✧.* - Kapitel 8
Dienstag Nacht/ Mittwoch, 29./ 30. April
Still schälte er sich aus der dünnen Decke, setzte sich auf und blieb einen Moment dort hocken, um auf Yunho zu achten. Doch der schlief fest, regte sich nicht, selbst als Mingi ganz aus dem Bett kroch, aufstand und das Schlafzimmer verließ. Ohne ein Geräusch schob er die Tür zu, bewegte sich lautlos durch die stockfinstere Wohnung und steuerte den Kühlschrank an. Aus diesem nahm er sich ein Bier, öffnete es und trat danach mit der Flasche hinaus auf den Balkon. Es war angenehm kühl hier draußen im Gegensatz zu ihrem stickigen Schlafzimmer und im ersten Moment genoss er einfach nur den kalten Luftzug auf der Haut. Langsam trat Mingi an die Balkonbrüstung heran, lehnte sich dagegen und beugte sich ein Stück weit darüber. Die Welt unter ihm war dunkel und überraschend still. So still, dass die wenigen Geräusche, die zu hören waren, unnatürlich laut durch die Nacht zu schneiden schienen. Das leise Rauschen vorbeifahrender Autos dann und wann, Hundegebell irgendwo weit entfernt und irgendwo in den Wohnblöcken schrie ein Baby. Mingi hob die Flasche an den Mund und trank.
Er mochte kein Bier. Eigentlich mochte er gar keinen Alkohol, aber es war eine gute Möglichkeit, dieses seltsame Gefühl in ihm zu dämpfen, das ihn erst aus seinem unruhigen Schlaf gerissen hatte und dann nicht mehr hatte einschlafen lassen. Das funktionierte mehr oder weniger sofort, während er noch ein paar kräftige Schlucke nahm, weil sein Körper es ohnehin nicht gewohnt war und entsprechend schnell darauf reagierte. Er trank die halbe Flasche relativ zügig, konnte dabei wahrnehmen, wie dieses merkwürdige Kribbeln einsetzte und atmete langsam aus. Das mochte er auch nicht, zu fühlen, wie sich der Alkohol in seinem Körper verteilte, aber gerade war es okay. Hauptsache er musste sich nicht mehr mit diesen quälenden Empfindungen rumschlagen. Es mochte sein, dass sein Körper heilte, dass all die kleinen und größeren Blessuren allmählich verblassten und abklangen, der Rest tat es nicht. Die Schatten, die wild rotierenden Gedanken, die Momente, in denen es ihm regelrecht die Luft abschnürte, ohne dass er wusste wieso. Oder auch die unerklärliche Wut, die ihn teilweise so plötzlich überfiel, dass er sich selbst ihr gegenüber ohnmächtig fühlte. Dann wollte er weinen, um sich schlagen, irgendwas kaputttreten, schreien - wenn irgendwas davon helfen würde. Tat es aber nicht, es wurde nur leichter, wenn er es betäubte und das funktioniert wahlweise mit Tabletten oder Alkohol. Darum gerade das Bier. Mingi nahm noch einen Schluck, lehnte sich dabei auf die Brüstung und starrte in die Dunkelheit hinab.
Und dann sah er ihn.
Der Schatten bewegte sich im Schutz der Häuserschluchten entlang, lautlos, sehr langsam und an die kahlen Mauern gepresst. Ruckartig richtete er sich auf und wich einen Schritt zurück. Eine Welle der Angst flutete seinen Körper, breitete sich in rasender Geschwindigkeit aus und legte alles lahm. Jeden rationalen Gedanken, jede Möglichkeit, sich zu bewegen - einfach alles.
Waren sie das? Hatten sie ihn gefunden?! Waren sie gekommen um ...?!
Und dann strich der Schatten um die Ecke, löste sich im Lichtkegel der schwachen Beleuchtung des Innenhofs auf und Mingi erkannte Jackie, den Sicherheitsmann, der recht unmotiviert zum nächsten Block schlenderte. Aber auch ihn zu sehen und zu erkennen half in diesem Augenblick nicht. Er stolperte einen Schritt zurück, atmete hektisch und sein Herz schlug so schnell, dass er sich unwillkürlich die Hand auf die Brust presste, weil es schmerzhaft hämmerte. Und es wurde gar nicht wirklich besser. Kalter Schweiß brach ihm aus, ließ ihn in der kühlen Nachtluft frösteln und endlich schaffte es Mingi, wenigstens die lähmende Starre ein wenig zu durchbrechen. Mit wackeligen Schritten kehrte er in die Wohnung zurück, kramte in der Küchenschublade nach den Beruhigungspillen, nahm eine davon und spülte sie mit noch mehr Bier runter, bevor er sich schweratmend an den Tresen lehnte und darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte. Nach einer ganzen Weile wurde es besser. Sein Puls beruhigte sich wieder, seine Atmung normalisierte sich, dafür setzte jetzt ein leichtes Zittern ein, weswegen er die Arme um den Körper schlang.
Trotzdem trat er wieder hinaus auf den Balkon, lehnte sich dort erneut auf die schmale Brüstung und trank den Rest seines Biers. Als die Flasche leer war, drehte er sie eine Weile unschlüssig in den Fingern und stellte sich dabei vor, wie Yunho, wenn er sie fand, unzählige Fragen stellen, dabei die Stirn runzeln und ihn mit sorgenvoll geweiteten Augen betrachten würde
Im nächsten Moment streckte er den Arm aus, schleuderte die Flasche in die Nacht hinaus und sah teilnahmslos zu, wie sie lautlos im Dunkeln verschwand, bis er hörte, dass sie irgendwo in den gepflegten Rabatten zerschellte. In seinem Inneren war endlich Ruhe eingekehrt, nichts regte sich mehr. Trotzdem blieb er noch eine ganze Weile auf dem Balkon stehen, ließ sich von der Kälte durchdringen, bis sie ihn völlig auskleidete und das betäubende Gefühl endlich alle Gedanken in seinem Kopf erstickt hatte.
Aber selbst jetzt kehrte er nicht ins Bett zurück, sondern kroch im Wohnzimmer auf die kleine Couch, wo er sich zusammenrollte und wohl auch wieder einschlief.
Zumindest wurde er dort von Yunho irgendwann am Morgen geweckt, indem dieser ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte.
„Mingi? Was ist los? Warum liegst du auf dem Sofa? Konntest du nicht schlafen? Hattest du wieder Albträume?"
Meine Güte, warum stellte er denn so viele Fragen? Und warum denn alle auf einmal! Leise knurrend schob Mingi die Hand von seiner Schulter und richtete sich ächzend auf. Er streckte sich unbeholfen und wühlte in seinen Haaren. Die Medikamente in Kombination mit dem Bier wirkten immer noch nach und ließen seinen Körper, aber auch seinen Kopf nur schleppend in Gang kommen.
„Mmh", brummelte er also nur, als Universalantwort auf alles und auch in der Hoffnung, dass Yunho sich damit zufriedengab.
Tat er natürlich nicht, nein, stattdessen hockte er sich zu ihm auf die kleine Couch, strich über seinen Arm, seinen Hals, seine Wange. Kämmte seine wirren Haare mit den Fingern und strahlte insgesamt so viel Bedauern, Reue oder auch Mitleid aus, dass es Mingi schon wieder zu viel wurde. Nur fehlte ihm im Moment die Kraft mit ihm deswegen zu streiten, also ließ er sich gegen ihn fallen, nahm die kleinen Zärtlichkeiten damit an. Sie waren ja auch nicht schlecht, zumal er so wenigstens nicht gezwungen war zu reden.
Später, beim gemeinsamen Frühstück, bewegten sie sich ohnehin schon wieder auf gefährlichem Terrain und damit wie auf rohen Eiern, weil Mingi erklärte, was er noch alles erledigen musste, bevor er morgen wieder zurück in die Arbeit wollte. Neues Handy besorgen, neuen Ausweis beantragen, beides verschwunden seit Freitag, genau wie sämtliches Bargeld, das er dabeigehabt hatte. Auf die Frage, warum sie ihm die eigentlich leere Brieftasche gelassen hatten, gab es keine befriedigende Antwort. So wie es für Yunho ganz offenbar ebenfalls höchst unbefriedigend war, wenn er ihm erklärte, dass er einfach wieder zur Normalität zurückkehren wollte.
„Soll ich lieber in dieser beschissenen Situation verharren?", fragte er durchaus provokativ und sah, wie Yunho einmal tief durchatmete, bevor er antwortete. Seine Augenbrauen zuckten ganz leicht.
„Nein, aber du sollst dich um dich selbst kümmern, nicht um deinen Onkel, oder die Arbeit oder sonst irgendwas. Das ist wichtig, Mingi, verstehst du nicht?"
„Aber das tue ich doch", konterte er. „Verstehst du das nicht? Was wäre dir denn lieber? Soll ich den ganzen Tag auf der Couch liegen und heulen? Wäre das „richtig"? Denkst du, das würde irgendwas verändern oder besser machen?"
„Wenn es dir hilft, warum nicht", murmelte Yunho sehr leise, dann erst sah er auf. „Und es geht auch nicht darum, was mir lieber wäre, sondern darum, dass du dir einfach mehr Zeit für dich nehmen sollst. Niemand verlangt von dir, dass du sofort wieder zur Tagesordnung zurückkehrst und so tust, als wäre nichts gewesen. Es muss-"
„Ich mache genau das, was sich am besten für mich anfühlt", unterbrach Mingi ihn nicht schroff, aber nachdrücklich. „Wieder normal leben, okay?"
Sah Yunho wohl anders, denn er seufzte schon wieder so schwer, ließ zudem die Schultern hängen, schwieg aber jetzt. Vielleicht war ihm auch nicht nach einem neuerlichen Streit.
„Und es geht mir gut", setzte Mingi mühsam beherrscht nach. „Wirklich. Vertrau mir doch wenigstens ein bisschen, wenn ich sage, dass es okay ist und dass ich schon weiß, was mir gut tut."
„Okay", murmelte Yunho, griff dabei über den Tisch und nahm seine Hand. Schwach drückte er seine Finger und Mingi betrachtete einen Moment lang ihre ineinanderliegenden Hände. Gerade fühlte er nichts dabei und das war durchaus verstörend.
„Was ist?", fragte Yunho.
„Nichts." Mingi zog seine Hand zurück und schwenkte rasch um. „Das mit dem Handy nervt mich, noch mehr als die Sache mit dem Ausweis."
„Hat die Polizei sich gemeldet? Wurde es immer noch nicht gefunden?"
Mingi schüttelte den Kopf. „Die letzte Ortung deckt sich wohl mit dem Gebiet, in dem das Restaurant liegt, wo wir essen waren. Danach ist es tot. Ausgeschalten, kaputt. Keine Ahnung. Auf alle Fälle unauffindbar."
„Okay dann ... willst du dir ein neues besorgen? Soll ich mitkommen?"
Mingi neigte den Kopf ein wenig und sah Yunho an. „Ich krieg das hin, okay?", sagte er. „Gib mir wenigstens die Chance, dir zu beweisen, dass ich es auch allein schaffe."
„Okay", sagte Yunho wieder nur, zog dabei den Kopf ein und Mingi rollte gedanklich die Augen. Er wollte wirklich nicht streiten, aber wie sollte er ihm erklären, dass seine Fürsorge ihn langsam erstickte?
„Babe..."
„Nein, schon okay. Du kriegst das hin, ich vertraue dir."
„Yunho!"
„Was denn?!" Jetzt riss er den Kopf hoch, seine Miene war sorgenvoll und zerknirscht und er zuckte die Schultern. „Ich mache mir Sorgen, was soll ich tun? Ich kann es nicht abstellen, aber ich arbeite dran. Also gesteh du mir doch einfach zu, dass ich noch ein wenig daran zu beißen habe, wenn ich dich alleinlassen soll und ... keine Ahnung. Ich arbeite dran, versprochen."
„Na schön." Mingi stand auf, umrundete den Tisch und trat zu ihm, er küsste Yunho auf die Wange, wich aber so rasch wieder zurück, dass dieser nicht einmal die Chance hatte, ihn zu umarmen und huschte hinter ihm vorbei. Seine Hand strich über Yunhos Schultern. „Du machst dich an deine Arbeit, bevor die Welt doch noch untergeht und ich werde zwangsweise Geld ausgeben, dass ich gar nicht habe. Klingt doch gar nicht so schlecht." Damit lief er aus dem Raum und ignorierte das ungute Gefühl, von Yunhos sorgenvollen Blick, der ihm sicherlich folgte.
Nein, er würde dem jetzt nicht nachgeben, er musste hier raus, bevor er noch durchdrehte.
Zwanzig Minuten später verließ er also tatsächlich zum ersten Mal wieder allein die Wohnung, stand vor dem Aufzug und zögerte plötzlich, als die Türen sich öffneten und er in die leere, aber winzige Fahrstuhlkabine blickte, dann machte er auf dem Absatz kehrt, ignorierte den Aufzug und nahm stattdessen die Treppen.
Auf die Straße zu treten war seltsam, denn hier war es plötzlich so wuselig und laut, dass er sich unbehaglich immer an den äußersten Rand eines Weges drückte, um nur ja niemanden zu berühren. Abgesehen davon hatte er das Gefühl, dass alle Menschen, die ihm entgegenkamen, ihn anstarrten. Nach den ersten 200 Metern war er versucht, einfach wieder umzudrehen und zurückzulaufen. Er tat es nur nicht, weil er Yunho nicht die Bestätigung geben wollte, dass er recht hatte und eben doch noch nicht alles normal war. So zwang er sich weiterzugehen, die glotzenden Menschen zu ignorieren - vielleicht glotzten sie ja tatsächlich auch gar nicht, aber es fühlte sich eben so an - und kam irgendwann auch in dem verdammten Laden an. Bis dahin fühlte er sich unangenehm durchgeschwitzt und völlig unbehaglich. Deswegen diskutierte er mit dem Verkäufer erst gar nicht über irgendwelche Vor- und Nachteile diverser neuerer Modelle, sondern kaufte exakt das Smartphone, welches er auch zuvor besessen hatte, zahlte mit Karte und als er eben jene aus seiner Brieftasche nahm, fiel sein Blick auf das leere transparente Fenster, hinter dem sein Ausweis gesteckt hatte.
Ein unangenehmes Kribbeln kroch über seinen Nacken.
Auf dem Nachhauseweg sah er sich bestimmt ein Dutzend Mal um, weil er ständig das Gefühl hatte, jemand würde hinter ihm herschleichen, aber womöglich rührte das auch nur von dem Gedanken her, der sich gerade in seinem Kopf festgesetzt hatte. Dass, wer auch immer ihm das angetan hatte, vermutlich auch seinen Ausweis hatte, seinen Namen kannte, seine Adresse ...
Als er den Weg zu den Wohnblocks einschlug, raste sein Puls wie verrückt und er war froh, dass er, kaum durch die Tür getreten, auf Jackie traf, der eben grüßend um die Ecke bog.
Langsam schlich er an dem Sicherheitsmann vorbei, nickte dabei höflich und lief, den Aufzug dieses Mal gleich komplett ignorierend, weiter zum Treppenhaus. Aufatmend platzte er durch die Tür, trat sich die Schuhe von den Füßen und kickte sie in die Ecke, bevor er sich kurz gegen das Holz lehnte und die Augen schloss.
„Mingi?", drang es aus dem Wohnzimmer.
Da öffnete er die Augen und antwortete betont fröhlich: „Hast du jemand anderen erwartet?"
Seine zitternde Hand rieb unruhig über seine Brust.
„Idiot", hörte er es nun aus dem Wohnzimmer brummeln und flüchtete rasch ins Bad, bevor Yunho noch nachsehen kam, warum er denn hier draußen herumstand. Er fühlte sich eklig und verschwitzt, wollte am liebsten duschen, fürchtete aber Yunhos Reaktion, also zog er sich nur um, stopfte die Klamotten in die Wäschetonne und nachdem er sich wieder gefangen hatte, schlenderte er so gelassen wie möglich ins Wohnzimmer, warf die Box mit dem neuen Handy auf das Sofa und machte sich dann an der Küchenzeile zu schaffen.
„Willst du auch Tee?"
„Sollte nicht ich das fragen?"
Mingi hob den Kopf und grunzte leise. „Willst du oder willst du nicht?"
„Jah ...", maulte Yunho und Mingi machte sich ohne sich umzudrehen dran, Tee herzurichten. Er klapperte laut mit dem Geschirr, zog dabei unauffällig die Schublade auf und kippte sich zwei der Tabletten auf die Hand, die er einfach trocken hinunterwürgte, bevor er mit zwei Tassen an den Wohnzimmertisch zurückkehrte.
„Los, mach Pause und bestaune mein neues Handy."
Tatsächlich stand Yunho jetzt auf und kam zu ihm, warf einen Blick auf die Box und grinste schief. „Ist dasselbe."
Mingi schmunzelte, trat zu ihm und schlang einen Arm um seine Mitte. „Und ich habs mir ganz allein gekauft, Mama", säuselte er, beugte sich zu ihm und sein Mund berührte Yunhos Lippen. Es war die erste intimere Geste dieser Art zwischen ihnen und auch wenn es kein richtiger Kuss war, spürten sie womöglich beide diese seltsame Anspannung, die beinahe wie eine unsichtbare Barriere sekundenlang zwischen ihnen stand.
Als wäre es nicht richtig.
Aber dann verstärkte Mingi den Druck auf Yunhos Lippen und als dieser den Kuss ebenso vorsichtig erwiderte war es richtig.
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