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4 | Isabella Sinclair

Isabella Sinclair, eine junge Frau mit auffälligen blauen Augen und - für ihren Geschmack - zu vielen Sommersprossen, war in dieser Nacht allein in den Bergen unterwegs. Zielsicher lenkte sie den alten rostroten Chevy über die Landstraße, die sich gefährlich nah am Abhang entlang schlängelte. Die Scheinwerfer ihres Autos schnitten wie Schwerter durch die Dunkelheit und enthüllten beim Abbiegen auf einen einsamen Feldweg die verwitterten Mauern eines Schlosses, das sich düster und erhaben gegen den Himmel abzeichnete.

Die dichten Nebelschwaden, die sich über die schottischen Highlands legten, umhüllten Ashbourne Castle dabei wie ein weißes Leichentuch. Die Mauern, einst stolze Zeugen ihrer Zeit, waren verwittert und von den Geschichten längst vergangener Tage durchdrungen. Es hieß, dass das alte Schloss selbst atme; dass es flüstere, wenn der Wind durch die zerbrochenen Fenster pfiff, und dass es Geheimnisse barg, die besser im Dunkeln verborgen blieben.

„Das ist ja noch gruseliger, als ich es mir vorgestellt habe", flüsterte Isabella zu sich selbst, halb aus Überraschung, halb um eine Stimme in der aufkommenden Nacht zu hören. Das Radio war aus einem ihr unerfindlichen Grund vor ein paar Stunden ausgefallen, ebenso ihr Handy. Jede Meile, die sie dem alten Schloss näher kam, schien die Spannung in der Luft weiter zu verdichten. Das letzte Dorf lag schon seit einiger Zeit hinter ihr. Sie war in dieser Einsamkeit auf sich allein gestellt.

Vor einem riesigen Eisentor, das mit dornigen Ranken und jahrhundertealtem Rost bedeckt war, hielt sie an und stieg aus ihrem Wagen. Ihre feuerroten Haare saugten die feuchte Luft an und verwandelten ihre akkurat gekämmte Frisur zu einem wilden Lockennest, in das sich bei Tag wohl sofort ein paar Vögel ein Heim gebaut hätten. Genervt griff Isabella nach einem Zopfgummi, das sie aus ihrer Jeans fischte und band sich damit die Mähne zusammen. Sie wollte als zukünftige Hausherrin dieses Schlosses nicht aussehen, wie ein geplatztes Sofakissen.

Ihre Schritte knirschten laut auf dem Kiesweg, der sich unter dem dichten Nebel versteckte. Sie waren das einzige Geräusch in dieser dunklen Nacht und es war, als könne Isabella in der Ruhe, die das Gemäuer umfing, die Seelen ihrer Ahnen spüren, welche sensationssüchtig ihre Ankunft erwarteten. Obwohl das natürlich Unsinn war.

Isabellas Finger kribbelten vor Vorfreude auf ihre neue Freiheit. Lächelnd schob sie den Schlüssel in das alte Schloss der von Hand geschnitzten Eingangstür. Dies war ihr Palast. Ihr Erbe. Ihr eigenes Zuhause und ihre berufliche Zukunft. Hier würde sie einen neuen Anfang wagen.

Das dumpfe Klopfen des Eberkopfes, der statt einer modernen Klingel Besuch ankündigte, hallte mit einem lang gezogenen Echo durch die hohe Eingangshalle.

Isabella zuckte vor Schreck kurz zusammen, sprang von der Leiter, die sie im Wohnzimmer aufgestellt hatte, und sprintete zur Tür. „Ich komme schon!", rief sie dem unangekündigten Besuch entgegen und schlitterte über die Marmorfliesen den letzten Meter zum Eingang. Atemlos öffnete sie die Tür.

Auf den breiten Stufen stand ein Mann mittleren Alters, und sah sie freundlich an. „Einen wunderschönen guten Tag, werte Nachbarin. Ich bin Earl Arthur William James Balduin Cavendish der Dritte. Aber Lord Cavendish genügt."

Der Lord streckte ihr förmlich die Hand entgegen. Doch Isabella starrte ihn nur aus großen Augen an. Er sah aus, als wäre er einem britischen Adelsporträt entsprungen. Etwas steif stand er vor ihr, akkurat gekleidet, mit diesem selbstgefälligen Lächeln, das zweifellos zu Champagner und aristokratischen Dinnerpartys passte.

Sie selbst hätte in diesem Moment nicht unpassender angezogen sein können. Ihre halb zerrissene Jeans war mit honiggelben Tupfern gesprenkelt, ihr kariertes Hemd hatte sie lässig in die Hose gestopft und ihre Haare waren zum Schutz vor der Farbe unter einem alten Geschirrtuch versteckt.

Beschämt über ihren Aufzug, wischte sie umständlich die farbigen Hände an ihrem Hemd ab und erwiderte dann den Händedruck. „Ich bin Isabella Sinclair", begrüßte sie den Lord. „Schön, Sie kennen zu lernen... Ihre Bekanntschaft zu machen... Mister Lord von... Was sagten Sie doch gleich."

Isabella lief rot an, verfluchte innerlich ihr Gestotter und zog ihre Hand hastig zurück.

Hätte der Lord sich nicht vorher ankündigen können? Oder zumindest einen Diener mit einer Einladung schicken?

„Earl Arthur William James Balduin Cavendish. Einziger Sohn von Earl William James Balduin Lester Cavendish", stellte er sich erneut mit bemerkenswerter Geduld vor.

Isabella blinzelte. „Ach, das ist ja witzig! Mein Onkel hieß auch Earl – allerdings mit Vornamen." Sie lachte nervös. „Und, wo wohnen Sie?"

„Ich wohne direkt gegenüber auf dem Hügel." Er deutete auf das imposante Anwesen in der Ferne. „Schloss Dunwin ist seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie." Stolz reckte der Earl sein Kinn. „Meine Vorfahren waren schon hier, als Mary Stuart noch lebte. In unserer Familie fließt schon immer adeliges Blut."

Isabella legte den Kopf schief. „Haben die schottischen Adligen nicht ihre eigene Königin verraten und zugelassen, dass sie geköpft und ihr Sohn von der englischen Königin für ihre Zwecke manipuliert wurde?", fiel ihr schlagartig ein. Sie hatte erst kürzlich eine packende Netflixserie über Mary Stuart und ihr tragisches Leben gesehen.

Lord Cavendish verzog kurz das Gesicht, dann räusperte er sich. „Mary Stuart war zweifelsohne eine kluge und mächtige Frau. Doch in der Wahl ihrer Verbündeten hatte sie leider kein sehr gutes Händchen. Sie selbst war eine Meisterin der Intrigen, wie kann man es ihren Feinden verdenken, dass man ihren Sohn für den besseren König hielt?" Der Lord setzte ein charmantes Lächeln auf und deutete auf das Gebäude hinter ihr. „Auch Ihre Familie hat eine lange Geschichte. Kennen Sie die Einzelheiten?"

Isabella schüttelte den Kopf. „Ich bin gerade erst angekommen. Mein Großonkel, der hier bis vor kurzen wohnte, hatte den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Ich war selbst erstaunt, als ich von meinem Erbe erfuhr." Isabella überlegte.

Kannte der Lord den Teil ihrer Familiengeschichte, den sie nie hatte in Erfahrung bringen können?

„Ehrlich gesagt, Mister Earl, ich wäre tatsächlich ein wenig neugierig, mehr über das Haus und meinen Onkel zu erfahren. Können Sie mir etwas darüber erzählen?"

Lord Cavendish lächelte breit. „Gewiss kann ich Ihnen bei einer Teestunde etwas zu Schloss Ashbourne und seiner Geschichte erzählen. Denn wie es der Zufall will, gehörte dieses Anwesen einmal meiner Familie."

Ein Klacken erstarb und machte der Stille in der chaotischen Wohnung des Schriftstellers Platz. Zufrieden speicherte er die Zeilen und klappte den Laptop zu.

Endlich hatte er es geschafft!
Endlich hatte er eine Bella gefunden, die sich nicht in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu sabotieren.
Er war wieder der Herr über seine eigene Geschichte!

Oder etwa nicht...?

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