IV. Lügenpathie und Homöopathie
Obwohl ich eine nervige Touristin ignoriert und ihr nicht den Weg zum nächsten Supermarkt erklärt hatte, verpasste ich meinen Bus. Gereizt schaute ich auf die Anzeige, die mir sagte, dass ich noch zehn Minuten warten musste. Ein Blick auf Google Maps verriet mir, dass ich zu spät kommen würde. Zwar wusste ich, dass Doktor Anke Bor das von mir gewohnt war, was es allerdings nicht besser machte. Ich konnte nun mal nichts dafür, dass die Arztpraxis so ungünstig zu erreichen war. Als ich meinen Blick wieder vom Handy hob, fiel mir eine weitere Person ins Auge, die mit mir auf den Bus zu warten schien. Ich hatte allerdings nicht vor, mit diesem Einzeller zu sprechen. Deswegen tat ich so, als hätte ich Chris übersehen, der mir ein schiefes Lächeln zur Begrüßung zuwarf und senkte mein Blick wieder auf das Handy.
Natalie fragte mich zum dritten Mal heute, ob ich wirklich nicht mit zu der Home von Gregory kommen wollte. Aber erstens kannte ich Gregory nicht wirklich und zweitens bedeutete »Home« so viel wie »niveauloser Vollabsturz mit Alkohol«. Ich wusste auch nicht, warum Natalie da so unbedingt hin wollte. Ich tippte gerade eifrig eine Antwort, weshalb meine Finger nur so über die Tastatur flogen, als mich eine Stimme aus den Gedanken riss.
»Hey, Nicht-Mehr-Spargel.«
»Sehr witzig. Da war jemand aber kreativ«, antwortete ich und drehte mich demonstrativ ein bisschen von ihm weg. Trotzdem schoss mir das Blut in die Wangen und ich flehte, dass ich nicht so rot war, wie es sich anfühlte. Irgendwie war es komisch, dass er mich nicht mehr als Spargel bezeichnete. Denn es gab mir das Gefühl, als hätte sich die Dynamik der beidseitigen Ablehnung verändert.
»Und, wie geht's dir so?«, fragte Chris und ich zog die Augenbrauen hoch.
»Sind wir jetzt schon von Zu-niveauloses-Gespräch-für-Smalltalk zu Smalltalk gekommen?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf und sagte dann: »Weshalb ich eigentlich wertvolle Muskelkraft für die Schritte zu dir verschwendet habe: Ich wollte dich fragen, ob du dich immer noch zu cool fürs Feiern fühlst, oder zu Gregorys Home gehst?«
»Mit dir? Niemals«, entgegnete ich und ließ vor Entsetzen beinahe mein allerliebstes Handy fallen.
»Hab ja auch nicht gesagt, dass ich mit dir hingehen will. Ich gehe mit Xuan. Ich frag nur interessehalber.«
»Schön.«
Xuan? Was wollte Chris denn von Xuan? Xuan konnte ich ebensowenig leiden wie Chris. Vielleicht sogar noch weniger. Das lag weniger daran, dass Xuan sich so sehr bei Lehrern einschleimte, dass man meinen könnte, sie würde auf ihrer Schleimspur ausrutschen. Es lag daran, dass Xuan und ich früher befreundet gewesen waren und sie mit ihrem Leben in eine 180 Grad Wende gebrettert war und jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen hatte.
Gleichzeitig fand ich die Vorstellung unangenehm, dass Chris mit Xuan zusammen hingehen würde. Denn Xuan war schön. Richtig schön. Ich war schon immer neidisch auf ihre hohen Wangenknochen und die asiatischen Augen. Außerdem war sie intelligent. Eigentlich sollte ich mich eher fragen, was Xuan mit so einer Intelligenzbestie wie Chris zu tun haben wollte.
»Um auf deine Frage zurückzukommen«, antwortete ich gedehnt, »natürlich werde ich kommen. Ich geh mit Lawrence.«
Lüge, Lüge, Lüge. Chris musste ja nicht wissen, dass ich nicht vorhatte zu kommen und vor allem nicht mit meinem Ex Lawrence. Dennoch - die Sätze waren mir viel zu leicht über die Lippen gekommen. Ich entschied mich, sie vielleicht in eine Halbwahrheit umzuformen.
Als der Bus endlich kam, setzte ich mich auf den Platz am weitesten von Chris entfernt. Dann zog ich mein Handy hervor, um Lawrences Nummer zu öffnen. Ich hatte ihn nie aus meinen Kontakten gelöscht, weil ich nie das Bedürfnis dazu gehabt hatte. Rückblickend würde ich nicht mal davon sprechen, ich sei auch nur ansatzweise verliebt gewesen.
Ich: »Hey, Lawrence, hier ist Bianca. Ich red nicht lange herum: ich kann dir Zutritt zu Gregorys Home verschaffen. Du musst nur, falls Chris dich fragt, sagen, dass du mit mir da bist, ja?«
Ich ließ meine Stirn gegen die Scheibe sinken und schaute dem regen Treiben draußen zu. Die Ampeln, die Shops, die Dönerbuden.
Mein Handy vibrierte.
Lawrence: »Cool, nett von dir. Du hast dich daran erinnert ;) Vielleicht kann ich es ja irgendwann gut machen.«
Ich lächelte mitleidend. Ja, ich habe mich daran erinnert, dass er nie zu Homes eingeladen wurde. Ich hatte ihm mein Versprechen gegeben, ihn irgendwann mitzunehmen, aber bevor ich es einlösen konnte, hatte ich Schluss gemacht. Es hatte zwischen uns einfach nicht wirklich gepasst. Allerdings hatte ich meine Nachricht sehr unmissverständlich formuliert, weshalb er sich hoffentlich keine neuen Hoffnungen machte. Das Gute an der Sache war, dass er mir jetzt etwas schuldig war. Und Menschen mit guten Informatikkenntnissen konnte man immer gebrauchen. In dem Moment konnte ich noch nicht ahnen, wie bald ich darauf zurückkommen würde.
*
»Es tut mir so unendlich leid, Dr. Bor!«, rief ich zum vierten Mal. Meine Ärztin nickte nur verständnisvoll.
»Liebes, alles gut. Jeder kommt mal zu spät. Na, halten wir uns nicht weiter mit Entschuldigungen auf, sondern fangen an.«
Ich atmete durch und setzte mich auf die Patientenliege. Sie begann mit ihrer üblichen Untersuchung, in der sie mir Blut abnahm, um meine Blutwerte zu überprüfen. Dr. Bor hat mir schon öfter zugegrinst und gesagt, dass sie dies eigentlich nicht machen müsste. Aber da es sowieso die Krankenkasse zahlte, schadete einmal mehr auch nicht. Und tatsächlich konnte sie so schnell reagieren, wenn etwas mit meinen Werten nicht in Ordnung war. Die Eisentabletten nahm ich meistens während meiner Periode ein. Aber auch andere Vitaminergänzungsmittel stabilisierten mein Immunsystem, was mich wiederum weniger anfällig für Krankheiten machte. Ich müsste nicht noch mehr ertragen, als ich es sowieso schon tat, meinte Dr. Bor immer. Mit so vielen Allergien zu leben, sei nicht leicht.
»Ach, diese Pünktlichkeit erinnert mich an deinen Vater«, seufzte Dr. Bor. »Er entschuldigte sich auch ständig, wenn er zu spät kam.«
Ich lächelte gequält. Normalerweise genoss ich es, wenn Dr. Bor von ihm erzählte, aber heute nicht. Mein Vater und sie hatten früher zusammen im gleichen Krankenhaus gearbeitet. Dr. Bor hatte mich meine ganze Kindheit hindurch begleitet, da sie mit seltenen Ausnahmen immer diejenige war, die mich behandelte.
»Thomas Vahling, sagte ich immer. Erinnern Sie mich nicht immer daran, dass ich Sie eigentlich aufschreiben müsste. Wenn Sie mir sagen, dass Sie zu spät sind, dann kann ich nicht so einfach darüber hinwegsehen.« Dr. Bor verlor sich in ihren Erzählungen, während sie mit einem Gerät meine Akupunkturpunkte entlangfuhr. Ohne meinen Körper jedoch zu berühren. Sie hatte so ein Gerät, welches über Laserlicht irgendwas gegen die Allergien tat. Ich war mir nicht sicher, wie sehr wir uns im Bereich der Allopathie oder der Homöopathie befanden. Oder sogar jenseits der Homöopathie. Allerdings musste ich zugeben, dass ihre Methode gegen die Allergien definitiv wirkte. Mir wäre es sogar egal gewesen, wenn sie einen Kerzenkreis um mich herum gelegt hätte und mit einem Singsang darum herum gesprungen wäre.
Obwohl ... nein. Dann hätte ich mich vermutlich gefragt, wer von uns beiden die Behandlung hier dringender nötig hätte.
»Bianca? Du musst schon mitmachen«, holte mich Dr. Bors Stimme aus meinen Gedanken. Da ich es schon so oft getan hatte, stemmte ich automatisch erst mein eines Bein gegen Dr. Bors Druck nach oben und anschließend das andere Bein.
»Du weißt ja. Das ist ein gutes Zeichen. Die Allergien schwächen dich«, sie deutete auf die Plastiktüte auf meinem Bauch, welche mit einigen Hundehaaren gefüllt war, »und wenn du es schaffst, dich gegen meinen Druck zu bewegen, dann war ich erfolgreich.«
Nach ein paar weiteren Durchgängen waren wir fertig und endlich konnte ich mich wieder auf den Weg nach Hause machen. Denn einige Gedanken beschäftigten mich. Natürlich konnte ich nicht gleich jede Person, die meinen Vater früher gekannt hatte, verdächtigen, aber was, wenn meine Ärztin Dr. Anke Bor diese Person war, welche den Brief an das Grab meines Vaters gelegt hatte? Was, wenn Dr. Bor meinen Vater vor acht Jahren getötet hatte? Allerdings dachte ich an die vielen Stunden, die wir schon zusammen verbracht hatten, und wie sehr sie mich aufgeheitert hatte, als mein Vater gestorben war. Sie war wie eine Tante für mich geworden.
Dennoch formte sich in meinem Kopf ein Plan. Es gab eine Möglichkeit, Dr. Bor als Täterin auszuschließen. Ich müsste dafür nur ihre Schrift mit der von dem Brief abgleichen.
Warum war ich darauf nicht früher gekommen? Ich hätte gerade eben in der Praxis auf irgendeines der Dokumente schauen können. Der nächste Termin war erst nächste Woche, da die Heuschnupfenzeit jetzt begonnen hatte. Sonst sahen Dr. Bor und ich uns sogar nur monatlich. Normalerweise war ich froh, dass diese Verabredungen nicht noch enger getaktet waren, so sehr ich Dr. Bor auch mochte. Aber jetzt wünschte ich mir, dass ich gleich schon morgen ihrer Praxis einen weiteren Besuch abstatten könnte.
***
Wie er diese Schriften hasste. Torben Müller knüllte frustriert das Blatt zusammen und warf es in eine Ecke des Zimmers. Es war die monatliche Erinnerung an den Tiefpunkt seines Lebens. Als könnte er das jemals vergessen. Er seufzte auf und begab sich in die Küche, um das Essen für seine beiden Frauen vorzubereiten. Seine Frau Kirsten musste noch arbeiten, aber durch seine Arbeit als Journalist konnte er auch viel von zu Hause aus machen. Das hatte ihm früher wiederum die Möglichkeit gegeben, seine Tochter Tamara bei den Hausaufgaben zu unterstützen und jetzt konnte er den Haushalt schmeißen, was Kirsten enorm entlastete. Er war okay damit, denn er liebte seine Frau. Deswegen schlüpfte er auch gerne in die Rolle des modernen Mannes: Die Rolle des Hausmannes. Er grinste, als er sich daran erinnerte, wie Kirsten ihm gleich fünfmal erklären musste, wie man Wäsche wusch. Oder bügelte. Oder Hemden korrekt zusammenlegte.
Doch nicht nur den Haushalt schmiss er, sondern auch um die Finanzen kümmerte sich Torben. Das gab ihm zum Glück einigen Freiraum, weshalb es seiner Frau nicht auffiel, dass jeden Monat eine Zahlung an eine private Kontonummer ging.
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