✧.* - Kapitel 29
Freitag, 7. November
„... das kennst du nicht?" Der Mann ohne Gesicht lachte keckernd. „Da musst du hin, das wird dir gefallen."
Mit einem Ruck fuhr Mingi aus dem Schlaf hoch, setzte sich hin und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Unterdessen verblassten die Bilder bereits wieder und zurück blieb lediglich dieses vage Gefühl der Unruhe.
„Entschuldige", sagte da jemand neben ihm, berührte ihn außerdem an der Schulter, was Mingi so erschreckte, dass er regelrecht zusammenfuhr. Yeosang, halb über ihn gebeugt, schmunzelte. „Du bist ganz schön schreckhaft, was?"
Yeosang?
Irritiert starrte Mingi ihn an, dann erst sah er sich um und fragte sich, wo zum Teufel er war und wie um alles in der Welt er hier gelandet war.
„Wo ...?", stammelte er nur, brachte den Rest der Worte nicht zusammen, aber Yeosang lachte bereits.
„Na immer noch auf unserer Couch, Dummerchen. Mann hast du dich gestern abgeschossen, kein Wunder, dass du dich an nichts erinnerst."
Jetzt nickte Mingi schwach, auch wenn selbst diese Aussage nur schwammig bei ihm ankam. Er brauchte unbedingt etwas, um einen klaren Kopf zu bekommen.
„Kaffee?", fragte Yeosang da und bevor Mingi ablehnen und erklären konnte, dass er keinen Kaffee trank, stand bereits eine Tasse vor ihm. Es war löslicher Kaffee, ein fürchterliches Gebräu, aber Mingi schwieg dazu und trank es trotzdem. Es half beim Wachwerden. Mit dem scheußlichen Kaffee schluckte er seine Pillen und verfolgte dann wieder, wie Yeosang um ihn herumwuselte.
„Musst du in die Arbeit?", fragte er schleppend.
Yeosang lachte. „Ich komme von der Arbeit. Es ist bereits nach zwei – nachmittags. Frühschicht Großmarkt, du erinnerst dich?"
Was?! Erschrocken ruckte Mingis Kopf hoch. Es war bereits nachmittags? Was für eine Scheiße! Yunho würde ausflippen! Oh Mann, das hatte ihm gerade noch gefehlt, wieder Ärger, wieder Streit. Wenn er nur daran dachte, fehlte ihm schon jede Energie.
„Tut mir leid, dass ich euch hier so belagere", murmelte er halblaut, während Yeosang erneut hinter ihm vorbeiwuselte, ihm jetzt durch die Haare fuhr, sodass Mingi unangenehm berührt zusammenzuckte und sich unter seiner Hand wegduckte. Yeosang tat so, als hätte er dies nicht bemerkt.
„Quatsch", winkte er lächelnd ab. „Wir hatten doch alle schon mal Scheißphasen in unserem Leben. Also mach dir keinen Kopf. Du kannst auch ein paar Tage hier pennen, wenn du einen Unterschlupf brauchst. Hast du Hunger? Willst du was essen?"
„Was?" Verwirrt hob Mingi den Kopf und bemühte sich, die Aussagen und Fragen irgendwie unter einen Hut zu bekommen. „Danke", murmelte er, bezogen auf den Unterschlupf und richtete sich nochmal auf. „Und nein, ich hab keinen Hunger."
„Hm", hörte er jetzt nur, dann saß Yeosang plötzlich neben ihm, balancierte eine Schüssel mit Nudeln auf seinen Knien und schaufelte sein Essen laut schlürfend in sich hinein. Für einen Moment sah Mingi ihm zu, bis Yeosang den Kopf hob und entschuldigend grinste.
„Sorry", nuschelte er undeutlich. „...-b echt Hunger ..."
Mingi winkte ab, wühlte in seinen Haaren und schwieg. Es fiel ihm unheimlich schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen oder irgendwas auf die Kette zu bekommen. Was er jetzt tun, wie es weitergehen sollte. Die kreisenden Gedanken entglitten ihm immer wieder.
„Sind übrigens gut geworden", riss Yeosang ihn erneut aus seinen Grübeleien, lächelte schwach, als Mingi verwirrt zu ihm hinsah und wies dann mit den Essstäbchen in seine Richtung. „Deine Haare. Ich finde es steht dir."
Haare? Wieder fasste Mingi verwirrt in seine Strähnen, dann stand er schweigend auf und trottete ins Bad. Er dachte nicht darüber nach, woher er wusste, wo das Badezimmer war, wo er sich gerade eben nicht mal mehr hatte erinnern können, wie er hierher gekommen war, tippte auf den Lichtschalter und erstarrte regelrecht.
Das ... war nicht wahr oder?
Mit offenem Mund starrte er auf sein Spiegelbild, besser, auf seine Haare. Sie waren ...
Blond.
Nein, nein, also nicht direkt, sie waren eher ... kanariengelb, zumindest vom Ansatz her und wurden zu den Spitzen hin immer dunkler, sodass die letzten paar Zentimeter grell rot leuchteten. Es sah aus wie ... Flammen ...
Scheiße! Yunho würde ausflippen! Noch während er das dachte, musste Mingi plötzlich lachen, stand kichernd vor dem Spiegel und wollte sich schier nicht mehr einkriegen. Er stellte sich vor, wie er in diesem Aufzug in die Kanzlei marschieren würde. Vielleicht würde der Alte dann einen Herzinfarkt kriegen.
Nun, ehrlicherweise musste er zugeben, dass er sich so vermutlich nicht in die Kanzlei trauen würde, aber die Vorstellung hatte was und überhaupt, irgendwie war das auch cool, oder? Grinsend strich er sich durch die Haare. Er kam wieder heraus.
„Wer war das?"
Überrascht sah Yeosang auf. „Na Hong. Junge du musste echt klarer werden im Kopf, die Pillen machen dich auf Dauer ganz matschig. Was hältst du davon, wir ziehen nachher los und treffen ein paar Leute, machen ein paar Dinge, die wieder etwas Leben durch deine Adern jagen, hm?"
„Welche Dinge?", fragte Mingi, aber Yeosang schmunzelte nur und seine Augenbrauen zuckten verschwörerisch.
*
Als Mingi am Spätnachmittag das Polizeirevier betrat, fühlte er sich immer noch wie befreit. Jetzt gerade wusste er ganz genau, was er wollte, denn vorhin, dort oben auf der Dachkante des mehrgeschossigen Wohnhauses, war es mit einem Mal so klar gewesen, dass er laut aufgelacht hatte.
Yeosang hatte den Kopf geschüttelt und ihn für verrückt erklärt. Ice – der Typ, der die ganze Gang von Parcourläufern anführte – hatte ihn als Seelenverwandten betrachtet.
„Yo, Mingi, ich kann in dein Herz sehen, du bist wie ich."
Dabei war ihm das alles scheißegal, aber das sagte er natürlich nicht. Das Einzige, was zählte, war der Moment dort oben auf der Dachkante, der Augenblick, in dem er endlich wieder spürte, dass er noch lebendig war, dass er noch atmete, dass sein Herz noch schlug.
So wie er dort stand und der Wind an seinen Kleidern zerrte, während er 15 oder auch 20 Meter in die Tiefe blickte, hatte er das Gefühl, als würde alles aufreißen. Als würde er den ersten Atemzug seines Lebens tun. Es war befreiend und berauschend. Da war ihm klar geworden, dass er sich selbst aus dieser Scheiße befreien musste, dass er das alles endlich abstreifen musste. Alles, einfach alles, was ihn einengte, am Boden hielt, ausbremste. Er musste frei sein, um fliegen zu können. Denn wenn er nicht fliegen konnte, würde er wohl auf dem Boden aufschlagen.
„Bitte?" Die junge Beamtin stoppte ihn resolut, machte ein freundliches Gesicht, aber Mingi sah auch, wie sie ihn im Bruchteil einer Sekunde von Kopf bis Fuß musterte.
Ja gut, seine Aufmachung war vielleicht ein wenig ... hm. Zu wenig konservativ für ein Polizeirevier, aber sicher hatten sie hier schon schlimmeres gesehen. Er trug seine Schlabberklamotten von gestern, die rochen vielleicht nicht mehr so frisch, die Kapuze seines Hoodies verdeckte die Hälfte seiner feurigen Haarpracht. „Ich möchte zu Inspektor Park."
Die junge Frau wich keinen Zentimeter zur Seite, das nichtssagend-höfliche Lächeln blieb.
„In welcher Angelegenheit?"
„Song Mingi. Er betreut meinen Fall."
Die Beamtin hieß ihn zu warten und marschierte davon. Minuten später kam sie mit Park zurück, der ihm schon von weitem zunickte und mit keiner Regung zu erkennen gab, dass er sich an seinem Äußeren störte.
„Hatten wir einen Termin? Es ist nichts passiert oder?", begann er sofort, wirkte ehrlich besorgt, sodass Mingi abwinkte.
„Nein, ich ... wollte nur ein paar Dinge besprechen."
Das reichte offenbar als Hinweis, denn Inspektor Park nahm ihn ohne Umschweife mit und führte ihn in sein Büro. Der zweite Kollege huschte augenblicklich hinaus, sodass sie allein waren und Mingi wurde aufgefordert sich zu setzen.
„Bitte." Der Inspektor nahm ebenfalls hinter seinem Schreibtisch Platz. „Soll ich Ihnen etwas bringen lassen? Wasser? Tee?" Kurz stockte Mingi und dachte über die Tatsache nach, dass dieser an sich wildfremde Mensch, so viel über ihn wusste. Er hatte ihn sogar nach Tee gefragt, nicht nach Kaffee. Standen diese Details alle in seiner Akte? Und las Park Seonghwa diese vielleicht abends, wenn er ins Bett ging? Was sagte seine Frau dazu? Oder Freundin, wenn er eine hatte. Das Abdriften seiner Gedanken verwirrt ihn, also verneinte er nun rasch. Ihm gegenüber nickte der Polizeibeamte, gab etwas in seinem Computer ein – wahrscheinlich öffnete er die Akte zu dem Fall – und wandte sich dann mit einem freundlichen Lächeln seinem Gesprächspartner zu. „Also, was hat Sie hergeführt?"
Mingi überlegte. Gab es eine schöne Formulierung für das, was er zu sagen hatte? Vermutlich nicht, also atmete er einmal tief durch und sah schließlich auf. „Ich will, dass die Ermittlungen zu meinem Fall eingestellt werden."
Für einen Atemzug herrschte absolute Stille, Park Seonghwa blinzelte einmal, dann zeigte sich ein gleichermaßen irritiertes wie freudloses Lächeln. „Bitte?"
„Ich will, dass es aufhört", sagte Mingi fest. „Ich will, dass in meinem Fall nicht weiter ermittelt wird. Packen Sie es zu den Akten, oder wie immer Sie es nennen. Betrachten Sie es als geschlossen. Ende. Erledigt."
Immer noch war auf dem Gesicht des Beamten dieses angestrengte Lächeln.
„Das ... geht nicht", sagte er jetzt und Mingi schnaubte verächtlich.
Er hatte erwartet, dass die Polizei sich sträuben würde, aber das war ihm egal. „Ich will aber, dass es beendet wird. Ist irgendwas daran unverständlich? Wenn Sie wollen, unterschreibe ich auch jedes verdammte Formular, das notwendig ist."
„Nein, also ..." Beschwichtigend hob Inspektor Park die Hand. „Ich glaube wir ... missverstehen uns gerade", begann er und klang dabei so taktisch abwägend, dass Mingi mit den Augen rollte.
„Wirklich, Herr Song, es geht nicht. Wortwörtlich. Ich kann die Ermittlungen zu diesem Fall nicht einfach einstellen. Erst wenn alle Spuren ins Leere laufen und unsere Möglichkeiten ausgeschöpft sind, greift dieses Verfahren und dann wäre es ein sogenannter Cold Case und ..."
„Ist mir egal", raunzte Mingi. „Okay? Verstehen Sie das? Es ist mir völlig egal, wie Sie es nennen. Ich will es nicht mehr. Es war ein Fehler, ich hätte nie mit Ihnen reden sollen."
Jetzt lehnte sich Park Seonghwa zurück und betrachtete ihn nachdenklich. Die angestrengte Freundlichkeit war komplett aus seinem Gesicht verschwunden.
„Was ist passiert?", fragte er nach einer Weile.
„Nichts!", fauchte Mingi zurück. „Was soll passiert sein?"
„Hat jemand mit Ihnen Kontakt aufgenommen? Sie bedroht? Wurden Ihnen Bilder zugeschickt? Videos? Irgendwelches Material?"
„Was?" Mingi rümpfte die Nase. „Nein! Wie kommen Sie darauf? Nichts dergleichen. Ich will einfach nur-"
„Dass die Ermittlungen enden, das habe ich schon verstanden", fiel ihm Park Seonghwa ins Wort. „Und ich erkläre mich gerne noch einmal. Es geht nicht. Mir sind diesbezüglich die Hände gebunden. Es wurde Strafanzeige gestellt, das kann man nicht einfach vom Tisch wischen, wenn man es nicht mehr will. Was mich jedoch immer wieder zu dem Punkt bringt: Warum wollen Sie es nicht mehr? Was ist geschehen, dass Sie Ihre Meinung geändert haben?"
Mingi presste die Lippen aufeinander. Angebrüllt hätte er ihn am liebsten! Sehen Sie mich doch an, dann wissen Sie was passiert ist! Stattdessen schwieg er und starrte stur auf seine Hände.
„Haben sich neue Informationen ergeben? Erinnern Sie sich an etwas?"
„Nein!", schnappte Mingi, sah ruckartig auf und wetzte dabei unbehaglich auf seinem Stuhl herum.
Der Beamte lehnte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch, Der Kugelschreiber, den er hielt, tippte dabei leicht auf die Schreibtischunterlage.
„Herr Song", begann er sehr leise und sehr ruhig. „Jede Kleinigkeit kann dabei weiterhelfen, ganz egal wie unbedeutend Sie es finden. Wirklich. Jedes Detail-"
„Warum reiten Sie jetzt darauf herum?", fuhr Mingi auf. „Ich habe doch schon gesagt, dass ich mich nicht erinnere. Da ist gar nichts."
„Ich glaube Ihnen nicht", sagte der Polizeibeamte sanft und es war dieser Kontrast von der weichen Stimme und der Aussage selbst, der Mingi so sehr verunsicherte, dass er erneut verbissen schwieg. Bilder waberten durch seinen Kopf. Bruchstücke. Lockige Haare, ein Armband aus Holzperlen und dazu dieses Lachen. Immer wieder dieses ekelhaft-penetrante Lachen. Eine Gänsehaut breitete sich über seinen Körper aus und ließ ihn schaudern.
„Herr Song ...", versuchte es der Kriminalbeamte erneut. „Wir haben schon mal darüber gesprochen, nicht wahr? Ihre Brieftasche, dass nur das Geld und Ihr Ausweis fehlten, die Hinweise auf das Vortäuschen eines Verbrechens, das nicht stattgefunden hat, um etwas anderes zu vertuschen. Wenn es irgendwas gibt, das-"
„Nein." Mingi sprang auf. „Wenn Sie die Ermittlungen nicht aufgeben wollen, dann ... nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich nicht weiter mit Ihnen zusammenarbeiten werde." Mingi stand auf, wollte gehen, aber Inspektor Park war schneller. Im Bruchteil einer Sekunde war er aufgesprungen und hatte den Tisch halb umrundet.
„Herr Song, bitte – warten Sie ...", begann er, streckte eine Hand nach ihm aus und als das auch nicht half, folgte – überraschend und ungewöhnlich – „Mingi ..."
Überrumpelt blieb Mingi stehen, wich sogar einen Schritt zurück, dann schüttelte er kaum sichtbar den Kopf.
„Ich bin nicht Ihr Freund ..."
Park Seonghwa wiegelte ab. „Nein, natürlich nicht. Ich ... Es tut mir leid, wirklich. Ich hätte nicht – so distanzlos sein dürfen. Es tut mir wirklich leid. Es geht hier nicht um Freundschaft. Es geht darum, dass ich auf Ihrer Seite bin. Ich bin auf Ihrer Seite, okay? Ich möchte helfen, aber ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mir helfen."
„Ich will damit nichts mehr zu tun haben."
Beinahe gleichzeitig streckten sie die Hand nach der Tür aus.
„Woran erinnern Sie sich?", fragte Park Seonghwa erneut, aber Mingi schüttelte stur den Kopf.
„Was, wenn es wieder passiert? Heute, morgen – wenn nächste Woche wieder ein junger Mann in diesem Büro sitzt?"
Da schnappte Mingi nach Luft und spürte, wie ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er presste die Kiefer aufeinander, knirschte mit den Zähnen, dann packte er entschlossen die Türklinke, riss die Tür auf und stürmte hinaus.
Blind irrte er durch die Straßen, bekam nichts mit von den Menschen, die ihm auswichen, von dem Straßenlärm, weil in seinem Kopf schmerzhafte Splitter durcheinanderwirbelten. Ein harter Griff um sein Handgelenk, ein Tritt in seine Kniekehlen, in seinen Rücken. Das Reißen von Stoff. Und immer wieder dieses aufdringliche Lachen. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, stolperte um die nächste Häuserecke und prallte gegen die raue Wand. Er riss sich die Handfläche auf, während er versuchte, sich abzufangen und landete am Ende doch auf Knien im Dreck.
Das magst du doch, hm? Das magst du doch.
Der Atem des Mannes stank nach kaltem Rauch.
Das magst du doch.
⊱ ─ ⋅♦⋅ ─ ⊰
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro