V. Wenn sich etwas anbahnt ...
Nächtliches Licht, reges Treiben. Dr. Anke Bor hinter dem Steuer eines Autos. Entschlossener Gesichtsausdruck, während die Lichter an ihr vorbeihuschten. Schwitzige Hände. Der Fuß auf dem Gaspedal. Das rote Licht der Ampel. Durchdrücken. Das andere Auto, welches gerammt wurde. Mein Vater - tot. Ich schüttelte den Kopf. Manchmal hasste ich mein Vorstellungsvermögen. Denn ich wollte das Gegenteil beweisen. Dass meine Ärztin nicht Thomas Vahling umgebracht hatte. Dass sie unschuldig war. Warum konnte mein Vorstellungsvermögen nicht manchmal auf das von Einzellern wie Chris schrumpfen?
Morgen würde ich ihr erneut einen Besuch abstatten und dann würden diese Vorstellungen endlich aufhören. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Als ich sie wieder öffnete, wäre ich beinahe in eine Person reingelaufen. Ich erschrak und atmete tief durch.
»Es sollte ein neues Buch geben. Nicht Hans guck in die Luft sondern Bianca guck in die Luft.« Xuan stand mit verschränkten Armen vor mir. Als hätte ein böser Geist sie hervorgerufen, um mir noch einmal unter die Nase reiben zu wollen, dass Chris mit so einem Menschen ausgehen wollte.
»Was?«, fragte ich verdattert und Xuan schenkte mir ihr überlegenes Lächeln. Sie hatte es immer dann parat, wenn sie wusste, dass sie gerade bewiesen hatte, intellektueller zu sein als eine andere Person.
»Ich bin für das Buch Fick dich ins Knie und nerv andere Leute nicht«, antwortete ich also.
Auf meine Antwort hin schnaubte Xuan nur auf.
»Wenn du jemals wirklich ein Buch gelesen hättest, dann wüsstest du, dass dieser Name viel zu lang für einen Buchtitel ist.«
»Wenn du jemals mit Menschen kommuniziert hättest, dann wüsstest du, dass das der Ausdruck von verpiss dich, niemand mag dich ist.«
Xuan warf ihre langen schwarzen Haare nach hinten und rauschte an mir vorbei. Auch ich machte mich wieder auf dem Weg zum Unterricht und zum Glück hatte mir dieses mehr-oder-weniger-Gespräch mit Xuan vorerst die Gedanken an Dr. Anke Bor aus dem Kopf gestrichen.
Allerdings dauerte der Zustand nicht lange an. Als ich mich zu Natalie in der Mittagspause an unseren üblichen Tisch setzte, hielt ich es nicht mehr aus.
»Mein Vater wurde umgebracht«, platzte ich heraus. Ein paar Köpfe drehten sich zu mir um. Ein paar sehr viele Köpfe. Hatte ich so laut geredet? Schnell lachte ich auf. »Nur'n Witz.«
»Was zum Fick? Bianca, was ...?« Natalie hatte die Augenbrauen zusammengezogen und schien in meinem Gesicht nach einem Hinweis auf Sarkasmus zu suchen. Als sie ihn nicht fand, lehnte sie sich zurück.
»Du meinst das also wirklich so. Jetzt mal ganz langsam. Warum ist dein Vater getötet worden? Wie kommst du darauf?«
Ich senkte die Stimme, damit nicht alle um uns herum unser Gespräch mitbekamen. »Ich hab dir nicht von dem ganzen Abend erzählt, an dem Chris und Barbie Ken da waren.«
»Seit da weißt du schon davon? Und du hast mir nichts erzählt? Kein Wunder, dass du dich die letzten Tage so seltsam verhalten hast! Dir hat die Heilung eines Beste-Freundinnen-Talks gefehlt!«
Ich lächelte halbherzig und erzählte ihr dann alles. Bis hin zu dem Verdacht, dass meine Ärztin etwas damit zu tun haben könnte. Sogar Natalie kannte Dr. Bor. Oft schon hatte sie mich bei meinen Arztbesuchen begleitet. Als Bonus war für sie jedes Mal eine kostenlose Tüte Gummibärchen herausgesprungen, die wir nach den Besuchen bekommen hatten. Tatsächlich aber nur dann, wenn wir zu zweit aufkreuzten. Wahrscheinlich, weil ich die Gummibärchen nie hatte essen wollen.
»Nein, ich will nicht daran glauben, dass Anke etwas damit zu tun haben soll.« Natalie schüttelte unablässig den Kopf und ihre roten Locken wippten hin und her.
»Ich auch nicht. Und deswegen will ich es beweisen, dass sie nichts damit zu tun hat.«
»Wir«, korrigierte sie mich. »Denkst du etwa, ich lasse dich damit allein? Keine Chance. Wir werden Ankes Unschuld beweisen und wir werden den wahren Mörder finden. Du hast mein Versprechen.«
Sie hielt mir ihren kleinen Finger für den Pinky-Schwur hin. Mein Herz wäre genau in diesem Moment geschmolzen, wenn es aus Schokolade oder etwas Ähnlichem bestanden hätte. Ich war Natalie dankbar dafür, dass sie mich auch ohne dass ich fragen musste unterstütze.
*
Zwanzig Uhr. Auf die Minute genau. Und ich hatte mich nicht einmal ansatzweise fertig gemacht. Doch als eine Nachricht von Natalie eintrudelte, dass sie jetzt auf dem Weg war, meldete sich mein schlechtes Gewissen. Natalie hatte sich so auf diese Party gefreut. Wenn ich es nicht für mich tat, dann für sie. Also erhob ich mich aus meinem Bett und fühlte mich so, als würden riesige Gewichte an meinem ganzen Körper verteilt hängen. Aber wenn sie mich bei der Suche nach dem Mörder meines Vaters unterstützte, dann würde ich es ja wohl schaffen, auf eine dämliche Home zu gehen. Um das richtige Mindsetting zu haben, schob ich jegliche Gedanken an meinen Vater in die hinterste Ecke meiner Gedanken und ließ sie mit dem Umdrehen des Hausschlüssels zu Hause.
Draußen erwartete mich das Gefühl von Gottes schlechter Laune. Sie musste schlecht sein, denn ich war mir sicher, dass ein Thermometer Minusgrade anzeigen würde. Ich steckte meine Hände tiefer in die Manteltaschen. Eigentlich sollte ich mich mies fühlen, dass mir Gottes schlechte Laune gefiel. Aber sie hinterließ ein klares Gefühl, welches meine Sinne wieder belebte.
So schlimm würde es schon nicht werden. Und wenn ich jetzt noch die Magie des Mundwinkel-nach-oben-Ziehens beherschen würde, hätte ich beinahe von einem schönen Abend sprechen können. Manchmal stellte ich es mir angenehm vor, mehr Gemeinsamkeiten mit C-3PO zu haben. Dann wären mein glückliches, wütendes und mein gelangweiltes Gesicht alles die gleichen. Außerdem könnte ich das fehlende Lächeln auf eine Störung in den Schaltkreisen schieben.
Vielleicht lag es daran, dass ich ein bisschen zu sehr getrödelt hatte, aber ich verpasste meine Bahn und das nicht einmal knapp.
Wen wunderte es? Immerhin war ich so pünktlich wie ein Bindestrich. Gar nicht.
Ich schlug noch einmal den Weg zu Gregory nach und machte mich auf den Weg zur S-Bahn. Über den Stadtplan, erkannte ich, dass Gregory in der selben Ecke wohnte, in der Chris als Kind auch gewohnt hatte. Über Schulgossip hatte ich mitbekommen, dass sein Vater eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hatte und Chris deswegen zu seinem Onkel Barbie-Ken gezogen war.
Ich stieg in die Bahn und stellte mich an meinen üblichen Platz ans Fenster. Von dort konnte ich immer Berlin beobachten, auch wenn es jetzt dunkel war. Doch die Straßenlaternen und sämtliche Lichter in den Schaufenstern der Läden erhellten die Stadt, weshalb man kaum von Dunkelheit sprechen konnte. Meine Gedanken schweiften ab zu der unglaublichen Lichtverschmutzung und dem gewaltigen Stromverbrauch und ...
»Hallo«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen. Chris.
»Hallo?«, sagte ich fragend, während ich mich resigniert umdrehte. Die restliche halbe Stunde der Bahnfahrt würde nicht so entspannt sein, wie erwartet.
»Was machst du hier?«, stöhnte ich auf, obwohl ich die Antwort schon wusste.
»Zu Gregory fahren, offensichtlich. Wir können ja zusammen fahren.«
»Klar. Als ob wir eine Wahl hätten«, murmelte ich leise. Doch Chris hatte es gehört und antwortete: »Man hat immer eine Wahl.«
Da ich das Gespräch als abgeschlossen ansah, drehte ich mich weg, steckte mir Kopfhörer in die Ohren und machte Musik an. Nach nicht einmal einem Song wurde ich von hinten angetippt. Ich drehte mich genervt um und nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. »Ist was?«
»Kann ich mithören?«, fragte er und deutete auf den Stöpsel in meiner Hand.
»Ach, ist dir sonst langweilig? Hast du diesmal kein Tintenfass da, um dich zu amüsieren? Das tut mir ja mal wirklich leid«, antwortete ich. Chris ignorierte meine Anspielung auf das zerstörte Arbeitsblatt.
»Ja - mir ist so langweilig. Hilf mir Obianca-Wan Kenobi. Du bist meine letzte Hoffnung.«
Widerwillens prustete ich los. »Obianca-Wan«, stieß ich hervor und lachte weiter. Allein, weil es gar nicht so lustig war und Leute komisch schauten, musste ich noch mehr lachen.
Chris schien sich über meinen spontanen Lachanfall zu amüsieren, denn ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich weiß, ich bin der Obi-Wahnsinn. Und? Kann ich mithören? Ich kann dir auch irgendwann mal Pizza kaufen oder so«, fragte er, als mein Lachen abgeebbt war. Ich verdrehte die Augen und hielt im den Stecker hin.
»Wehe, du kritisierst meine Musik.«
»Ich finde deinen Mangel an Glauben beklagenswert«, antwortete Chris, die Hände verteidigend erhoben. Dann nahm er den Stecker entgegen. Zwei Gedanken formten sich gleichzeitig in meinem Kopf.
Erstens: Warum musste Chris Fan von Star Wars sein? Das machte ihn ja fast sympathischer.
Zweitens: Heilige Mutter Maria im Himmel, bitte lass ihn keinen Ohrenschmalz an dem Stöpsel hinterlassen.
Gerade lief »Somewhere only we know« von Keane und ich blickte ihn verstohlen an. Ich war nicht unsicher, aber über Musik offenbarte sich immer ein Teil vom Charakter. Sowohl von meinem, als auch von seinem. Bis jetzt ließ er sich kein Missfallen an dem Song anmerken. Als Chris bemerkte, dass ich ihn beobachtete, lächelte er mich an und ich schaute mit hochrotem Kopf weg. Hatte jemand die Heizung hochgedreht? Mir war verdammt warm.
Als der nächste Song zu spielen begann, stupste Chris mich an.
»Ich hätte gar nicht gedacht, dass du gute Musik hörst. Passt irgendwie nicht zu dir.«
»Soll ich das jetzt als Kompliment nehmen oder was?«, fragte ich verwirrt.
»Nope. Es ist nur eine Feststellung. Ich hatte mich innerlich auf tausend Harry Styles Songs eingestellt.«
Entgegen meiner Erwartung begann Chris stumm mitzusingen.
»Yeah you got that something. I think you'll understand. When I say that somethin' - I want to hold your hand.«
Erst wollte ich ihn auslachen, aber irgendwie blieb ich dann bei einem ehrlichen Lächeln stehen, welches auch Chris ansteckte. Als sich der Refrain wiederholte, hielt er mir seine Hand hin und ich verdrehte die Augen.
»Ich würde aber lieber die Hand von Harry Styles halten.«
Gespielt beleidigt verschränkte er seine Arme und schaute mich an. Er hatte erstaunlich dichte Wimpern und einen Leberfleck über seiner rechten Augenbraue. Warum fiel mir das gerade auf? Dann schüttelte ich den Kopf und zu Chris erstaunlich sanftem Blick kam Verwirrung hinzu.
Ich schaute schnell weg. Mir sollten solche Details nicht auffallen. Also richtete ich meinen Blick nach draußen, weshalb mir eine bittere Tatsache auffiel. Der Bahnsteig, an dem wir gerade standen, war eine Station zu weit. Ich sprintete aus der Bahn und Chris folgte mir - mit dem Stöpsel blieb ihm auch nichts anderes übrig.
»Ficken, Rotzkacke mit verfaulten Eiern!«, fluchte ich und stopfte meine Kabelkopfhörer in die Tasche.
Beim zweiten Hinsehen fiel mir eine noch größere Überraschung auf. Es schneite. Kurzentschlossen entschieden wir uns dafür, zu laufen.
Ob das eine so schlaue Entscheidung war, wusste ich nicht genau. Denn natürlich konnte Chris eine Schneeballschlacht nicht auslassen. Manchmal erinnerte er mich an ein zu schnell in einen Erwachsenenkörper gestecktes Kind.
»Hey«, rief ich empört, als mich sein Schneeball an der Schulter traf, und formte selbst einen Ball. Das gefrorene Wasser berührte meine Finger, die sich sofort spürbar beschwerten. Ficken, ficken, ficken. Das war verflucht kalt. Ich warf und verfehlte.
»Bälle werfen ist auch nicht so deins«, lachte er mich aus und ich formte verärgert einen zweiten. Chris machte sich weiter über mich lustig, sich in Sicherheit wiegend. Von ihm provoziert, traf ich ihn mit voller Wucht. »Alter!«
»Tja, wer zuletzt lacht, lacht am besten«, rief ich grinsend, als er sich den Schnee von der Jacke wischte.
Er holte mich wieder ein, ließ es dabei nicht aus, ein wenig Schnee in meinen Nacken rieseln zu lassen und wir begannen tatsächlich ein normales Gespräch. Über Kunst und die Grundschule und über Maulkörbe von Hunden. Die Zeit verging wie im Flug.
Da wir beide Hunger hatten und man nie mit leeren Magen zu einer Party gehen sollte, hielten wir bei der nächsten Pommesbude an.
»Ketchup oder Mayo?«, fragte mich Chris. Ich zuckte mit den Schultern.
»Wie wäre es mit Schranke? Also beides?«, schlug ich vor.
Chris gab das an den Verkäufer weiter, welcher eine viel zu große Menge von beidem auf die Pommes gab und uns diese mit gelangweiltem Blick reichte.
»Hab'n se nen juten Feierabend«, verabschiedete er uns. Wir nickten und machten uns im Laufen über die heißen Pommes her. Die Kälte hatte mich ordentlich ausgekühlt und so war es, als würde ich glühende Kohlen essen. Dennoch begrüßte ich die Wärme, die sich in meinem Körper ausbreitete.
Als ich nach meinem Handy in meiner Manteltasche griff, um nach der Uhrzeit zu schauen, bemerkte ich nicht, dass ein kleiner Zettel aus ihr herausfiel.
Chris jedoch schien es aufgefallen zu sein und flink hob er ihn auf. Erst als er »Was ist das hier?« fragte, wandte ich ihm wieder meine Aufmerksamkeit zu.
»Was ist was?« Ich runzelte die Stirn, doch dann fiel mein Blick auf den Zettel. Ich nahm ihn ihm aus der Hand.
Als ich den Inhalt gelesen hatte, verstand ich, warum Chris mich so verwirrt angeschaut hatte.
»Lass die Finger von Morden. Es endet nur mit einem weiteren. Du willst nicht wirklich wissen, wer deinen Vater umgebracht hat«, stand dort in krakeliger Handschrift geschrieben. Ich runzelte die Stirn. Wie war das in meine Tasche gekommen?
»Das ...«, begann ich und brach dann ab. »Jemand muss mir den in der Bahn zugesteckt haben.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Chris. »Dein Vater ist doch bei einem Autounfall umgekommen, oder nicht?«
Ich schluckte und wägte meine Optionen ab. Dann fasste ich einen Entschluss. Ich hatte es eigentlich nicht geplant gehabt, Chris einzuweihen, aber dann dachte ich daran, dass er vielleicht sogar helfen könnte. Meine Hoffnung war, dass er es nicht als neue Angriffsfläche für Streiche sehen würde.
»Also ... ich bin ganz ehrlich. Einem Geständnis von einem Grab hätte ich nicht unbedingt sofort geglaubt. Es hätte von irgendwem sein können und nicht unbedingt an deinen Vater gerichtet«, sagte Chris. »Aber wenn jemand sich die Mühe macht, dir eine Warnung zuzuschieben, dann muss da was hinter sein.«
»Aber wie sollte der Mörder denn wissen, dass ich von dem Mord weiß? Ach ... und es ist nicht die gleiche Schrift. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Person ihre Schrift nicht ändern kann.«
Chris runzelte die Stirn.
»Hä? Warum sollte jemand, der deinen Vater nicht umgebracht hat, wollen, dass du nicht den Mörder suchst? Und warum weiß jemand anderes davon?«
Ich schwieg, weil wir beide die Antworten nicht wussten.
»Ach Schwesterherz, wie bist du nur da rein geraten?«, fragte mich Chris. Ich seufzte und wir gingen schweigend weiter.
Es waren zu viele Gedanken in meinem Kopf. Wie konnte es sein, dass weder Chris noch ich bemerkt hatten, wie jemand mir den Zettel zugesteckt hatte? Warum hatte die Person gewusst, dass ich in dieser Bahn sein würde? War es Zufall? Aber wohin wollte die Person, die auch in der Bahn gewesen war? Was wollte die Person bezwecken? Mich wirklich davon abbringen, den Mörder zu finden? Oder hatte der Zettel einen anderen Zweck? Sollte der Zettel womöglich das Gegenteil bewirken? Mein Interesse wecken? Ein weiterer Gedanke schlich sich in das Chaos. Was hatte Chris mit Schwesterherz gemeint?
Ich wischte den Gedanken daran zur Seite und atmete durch. Kühlen Kopf bewahren. Das sollte eigentlich angesichts der kalten Temperaturen nicht schwer fallen, aber trotzdem konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.
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