[23] XXIII. Explosive Wahrheit
»Mörder nach acht Jahren gefasst.«
Die Headline der Zeitung sprang mir sofort ins Auge, als ich an dem Zeitungsstand vorbeiging. Die Medien berichteten alle dasselbe. Der Polizei sei ein Hinweis anonym per Brief zugeschickt worden, welcher das Handy des ermordeten Lehrers Arnd Krempe enthalten habe. Von dem Mörder des Lehrers fehlte jede Spur. Ein Video auf dem Handy wiederum zeigte den Mord an Thomas Vahling. Der Verhaftete hatte unter einem Nervenzusammenbruch gestanden. Die Metadaten des Videos deuteten allerdings darauf hin, dass das Video nicht von Arnd Krempes Handy aus gefilmt worden war. Das warf viele Fragen auf. Warum wurde das Geschehen gefilmt? Wer hatte es gefilmt? Wie hatte Herr Krempe das in die Finger bekommen? War dieses Video ein Mordmotiv für Johann Lange gewesen auch Herrn Krempe umzubringen?
Ich schüttelte den Kopf. Dass Chris' Vater auch Herrn Krempe umgebracht haben sollte, schien mir nicht logisch. Ich wusste, dass der Angreifer viel zu schlank und wendig gewesen war, als dass es sich wirklich um einen fünfzig jährigen Vater hätte handeln können. Das wäre so, als würde man einem fünfzig Zentimeter großem Winzling vorwerfen, die Kekse aus der obersten Schublade geklaut zu haben. Klar könnte man darüber nachdenken, auf welche Art und Weise und mit welchem schlauen Trick das Kind es geschafft haben könnte, oder man zog den logischeren Schluss: Es war jemand anderes gewesen. Jemand anderes hatte den Mord gefilmt und jemand anderes hatte Herrn Krempe getötet. Aber wer? War es dieselbe Person? Hatten sie etwas damit zu tun?
Ich eilte weiter zur Schule. Die Fragen in meinem Kopf fühlten sich wie Gewichte an und ich wünschte, man könnte die Gedanken für einen Moment ausschalten. Mein Versuch scheiterte an der Überlegung, ob der Ausschalter eher am rechten oder am linken Ohr sein würde.
Wie würde es Chris gehen? Kam er heute überhaupt zur Schule? Gestern hatte er sich nicht bei mir gemeldet und ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Hatten ihn überhaupt die Nachrichten schon erreicht? Wusste er, dass sein Vater ein Mörder war?
Als ich wenig später Chris mit hängenden Schultern in den Schulfluren traf, beantwortete allein sein zusammengefallener Gesichtsausdruck meine Frage. Natürlich wusste er schon Bescheid. Ich legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Chris hob den Kopf. »Wie soll es mir schon gehen? Mein Vater hat jemanden umgebracht, Bianca. Nicht nur jemanden, sondern deinen Vater. Beschissener könnte es mir gar nicht gehen.«
»Es ist doch nicht deine Schuld«, versuchte ich ihn zu trösten, doch hatte das Gefühl, nicht zu ihm durchdringen zu können. Chris ging einfach weiter den Gang entlang. Ich schloss die Augen und drehte mich weg. Irgendwie wollte ich ihn trösten, aber wusste nicht wie. Menschliche Gefühle verglich ich ungern mit Mathe, allerdings hatten diese Emotionen gerade eine Gemeinsamkeit mit Formeln: Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, um das Problem zu lösen.
Nach der Schule saßen wir auf unserem Stammspielplatz, Natalie und ich auf einer Schaukel, die anderen im Sand vor uns. Ali drehte sich eine Zigarette, während wir anderen schweigend zusahen. Mehr oder weniger interessiert. Dann fragte er nach Feuer.
Chris holte langsam seines heraus, und Ali klopfte ihm auf die Schulter.
»Danke, Bro.« Dann verzog er gequält das Gesicht. »Ich hät' alles getan, um Biancas Mom aus dem Knast zu holen, aber das mit deinem Dad habe ich nicht gewollt.«
»Wie ist die Polizei überhaupt darauf gekommen?«, fragte der sonst eher schweigsamere Finn und warf dann einen abfälligen Blick auf Alis Zigarette. Bevor ich antworten konnte, hob Chris den Blick von seinen Schuhen.
»Xuan. Sie hat es irgendwie herausbekommen.«
»Xuan?« Die Verwirrung stand mir ins Gesicht geschrieben.
»Sie hat es mir schon in der Garage gesagt«, begann Chris. »Ich wollte es nicht glauben und habe meinen Vater besucht. Er sah ... so einsam aus und er war so froh mich zu sehen ...« Seine Stimme brach ab und er räusperte sich verlegen.
»Er hat mir alles erzählt ... Thomas soll meine Mutter umgebracht haben und Dad hat der anonymen Nachricht geglaubt. Sie haben sich gestritten. Mein Vater, er klang so zerbrechlich ... und dann kam die Polizei. Hat ihn vor meinen Augen verhaftet. Bevor ich die Zeit hatte, mit ihm wirklich über irgendwas zu reden.«
Chris hatte es also sogar schon viel früher gewusst als ich? Warum hat er nichts gesagt? Dachte er, wir hätten ihn dafür verurteilt?
»Chris.« Ich kam von der Schaukel direkt neben ihn auf den sandigen Boden. »Xuan hat der Polizei aber nicht Bescheid gesagt.«
»Muss sie aber. Ich war es nämlich nicht.«
»Ich war es«, gestand ich leise. Natalie stand verwundert von ihrer Schaukel auf und ließ sich neben mich fallen. Wedelte dann demonstrativ den Rauch der Zigarette weg und warf Ali einen bösen Blick zu.
»Sorry, Jungs«, entschuldigte sich Ali, machte aber keine Anstalten, die Zigarette abzulegen.
Chris schaute mich verwirrt an und ignorierte Alis Kommentar. »Woher hättest du denn davon wissen können?«
»Herr Krempes Handy. Ich hab es angeschaut, die Fotos und dann ... ein Video aufgenommen am Todestag meines Vaters.«
Stille senkte sich über unsere Gruppe und das Lachen der Kinder schien weit in der Ferne. Ich begegnete Chris' Blick, konnte ihn aber nicht einordnen.
»Es war eigentlich friedlich gewesen, unsere Eltern haben viel getrunken und ... dann haben sie gestritten, ich hab nur verstanden, dass mein Vater sie umgebracht haben soll und dann sind sie handgreiflich geworden. Es war schrecklich. Jemand Drittes hat es gefilmt. Und die Polizei sagt, es war nicht Herr Krempe. Aber wer war es dann?«
Chris stand abrupt auf und klopfte sich die Hose ab.
»Ernsthaft? Das sind jetzt deine Gedanken? Wer die dritte Person war?«
Auch Ali erhob sich.
»Alter, entspann dich, es ist doch eine logische Frage.« Er hielt Chris seine Zigarette hin. »Hier, das hilft bei mir immer.«
»Alter, nichts Alter.«
Als Chris sich umdrehte, lief ich ihm hinterher. Ich war den anderen fast dankbar, dass sie nicht auch noch hinterherrannten, denn wir wussten alle, dass es eine Sache zwischen ihm und mir, seinem Vater und meinem Vater, war.
»Chris!«, rief ich. »Was ist los?«
»Was soll wohl los sein?«, blaffte Chris. »Mein Vater wurde verhaftet wegen einem Mord!«
»Aber er war betrunken! Zählt das nicht irgendwas? Außerdem wäre meine Mutter sonst weiterhin im Gefängnis.«
»Schön für dich.«
Empört schaute ich Chris an. »Sie hätte gar nicht ins Gefängnis gemusst, wenn dein Vater viel früher seinen gesunden Menschenverstand benutzt hätte! Die Frau des besten Freundes lässt man nicht im Gefängnis für seine Taten sitzen!«
»Und was hätte mein Vater sonst tun sollen?«, fuhr Chris mich an und blieb stehen. »Die Schuldgefühle haben ihn schon genug zerfressen!«
»Besser so! Er hat ja auch meinen Vater umgebracht! Spiel dich nicht so auf Chris, immerhin hast du noch einen Vater.« Auch ich wurde etwas lauter.
»Ich hatte einen Vater, bis du, OHNE uns zu fragen, dieses beschissene Handy geschickt hast!«
»Ach, und hätte ich es nicht schicken sollen oder was?«, fragte ich spöttisch. »Ich hätte einfach das Beweismittel, das den Mord meines Vaters und die Unschuld meiner Mutter zeigt, Zuhause lassen sollen? Am Ende hättest du mich noch darum gebeten, es zu zerstören!«
»Es ist mein Vater, Bianca, und nicht nur du liebst deinen Vater!«
»Dein Vater ist ein Mörder, Chris, wach auf!«
»Mein Vater ist ein Mensch, der es nicht so gemeint hat!«
»Der es nicht so gemeint hat«, äffte ich ihn nach. «Sag mal, spinnst du? Das klingt, als hätte er aus Versehen mal einen unangebrachten verletzenden Witz von sich gegeben.«
»Was würdest du tun, allwissende Bianca?« Chris' Stimme klang schockierend ernst. Ich zog die Augenbraue hoch. Was meinte er?
»Wenn dein Vater meinen umgebracht hätte. Würdest du nicht trotzdem deinen Vater verteidigen?«, fragte er am Ende seiner Nerven.
»Glücklicherweise ist das ja nicht passiert«, wich ich geschickt seiner Frage aus. »Denn mein Vater hätte deinen nie im Leben umgebracht.«
»Bist du dir da so sicher?« Chris verächtlicher Blick verletzte mich. »War es nicht Zufall, wer gestorben ist? Haben nicht beide aufeinander eingeschlagen? Haben sich nicht beide gestritten?«
Es war, als würde sich ein kalter Griff um mein Herz schließen. Wie konnte er so etwas sagen? Sein Vater war ein Mörder. Mein Vater war tot. Wo war seine Empathie? Wie konnte er so etwas sagen? Wie konnte das dieselbe Person sein, die in den letzten Wochen fürsorglich mir gegenüber geworden war und mit der ich gelacht und die ich geküsst hatte?
»Du behauptest gerade ernsthaft, dass er unschuldig ist?«, entfuhr es mir ungläubig.
»Pass auf bei deiner Wortwahl. Ich sage, dass er nicht die alleinige Schuld hat. Und dass ich ihn trotzdem liebe, weil er mein Vater ist und weil ich weiß, dass er das nicht gewollt hat. Es war so viel für ihn. Meine Mutter war gestorben ... und diese Nachricht hat ihn an dem zweifeln lassen, was ihn am meisten gehalten hat. Deinen Vater. Er hat es nicht gewollt, das weiß ich.«
Ich wandte meinen Blick ab, weil mir die Tränen kamen.
»Weißt du nicht, wie viel ich verloren habe, als mein Vater gestorben ist?« Ich schaute ihn durch den Tränenvorhang vor meinen Augen an. »Eine richtige Familie. Meine Mutter war nie die gleiche. Sie hat ihn geliebt.«
Ich wische mir hastig mit der Hand über die Augen. »Ich erinnere mich an die Abende, an denen ich stark bleiben musste, weil meine Mutter es nicht mehr war. Sie ... Sie brauchte mich und ich habe sie gehalten. Jede Nacht haben wir uns zusammen in den Schlaf geweint. Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn so schmerzhaft schnell und ohne Abschied ein Teil von dir herausgerissen wird?«
Chris hatte Tränen in den Augen und seine Unterlippe zitterte.
»Meinst du, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren? Als meine Mutter gestorben ist ... wir hatten die letzten Stunden an ihrem Bett im Krankenhaus, bevor wir rausgeschickt worden sind. Danach war mein Vater ein gebrochener Mann. Und ich hatte nicht einmal die Chance, für ihn da zu sein, weil er seine Liebe für mich weggesperrt hat und all seine Wut an mir ausgelassen hat! Du hattest deine Mutter und ich ... ich hatte niemanden!«
Eine Träne lief über meine Wange.
»Ich hatte nur Heiner. Und jetzt, jetzt war mein Vater wieder da. Ich konnte mit ihm reden und er war für mich da. Du weißt nicht, wie sehr ich einen Vater vermisst habe. Ich wollte ihn wenigstens länger haben, als nur für erbärmliche fünf Minuten.«
Ich schwieg. Mein Herz schlug mir bist zum Hals und ich weinte stumm. Unfähig irgendwas zu machen. Sein Vater war ein Mörder. Er war ein Mörder.
Sein Vater war ein Mensch, ein liebender Mensch.
War er das? Wenn er jemand anderen töten konnte? Wenn er Chris geschlagen hatte, zu der Zeit, zu der Chris womöglich wenigstens sein anders Elternteil gebraucht hätte?
Ich sah dabei zu, wie Chris sich umdrehte und in Richtung der Busstation lief. Weder meine Beine, noch meine Stimme hörten auf mich. Die Zerrissenheit lähmte mich. Was sollte ich tun? Keine Zweifel - Chris liebte seinen Vater. Aber ich hatte meinen geliebt.
Die Tränen liefen über meine Wangen, ich legte fröstelnd meine Arme um den Körper. Was war nur passiert? Mit Chris und mir ... wie konnte ein kurzer Augenblick unser ganzes Leben verändern? Warum musste das Schicksal nur so bescheuert sein?
Ich bemerkte es fast gar nicht, als Natalie mich in die Arme nahm. Wahrscheinlich hatten meine Freunde jedes Wort von Chris und meinem Streit mitgehört. Mir war es egal.
Natalies Jacke wurde nass, während ich mir in meinem Kopf die ganze Zeit vorstellte, wie es wäre, wenn ich nur einmal die Zeit anhalten könnte, zu einem Zeitpunkt, an dem Chris und ich ohne Beschwerden hätten zusammen sein können. Aber es war unmöglich. Und genauso wenig konnte ich den Film zum Ende vorspulen. Falls es enden würde. Falls es überhaupt ein gutes Ende gab.
Ich saß in meinem Leben fest. Ich konnte es nicht ändern und ... ich spürte, dass jede Änderung, die diesen Moment verhindert hätte, so viel mehr mit sich gebracht hätte. Ich wusste, dass auch die schönen Momente irgendwann zu diesem geführt hatten. Meine Vergangenheit war nicht das Problem, die Gegenwart war das, was mich zum Zerbrechen brachte. Was mich dazu brachte, dass der Damm an Tränen, die sich angestaut hatten, brach. Und ich hatte das Gefühl, dass es erst der Anfang von den Tränen war, die ich noch weinen würde.
»Leute«, riss mich eine Stimme hinter uns aus meinen Gedanken. Schnell wischte ich mir die Tränen und vermutlich meine halbe Schminke ab und blickte auf.
»Tamara?«, fragte ich und diese kam auf unsere Gruppe zu. Auch Finn und Ali waren uns gefolgt, allerdings hatten sie sich nicht der Umarmung angeschlossen, wofür ich ihnen dankbar war.
»Habt ihr Xuan gesehen?« Tamara klang besorgt. »Bitte, ich ... ich kann sie seit gestern nicht mehr erreichen und ich habe Angst, dass ihr etwas zugestoßen ist. Bei ihr Zuhause habe ich auch schon geschaut und niemand weiß etwas.«
»Heute habe ich Xuan nicht gesehen«, antwortete Natalie wahrheitsgemäß. Ich war ihr dankbar, dass sie sprach, denn meine Stimme war vom Schreien heiser und vom Weinen belegt.
»Heute? Aber gestern?« Sie blickte uns flehend an. Ich wechselte mit den anderen einen Blick.
»Jo, Tamara, hör zu«, begann Ali und drückte seine Zigarette aus. »Die Jungs und ich waren gestern so mal bei so einer Garage, übel wild, und Xuan war halt auch da. Und dann ist sie irgendwann geleaved.«
»Mehr oder weniger«, murmelte Natalie.
»Und wohin ist sie gegangen? Hat sie irgendwas gesagt? Irgendwelche Ideen von euch, wo sie sein könnte?«
Ich atmete beherrscht ein und sagte dann mit belegter Stimme: »Wir wissen nicht, wo sie ist, wir würden es gerne wissen, aber Xuan ist leider nicht das einzige Problem in unserem Leben, also geh' den Mülleimer nerven. Ich kann nichts dafür, dass sie sich entschieden hat, so dumm zu sein und sich entführen zu lassen.« Der letzte Teil rutschte mir raus und die Worte waren gröber, als ich es gewollt hatte.
»Entführt? Meinst du das ernst? Das ist übel, das ist sehr übel.«
Wir schwiegen bedrückt.
»Und ihr habt noch nicht darüber nachgedacht, sie zu suchen? Sie als vermisst zu melden? Und warum wurde sie überhaupt entführt, was ist denn das für ein Schwachsinn?«
Ali lachte laut los und klopfte mir auf die Schulter. »Bianca hat einen Joke gemacht. Bruder, die kann man echt nicht ernst nehmen.«
Ich lächelte steif und nickte. »Guter Witz, oder? Ich muss nach Hause.«
Mit diesen Worten drehte ich mich auf dem Absatz um und ging zur Bushaltestelle. Tamara schaute mir verwirrt hinterher und ich spürte, dass sie sich sorgen machte und dass sie uns kein Wörtchen glaubte. Ich war mir sicher, dass sie verstand, dass Xuan wirklich entführt worden war. Aber es kam mir im Moment unwichtig vor. Als der Bus dann kam, war ich sehr froh darüber, dass Chris schon den davor erwischt hatte und ich so alleine für mich meine Stirn an die Fensterscheibe lehnen konnte. Was für ein abgedrehter Tag. Was für eine verfickte Scheiße, die sich das kostbare Leben nannte.
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