Kapitel 1
Es war kein Leben in der ich leben wollte aber ich musste.
Niemand, nicht einmal ich selbst, war dazu in der Lage dies zu ändern. Möglicherweise wollte ich das nicht. Der Grund blieb mir zu meinem Vorteil verschont. Weshalb sollte ich mich für diese Welt ändern? Eine Welt, die mir alles und jeden nahm. Eine Welt mit Menschen, die sich genauso wenig für mich interessierten, wie ich für sie. Meine Sicht auf die Leute hatte sich verändert. Ich sah sie nicht mehr als Menschen mit Gefühlen, Familie und einer Zukunft wahr. Nein, sie waren Fleisch und Blut, Egoisten.
Mein Vergnügen.
Lachend gingen sie an mir vorbei, Hand in Hand und zufrieden mit dem, was in ihrer Umgebung geschah. Zufrieden mit dem eigenen Leben. Weshalb wird mir dies nie zugute? Weshalb wird mir von Anfang an alles weggenommen? Selbst ich tue mir nicht mehr Leid. Das hatte mich nie zu etwas Gutem geführt.
Ohne ein Ziel schlenderte ich durch die Straßen und sah in die Gesichter. Glückliche, traurige, nachdenkliche Gesichter. Seit etwa einer Woche mache ich keinen Halt und war schätzungsweise schon in jeder Gasse und Straße. Jede verdammte Ecke suchte ich ab und kam nicht zu meinem Ziel.
Also kam ich zu dem Entschluss, dass meine Augen mir ein Streich gespielt hatten. Chloe war endgültig weg. Nichts auf der Welt könnte sie zurück zu mir bringen. Egal, wohin ich zu blicken schien, meine Augen suchten immer nur sie. Die Einbildung fühlte sich dennoch zu echt an, um meine Hoffnung ganz aufzugeben. Als ihr Blick meinen traf, konnte ich die stehend blauen Augen sehen. Sie waren heller und eisiger als jemals zuvor. Selbst die ungewohnte Kälte von ihr spürte ich mit jeder Zelle meines Körpers. Bis der herumwirbelnde Wind um ihr sie von mir nahm und sie wie in tausende Schneeflocken auflöste. Als ob ein unerwarteter und starker Schneesturm durch das Fenster herein platzen würde. Chloe verschwand einfach vor meinen Augen. Aber weshalb drang ihre Stimme, ihr letzter Satz noch jetzt in meine Ohren?
»Darvin, ich- ich kann dich nicht loslassen.«
*
*
»Es reicht.«, sagte sie und hielt grob meine Hand fest. »Darvin, es reicht. Tu dir das nicht an. Lauf nicht vor mir weg.«
Die leichten Sommersprossen auf ihrer Stirn bewegten sich leicht, als sie ihre Augenbrauen zusammenkniff. Eine rote Strähne ihrer wilden Mähne hing ihr im Gesicht und sie betrachtete mich besorgt. »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, antwortete ich ihr lustlos. Der Café, an dem ich platzgenommen hatte, war ziemlich leer und Cecilia war so schnell hergekommen, dass ich sie kaum bemerkt hatte. Niemand hatte sie bemerkt.
Mit Absicht mischte ich mich unter Leute ein und versuchte in der Menge zu verschwinden, besuchte Cafés und buchte mir sogar ein Zimmer, um nicht auf der Straße zu landen. Das war aber nicht meine Stärke gewesen, denn wie sehr ich mich auch zu anstrengen versuchte nicht aufzufallen, misslang es mir. Die Blicke vermieden mich nie. Durch was machte ich mich bemerkbar? Meine Kleidung? Mein Benehmen?
»Das ist nicht schwer gewesen. Deine Taten werden bemerkt, Darvin.«
»Meine Taten?«
Nun blickte sie wütend zu mir. »Das weißt du wohl am besten. Ich habe gesehen, was du getan hast.« Als ich fragend sie anblickte, zögerte sie mit dem Antwort nicht und wusste, was ich fragen wollte. »Du bist nicht der einzige mit einer Gabe.«
»Du hast eine Gabe?«
Sie nickte. »Als Gabe kann man es nicht bezeichnen aber es ist hilfreich. Du weißt, dass ich an diese Stadt gebunden bin. Und jedes Mal, wenn eine Person stirbt, spüre ich es. Es ist wie ein Stechen, dass sich durch mein Körper zieht. Erst nach einer Weile gewöhnte ich mich an diese Schmerzen.«, sagte sie und lehnte sich leicht nach vorne, um zu vergewissern, dass niemand lauschte. »Und in letzter Zeit, seitdem du aus dem Haus bist, sind zufälligerweise doppelt und dreifach so viele Tode in dieser Stadt.«
»Aber ich bin-«
»Bitte, leugne es nicht. Lass mich nur dir helfen, so darf es nicht weiter gehen. So möchte ich dich nicht sehen, nicht mehr.«
Die Reue überkam mich immer noch nicht aber meine eigene Schwester so zu sehen, weckte wenigstens ein Pünktchen Gefühl in mir auf. Es tat mir leid, sie so zu sehen. »Was sollte ich nach deiner Meinung machen, Cecila?«
»Nicht das. Vor einigen Tagen habe ich diese Frau gesehen und ich weiß, dass du es warst.«, sagte sie überzeugt und lehnte sich nun zurück, hörte jedoch mit dem Flüstern nicht auf. Wie leise sie auch flüstern mag, überhören konnte ich sie nicht. »Niemand sonst würde sich so etwas in dieser Stadt trauen.«, sagte sie und blickte für eine kurze Zeit aus dem Fenster.
»Lia, du bist meine Schwester aber misch dich bei dieser Sache nicht ein.«, sagte ich streng und stand gleichzeitig auf. »Ich liebe dich aber es ist meine Sache.«
»Darvin, nein. Hör mir nur zu, du kennst diese Stadt nicht und du kennst die Regeln nicht.«
»Schwester, denkst du Regeln könnten mich von meinem Willen abhalten? Nichts könnte das, nicht einmal du.« Nun stand sie auch auf und wir waren fast auf gleiche Augenhöhe aber ich ließ sie nicht aussprechen und setzte ein paar Schritte nach vorn, um der Gespräch zu entfliehen.
»Chloe.«, sagte Cecilia plötzlich.
Jetzt blieben meine Beine stehen, wie von selbst. Selbst ihr Name brachte mich aus dem Konzept, ließ mich nicht klar denken und vernebelte mir den Verstand. »Nach so vielen Jahren, nach so viele Tode war ihres die am schlimmsten.«
Vor kurzem fing ich an zu essen, zu trinken. Die Geschmacksexplosionen, die ich mir all über die Jahre hinweg vorstellte, war nicht im geringsten so köstlich, wie es in meinen Gedanken waren. Nichts war mehr von Bedeutung. Sie sog all die Lebensfreude aus mir heraus, als sie von mir ging. Der Schlaf selbst war wie eine Tortur. Ich hatte vergessen, wie es war. Die süßen Erinnerung vom Schlaf blieben Erinnerungen.
Als ob mir das Leben jeden Tag ein Streich spielen würde. Jeden Tag erlöst es mich aber bringt mich letztendlich hierhin zurück.
»Wir, Darvin, fühlen die Schmerzen intensiver, viel schlimmer und grausamer, das weiß ich aber ich brauche dich jetzt.«, sagte sie verzweifelt. »Mehr als je zuvor.«
*
*
Lothar.
Die Stadt wurde zu seinem Wahrzeichen und unsere Geschichte zu seine Trophäe.
Selbst sein Verlust hielt ihn nicht davon ab, seine Sache durchzuziehen. Unwissenheit macht dogmatisch. Niemand könnte ihm dies aus dem Kopf schlagen, denn er war seiner Sache zu überzeugt. Ein paar Versuche ihn aufzuhalten, könnte sich Cecilia nicht abschlagen aber es nützte nichts. Die Blicke fremder Menschen ließ sich daran erklären, dass Lothar unsere Bilder in seinem Buch abgedruckt hatte.
Von meiner ganzen Familie. Von mir.
Nun betrachteten sie uns als mörderische Familie aber dies kümmerte mich herzlich wenig. Ein schlechter Ruf würde mir nicht mehr schaden. Doch Cecilia erwartete dabei meine Hilfe, ihn zu stoppen. Was könnte ich gegen ihn anrichten? Wollte sie, dass ich ihn töte?
In Gedanken versunken bemerkte ich nicht, wie voll das Café nun war. Nachdem Cecilia mit mir geredet hatte, ging sie und ich setzte mich wieder hin. Dachte über ihre Worte nach.
Ein unsicheres Gefühl überkam mich und ich wurde stutzig. Die eisige Kälte, die sich plötzlich in binnen Sekunden durch das Raum zog, könnte nur heißen, dass irgendeine Person das Raum betreten hatte. Die frische Luft atmete ich ein und schaute mich leicht um, konnte aber niemand Bemerkbaren sehen.
Bis sich die Kälte noch schärfer hinter mir zog.
Vom Augenwinkel war deutlich bemerkbar, dass eine Person genau hinter mir saß, welche ich erst jetzt bemerkte. Verdammt, diese intensiv eisige Kälte spürte ich das letzte Mal bei Chloe aber das war unmöglich. Trotz dessen setzte mein Herz ein Schlag aus. Langsam drehte ich mein Kopf nach links und blickte die Person ganz genau an, welche mich nicht einmal bemerkt hatte.
Es war junger Bursche.
Ich kniff meine Augen zusammen und betrachtete ihn genauer. Zum ersten Mal. Das war das erste Mal nach so langer Zeit, dass ich ein fremden Unsterblichen begegnete. Der Junge bemühte sich nicht einmal eine Bewegung zu machen. Still und ruhig saß er auf seinem Platz und spielte nervös mit seinen Händen herum. Während meiner Beschattung hörten seine Hände auf herumzuzappeln. Langsam hob er seinen Kopf und blickte geradeaus.
»Mr. Hawkins.«, sagte er erschrocken und überfordert, ohne mich dabei anzuschauen.
*
*
Anwesen Hawkins, 1872
»Steh auf.«
Jemand rüttelte grob an meinem Arm und sprach auf mich ein. Die Stimme war aber kaum hörbar und verblasste immer wieder, da die Traumwelt mich einholte. »Los, komm jetzt. Steh auf, Darvin.«
Mit einem starken Ruck kriegte das kleine Mädchen hin, mich aufzuwecken. Meine Sicht wurde mit der Zeit klarer. »Cecilia?«
Ihre kleine Größe versteckte ihre große Kraft. Nachdem ich auf den Beinen war, bemerkte ich, dass ich fast so groß geworden war wie sie. Sie trug ein entzückendes weißes Kleid auf ihrem Leib. »Was machst du hier?«, sagte ich und rieb müde an meinen Augen. »Vater wird dich sehen. Du sollst kein Ärger bekommen, geh.«
Nun zeigte sie ihr liebliches Lächeln. »Er ist weg. Vater ist weg und die anderen auch.«
Das passierte selten.
»Los, komm mit. Ich muss dir etwas zeigen.«
Ihre Beine waren länger und ich versuchte mit Cecilia mitzuhalten aber sie war schnell und verschwand schon in der Ecke. Es war aber nicht schwer zu erraten, in welche Richtung sie ging, denn ich hörte sie ziemlich deutlich. Wie sie durch das Haus herum strampelte. Ihre Nervosität steckte mich ein und ließ mir garnicht die Möglichkeit, mich um zu gucken. Da ich an den kleinen Raum gewohnt war, kam mir der Rest vom Haus zu groß vor.
Die Wände verschreckten mich ein wenig und ich suchte Cecilia's Nähe.
Cecilia war daran gewöhnt, dass wusste ich. Meinen Geschwistern war viel mehr erlaubt als mir aber ich wollte mich nicht beschweren. Es war mir nicht erlaubt und Cecilia wollte mich nicht weinen sehen.
»Vater hat mir das Klavier gekauft.«, sagte sie und präsentierte mir ihr Geschenk, als sie ungeduldig auf mich wartete, während ich das Zimmer im zweiten Stock betrat. »Setz dich.«
Noch war es etwas zu groß für mich aber mit etwas Mühe schaffte ich auf den Hocker und setzte mich mit Vergnügen dort hin. Das wollte ich schon immer. »Nun ist es auch deins. Heute hatte ich meine erste Stunde.«, sagte sie und griff nach meinen Händen und setzte sie auf die Tasten. »Ich glaube- nein, warte. Wie ging das nochmal?«, sagte sie und dachte scharf über etwas nach.
Kurz musste ich über ihre tollpatschige Art lachen. »Ah, jetzt weiß ich es.«
Mit diesen Worten fing sie an, mir das Klavier bekannt zu machen. Anfang war es noch etwas schwierig aber mit der Zeit würde ich wie meine Erwachsenen spielen können. Vater war der erste und einzige, den ich an einem Klavier professionell spielen sah. »Darvin, bist du hungrig? Es gibt noch was von-«
Gleichzeitig schreckten wir uns auf, als wir die Tür hörten. »Oh, nein. Komm schnell.«, sagte Cecilia und griff nach meiner linken Hand. Meine Hand passte genau in ihre. Ich zeigte mich ungeschickt dabei nicht umzufallen, da ich zwei Mal auf meine Knie fiel aber das Aufrappeln ging genau so schnell. »Du darfst Papa nichts sagen.«, sagte sie, als wir in mein Zimmer angelangt waren. »Ab jetzt bringe ich dir das bei, was ich am Klavier lerne, einverstanden?«
Glücklich nickte ich und beobachtete, wie sie aus dem Zimmer ging und die Tür langsam hinter sich schloss. »Hab dich lieb, Darvin.«
*Was ist eure Vermutung? Wie geht es wohl weiter mit Chloe und Darvin? Ihr könnt gerne raten. 🤗 (:
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