nicht aufpasste. Der Moment, als er oder ich oder wer auch immer seine Nase in die Scham des Mädchens gedrückt hatte, wäre er noch abzuwenden gewesen? Natürlich wäre er das, jeder von uns bekommt die Chance, sich zu entscheiden! Zwischen Gut und Böse. War es böse gewesen? Ja, eindeutig, Birgit war im Fieberschlaf gewesen und hatte keine Chance gehabt, nein zu sagen. Genau diese Gedanken waren Thomas Helwig durch den Kopf gegangen, als der riesige Typ ihm die Hoden zerquetscht hatte. Das ist gerechtfertigt, hatte er gedacht. Völlig.
Ich schrie auf, denn ich spürte den Schmerz. Brach in der Dusche zusammen und Bobby jaulte erschrocken. Ich weinte bitterlich, es war alles zu viel. Ich musste diese Erinnerung los werden, jetzt gleich! Aber wie? Als erstes rief ich Luke an und sagte, er solle die Suche abblasen.
„Oh, ich hatte gerade eine Spur. Anne Leonard, eine bekannte Autorin, hieß als Mädchen Helwig. Dann Naß. Sie hat sich 1984 scheiden lassen und hat ihren Redakteur Walter Leonard geheiratet. Sie hat jetzt eine Finca auf Mallorca. Über die Tochter kann ich allerdings nichts finden, weder unter Naß noch Helwig. Vielleicht...ist sie tot?"
Ein Stich fuhr mir durch das Herz. Luke sagte:
„Es tut mir leid, wenn es so sein sollte. Geht es dir gut?"
„Ja. Besser, danke. Und danke für die Mühe."
Wir verabschiedeten uns und ich konzentrierte mich wieder auf den Hund und die Straße. Eine Dame mit einem Collie kam uns entgegen und ich ließ Bobby Guten Tag sagen. Unterhielt mich kurz mit der Dame, die meinte, dass sie froh wäre, dass der dämliche Valentinstag vorbei wäre. Ich stimmte ihr da voll zu! Doch es fiel mir immer schwerer, mich auf Konversationen zu konzentrieren.
Bei der Theaterpremiere versuchte ich, freundlich zu gucken, zu lächeln und meine innere Zerrissenheit gut zu verstecken, doch als ich mir am nächsten Tag die Fotos ansah, bemerkte ich, dass meine Augen traurig schimmerten. Ich überprüfte so etwas selten, doch dieses Mal hatte ich das Bedürfnis gehabt, zu sehen, ob mein Gemütszustand zu offensichtlich war. Ja, Luke rief an und fragte, was los war, ich erzählte ihm etwas von einem Albtraum. Er gab sich vorerst zufrieden. Doch ich vermied es, am Sonntag bei dem britischen Filmpreis aufzukreuzen, ich hatte es mir zwar vorgenommen, aber da ich kaum geschlafen hatte und mich tatsächlich Albträume gequält hatten, hatte ich es gelassen. Meine Strategie, alles zu verdrängen, funktionierte nicht, das Gefühl der Trauer und Zerrissenheit wollte nicht weniger werden, egal, ob ich mit meiner Familie zusammen saß und Spaß hatte, mit Bobby spazieren war, mit Journalisten sprach, mich mit Freunden traf oder alleine zuhause herum hockte. Selbst meine Lieblingsfilme und Bücher konnten die Erinnerungen nicht stoppen. Ich las gerade Mann's Zauberberg, weil ich herausgefunden hatte, dass Tom Helwig in Travemünde gelebt hatte.
Nun, ich hatte Zeit, Deutschland zu besuchen und entschied mich, dass eine direkte Konfrontation vielleicht Wunder wirken konnte. Buchte einen Flug nach Hamburg. Dort wollte ich einen Wagen mieten und Richtung Ostküste fahren, bis ich "mein" Haus gefunden hatte. Es war Bobby's erster Flug und mein Hund war völlig aufgeregt. Er musste sediert werden und ich wollte darum bitten, auch eine Spritze zu bekommen, weil mir schon schlecht vor Angst war. Nicht vor dem Flug, sondern von der Flut an Erinnerungen. Ein alter Mann saß neben mir und guckte mich aus trüben Augen an.
„Hello." lächelte er. „I'm Heinz. Nice to meet you."
Man hörte, das er ungern englisch sprach.
„Sind sie Deutscher?" fragte ich auf deutsch und er nickte glücklich.
„Ja. Sie auch?"
„Nein." lachte ich. „Mein Name ist Tom und bin hier geboren."
Nun zog er die Stirn kraus.
„Dann haben sie deutsche Eltern?"
„Auch nicht. Ich hab's einfach gelernt."
„Aber sie sprechen es so gut aus, besser, als mein furchtbares Englisch! Wissen sie, meine Tochter musste unbedingt einen Engländer heiraten, dabei weiß sie, wie schwer ich mich mit Sprachen tue." seufzte er.
„Wo kommen sie genau her?" fragte ich interessiert und hielt ihm Bonbons hin, er schüttelte den Kopf.
„Aus Emden in Friesland. Für mich war es schon schwer, hochdeutsch zu sprechen."
Ich erinnerte mich an Eduard, der auch manchmal komisch gesprochen hatte.
„Du snackst platt?" grinste ich.
„Jo, min Jung!" lachte er nun. „Du ok?"
„Nee." lachte ich. „En beeten, villicht."
„Dann bleiben wir lieber bei Hochdeutsch, was? Oder sie bringen mir englisch bei. Louis spricht immer extra schnell, habe ich das Gefühl, damit ich ihn nicht verstehen kann."
„Das ist nicht nett von ihm." seufzte ich und nickte der Stewardess zu, die mir einen Kaffee reichte.
Heinz nahm ebenfalls einen und nickte.
„Er ist auch kein sehr freundlicher Mann. Meine Tochter stand schon immer auf...wie sagt meine Enkelin immer? "Bad Boys"?"
Ich lachte, obwohl mir ein Stich durch den Magen fuhr. Enkelin. Heinz war bestimmt kein Opa, der seiner Enkelin zu nahe treten würde!
„Wie alt ist sie?"
„Meine Tochter oder meine Enkelin?"
„Beide." lächelte ich. „Erzählen sie nur."
„Ich kann sie doch nicht mit meiner Familie langweilen, Tom. Haben sie Kinder?"
Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Heinz erklärte:
„Dann lassen sie es dabei bleiben. Sie machen nur Ärger. Selbst, wenn sie erwachsen sind. Andrea ist vierzig und ihre Tochter achtzehn, Bella war ein Unfall, wie man so schön sagt. Andrea ist damals abgehauen und war mit Schaustellern herum gezogen, hat sich schwängern lassen und er hat sie natürlich verjagt. Sodass meine arme Frau sich um das Kind kümmern musste, um beide Kinder. Andrea hat eine Ausbildung gemacht, doch dann hatte sie den nächsten Kerl an der Backe, der das Geld in der Spielhalle verzockt hat. Die arme Bella hatte manchmal tagelang nichts Anständiges gegessen, sodass ich meine Tochter beim Jugendamt gemeldet habe. Bella kam zu uns, Andrea hat nicht mehr mit uns gesprochen und ist nach England gegangen. Vor drei Jahren dann hat sie wieder Kontakt gesucht, aber sie trägt es mir immer noch nach."
„Warum ist ihre Frau nicht mit geflogen?" fragte ich.
„Ach, sie mag nicht fliegen. Und sie mag Louis nicht. So, nun erzählen sie auch mal was über sich."
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin nur ein lediger Literaturprofessor." erwiderte ich so schnell, dass ich selbst davon überzeugt war. „Ich gebe Unterricht und übersetze Schriften."
„Keine Partnerin? Oder...einen Partner?"
Ich lachte.
„Weder noch. Obwohl ich Partnerinnen bevorzuge."
„Dann müssen sie sich bestimmt oft einsam fühlen." lächelte der alte Mann.
Ich verzog den Mund. Ja, er hatte einen wunden Punkt getroffen, aber es ging ihn doch nichts an, wie ich fühlte!
„Ich habe einen Hund, er heißt Bobby. Und eine große Familie. Ich bin nicht allein." gab ich zurück und lehnte mich in den Sitz.
Heinz kapierte und drehte sich zum Fenster. Nun tat er mir leid.
„Manchmal." seufzte ich. „Manchmal fühle ich mich einsam."
Er nickte.
„Ich würde kaputt gehen, wenn Hildegard sterben würde. Sie hatte vor zwei Jahren Krebs und ich bin fast täglich durchgedreht vor Angst, obwohl die Ärzte ihr eine gute Prognose voraus gesagt haben. Sie hat alles prima überstanden und macht täglich Sport."
„Das freut mich. Und ich hoffe, dass sie noch lange glücklich miteinander sein können." lächelte ich und der alte Mann erwiderte mit Tränen in den Augen:
„Danke, min Jung. Ich wünsche dir, dass du bald eine wunderbare Frau finden wirst."
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