[20] XX. Garage und Sabortage
Mein Herz setzte einen Schlag aus und wir wirbelten herum.
»Nicht anfassen, ihr Anfänger«, warnte uns das schwarzhaarige Mädchen im Türraum, welches uns spöttisch betrachtete.
»Xuan?«, fragte ich verblüfft. »Was machst du hier?«
»Das gleiche Ziel verfolgen wie ihr«, sagte sie herablassend und trat über die Schwelle.
»Wie lange schaust du uns schon zu? Wie lange verfolgst du uns schon?«, wollte ich wissen. Sie zuckte bloß mit den Schultern.
»Ich verfolge euch tatsächlich nicht, ob ihr es glauben wollt, oder nicht. Obwohl es vielleicht sogar von Vorteil gewesen wäre, ihr seid offensichtlich schlauer, als ihr ausseht.«
Ich war noch dabei, mich zu entscheiden, ob ich diesen Kommentar als Kompliment oder als Beleidigung auffassen wollte, als Chris meine Gedanken unterbrach.
»Xuan, was ist dein Plan?« Er war sichtlich verwirrt. »Wolltest du heute nicht mit Tamara zusammen lernen?«
»Jede hat so ihre Geheimnisse«, entgegnete sie und schob sich an mir vorbei, um einen besseren Blick auf die Videos zu bekommen. »Ich bin überrascht, dass ihr den Code herausgefunden habt.«
»Xuan, was machst du hier?«, bohrte Chris mit Nachdruck nach. Sie drehte sich um, betrachtete uns stumm einen kurzen Augenblick, ehe sie antwortete: »Nachforschen.«
»Nachforschen?«, wiederholte ich skeptisch. Doch dann fiel mir etwas ein. Nachforschen. Eine Szene aus meiner Erinnerung zuckte vor meiner inneren Leinwand auf. Wie sie das Papier auf meinem Schreibtisch offensichtlich gelesen hatte. Den Brief, das Geständnis. Wie sie nicht noch einmal nachgefragt hatte, was genau es bedeutete.
»Warte mal!«, rief ich. »Hast du etwa auch nachgeforscht, als du mir die Hausaufgaben vorbeigebracht hast?«
Sie antwortete nicht, ihren Blick wieder starr auf die Videos gerichtet.
»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie.
»Hallo? Xuan, Teuerste, du kannst hier nicht reinspazieren und so tun, als wäre das, was du hier abziehst, nicht äußerst komisch.«
»Nein?«, fragte Xuan und zog eine Augenbraue hoch. »Die Tür stand doch offen.«
»Xuan, sag uns doch einfach, weshalb du hier bist«, seufzte Chris genervt. Xuan zuckte mit den Schultern und zum ersten Mal war ich dankbar, dass Chris und sie befreundet waren.
»Aus dem gleichen Grund wie ihr, denke ich. Wegen dem Mord an Biancas Vater.«
»Wie?«, kam es über meine Lippen. »Warum das denn? Was hast du denn damit am Hut?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, hakte ich skeptisch nach.
Xuan schüttelte den Kopf. »Es wäre viel zu kompliziert, um es zu erklären.«
»Ach ja? Ist es das?«, fragte ich mit einem provozierenden Unterton. »Try me. Immerhin ist es mein Vater, um den es geht und-«
Xuan hielt mir plötzlich den Mund zu. Ich wollte gerade empört etwas von mir geben, als ich es auch hörte. Schritte auf dem Kiesweg vor der Garage. Ich verstand und meine Augen wurden groß. Xuan senkte die Hand und schlich zur Tür. Drückte sich flach an die Wand, während wir hinter den Gerätschaften im Raum versuchten, Schutz zu finden. Chris zog mich mit sich unter den Tisch am Rand des Raumes. Mein Herz pochte so verrückt, dass ich Angst hatte, es würde uns verraten. Chris' plötzliche Nähe machte es nicht besser.
Xuan spähte vorsichtig raus in die Garage. Ruckartig zog sie den Kopf zurück und hockte sich hinter einen kleinen Beistelltisch. Die Schritte kamen näher. Durch den Kies vor der Garage knirschten sie besonders laut. Plötzlich stoppten sie. Genau vor der Garage. Ich erschauderte, als ich daran dachte, dass das Garagentor noch offen stand und wir wem auch immer schutzlos ausgeliefert waren. Vielleicht würde man uns nicht bemerken. Obwohl die Chancen schlecht standen.
Jetzt ertönte das hallende Geräuch von Schritten auf Beton in einem überdachten Raum. Mein Ausblick verriet mir, dass jemand in der leeren Garage stehen geblieben war. Weiße Adidas-Sneaker konnte ich erkennen, daraus aber leider keine Schlüsse ziehen. Es gab viel zu viele Menschen, die solche Schuhe trugen. Ich wagte es nicht, unter dem Tisch hervorzulugen, um das Gesicht zu erkennen.
Wenn man uns entdecken würde, hätte ich noch genügend Zeit die Person zu sehen, aber so hoffte ich, dass wir aus irgendeinem Grund unbemerkt bleiben würden.
Als hätte man meine Gedanken erhört, drehte sich die Person um und die Sneaker verließen mein Blickfeld. Ein lautes Quietschen und ein darauffolgender lauter Knall verrieten mir, dass jemand die Garage geschlossen hatte. War es vielleicht doch nur irgendein Parkwächter gewesen? Womöglich hatten wir alle überreagiert. Vielleicht war gar keine Bedrohung von der Person ausgegangen.
»Scheiße«, fluchte Xuan. Ich folgte ihr in den leeren Vorraum und versuchte mit ihr zusammen, das Tor nach oben zu drücken, aber es bewegte sich keinen Millimeter.
»Ficken!«, stieß ich aus und atmete durch. »Sollen wir es alle zusammen nochmal probieren?«
»Das wird nicht klappen«, widersprach Xuan sachlich und ging wieder in den vollgestopften Raum. Ich folgte. Als ich eintrat, schien Xuan Chris irgendetwas zuzuflüstern und ich runzelte die Stirn. Wenn man uns nicht gesehen hatte, dann hatte man aus einem anderen Grund nicht beide Türen geschlossen, sondern nur das Garagentor. Wenn der Person die Garage nicht gehört hatte, hätte sie sich sicher gewundert. Viel wahrscheinlicher war es, dass die Garage von ihrem Eigentümer betreten worden ist. Aber warum uns nicht direkt rausschmeißen? Warum uns einschließen? Um Verstärkung zu holen?
»Vielleicht gibt es einen anderen Weg raus«, überlegte Natalie und schaute sich um. Erst blickte ich zu Chris, dessen Miene wie versteinert aussah, dann zu Xuan, die bedauernd lächelte, bis meine Aufmerksamkeit bei einem kleinen Fenster hängen blieb. Ich marschierte entschlossen darauf zu und stellte mich auf Zehenspitzen, um die weißen Jalousien hochzuziehen. Enttäuscht schüttelte ich den Kopf.
»Da werden wir nicht alle durchpassen.«
»Müssen wir auch nicht. Eine reicht, die das Tor von außen aufmacht«, erklärte Xuan. Sie hatte die Lage schon erfasst, denn sie war mit Abstand am kleinsten, weshalb sie sich einen Stuhl heranzog. Chris trat vor, um den Stuhl zu sichern, während Xuan das Fenster öffnete. Es war wirklich sehr klein. Aber es war immerhin nicht vergittert. Kurz wackelte der Stuhl, als Xuan sich auf die Lehne stellte, dann hatte sie sich schon zur Hälfte mit dem Kopf voran aus dem Fenster geschoben. Trotz Xuans zierlicher Person schien das Fenster winzig. Kurz fragte ich mich, ob wir ihr vertrauen konnten. Immerhin ließen wir sie jetzt als erstes durch das Fenster. Ich versuchte meine Zweifel beiseite zu schieben. Sie war eine von uns. Eine aus unserer Schule und konnte deswegen nicht mit dem Mörder in Verbindung stehen. Sei es der Mörder aus dem Bodemuseum oder der Mörder meines Vaters.
»Geht's?«, fragte Natalie.
»Mehr oder weniger«, antwortete sie gedämpft. Dieser Satz sollte unser Fehler sein.
Chris grinste und scherzte: »Es rutscht wohl eher.«
»Sehr lustig«, gab ich zurück und versuchte, Xuan irgendwie zu helfen, aber sie war schon fast draußen. Plötzlich begann sie zu schreien und ihre Füße verschwanden aus unserer Sicht. Ein dumpfer Aufprall war zu hören und dann Schritte auf dem Kiesboden, die viel zu schnell und schwer waren, als dass sie von Xuan hätten stammen können.
»Xuan!«, rief ich erschrocken und versuchte an das Fenster heran zu kommen. Zwar hatte ich sie nie sonderlich leiden können, aber das hier ging über Schul-Sticheleien hinaus. Außer den sich entfernenden Schritten konnte ich nichts mehr hören.
»Wir sind so dumm«, stöhnte Chris und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Es war ja klar, dass das nicht nur irgendwer war, der in dieser Garage nach dem Rechten schauen wollte.«
»Wir hätten warten sollen. Oder halt leise sein. So konnte der Typ sicher hören, dass wir durch das kleine Fenster raus wollten.«
»Schön, dass dir das jetzt erst einfällt, es bringt uns allerdings nicht weiter. Wir sollten lieber überlegen, wie wir hier jetzt wegkommen«, giftete Chris mich an. »Wenn du das nicht mal früher gesagt hättest, wäre Xuan nicht entführt worden!«
»Wie schön, Chris, dass du uns wieder mit deiner nicht vorhandenen Intelligenz bereicherst«, erwiderte ich nicht weniger angepisst und verschränkte meine Arme vor dem Körper. »Wenn du nicht deine Freizeit damit verbringen würdest, dir jegliche grauen Zellen mit einem Joint wegzupusten, hättest du wenigstens noch ein bisschen Hirn, um selbst ...«
»Leute!«, rief Natalie. »Hört auf! Das bringt uns noch weniger weiter.«
Ich seufzte auf. Sie hatte ja Recht. Ich wusste gar nicht, woher plötzlich diese negative Spannung zwischen Chris und mir kam. Es war doch eigentlich alles gut, oder? Ich heftete meinen Blick auf die Unterlagen, um mich abzulenken.
Vielleicht, mein Bianca-Herzblättchen, liegt es daran, dass eine gewisse Xuan mit Chris gerade eben irgendwas Privates geflüstert hat. Oder bist du so blind?
Ich verfluchte meinen inneren Besserwisser.
Mit den Fingern fuhr ich über die Papiere und atmete durch. Ich verstand einfach nicht, wie es so schief gehen konnte. Schon wieder. Wir waren definitiv das schlechteste Team aller Zeiten. Sei es nur auf Chris und mich bezogen, oder auf die ganze Gruppe. Schließlich blieb mein Blick an einem der Papiere hängen.
Es waren zwar nur Bau-Unterlagen und journalistische Texte, aus denen ich nichts entnehmen konnte, aber eine der Zeitungen lag aufgeschlagen da und zeigte einen Artikel. Einen Esoterik-Text über Heiltabletten. Spannend. Der andere Text handelte von irgendeinem Fußballspiel. Also an sich nichts Interessantes. Mein Blick blieb nur an dem Namen hängen. Ein gewisser Torben Müller hatte diesen geschrieben. Ich wusste gar nicht, warum ich an dem Namen hängen blieb.
Natalie begann, wie ein Raubtier in einem Käfig hin und her zu tigern, ihre roten Haare wippten bei jedem Schritt auf und ab. Dann blieb sie plötzlich stehen. »Also haben wir das jetzt richtig gesehen? Wir folgen einer Telefonnummer hier her, die mit Herrn Krempe geredet hat. Herr Krempe gibt uns den Code für die Garage, wird dann aber umgebracht. Dann ist aus irgendeinem Grund Xuan hier und weiß anscheinend bescheid, wird aber sofort aus dem Weg geräumt, weil jemand wusste, dass wir hier waren. Der Person gehört diese Garage und die Person überwacht Biancas Zuhause - offensichtlich ein Perversling, unabhängig davon, ob es wirklich der Mörder ist, oder nicht?
Das ... das ist doch alles vollkommener Bullshit!«
Sie knetete ihre Hände und lief wieder auf und ab. Ali hielt sie fest. »Natalie, chill mal. Alles gut.«
Sie schlug seine Hände weg und rief: »Es ist nicht alles gut! Drei Menschen sind tot! Biancas Vater, die Frau in der Badewanne alias die Frau von Herrn Krempe und Herr Krempe selber! Und wir wissen nichts!«
»Wir wissen nicht nichts«, erwiderte ich. »Wir wissen, dass der Mörder meines Vaters männlich ist und eine gute Verbindung zu Papa hatte. Wir wissen, dass Herr Krempe illegale Geschäfte am Laufen hatte - da hat es ja einen Geldaustausch gegeben, was wiederum heißt, dass es nicht so unwahrscheinlich ist, dass diese illegalen Geschäfte sein Ende waren.« Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Und ... was, wenn mein Vater auch in diese illegalen Geschäfte verwickelt war und Herr Krempe deswegen wusste, wer der Mörder war, aber selbst nichts sagen konnte, weil es ein Druckmittel gab - nämlich seine Frau. Dann wurde seine Frau umgebracht und er konnte logischerweise nicht zur Polizei gehen, weil er selbst Dreck am Stecken hatte, aber er wollte mir den Mörder meines Vaters nennen, weil er nicht mehr viel zu verlieren hatte. Dann hat sein illegaler Verein davon mitbekommen und wollte ihn und mich umbringen und ...« Ich stockte. Das könnte tatsächlich Sinn ergeben. Ali nickte.
»Ja Mann, macht voll Sinn. Aber was ist n' dann mit Xuan? Was ist mit diesem Drecksloch hier?«
»Ich habe einen Vorschlag«, murmelte ich leise und wandte mich an Chris. »Herr Krempe war in irgendwas Illegales verwickelt. Und deswegen logischerweise dein Vater auch. Du könntest ihn fragen. Vielleicht kann er dir irgendwas sagen.«
Chris wirkte unnatürlich blass im schwachen Licht, nickte aber mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich werde ihn fragen.« Ich konnte an der Art, wie er seine Augen zusammenkniff sehen, dass er das auch wirklich vorhatte.
In meiner Hosentasche vibrierte auf einmal mein Handy und ich zuckte zusammen. Langsam und mit schwitzenden Händen zog ich es hervor. Unbekannte Nummer.
»Leute«, hauchte ich schwach. »Kommt mal.« Die Farbe wich mir langsam aus dem Gesicht. Es war die gleiche Nummer von der ich davor Herr Krempes Nachrichten bekommen hatte. »Interessantes Handy hatte der gute alte Herr.«
Hatte also sein Mörder ihm sein Handy abgenommen? War das ein Ersatzhandy von Herrn Krempe, da wir in Besitz seines richtigem Handys waren? Ich sah, dass die Person noch tippte und wartete, das Herz schlug mir bis in den Hals. Entgegen meiner Erwartungen wurde mir aber ein Foto geschickt. Als das Bild geladen hatte, entwich mir ein leises Keuchen.
»Xuan«, flüsterte Chris. Auf dem Foto war zu sehen, dass sie in einer Ecke eines Raumes lag, eine Wunde an ihrer Stirn. Darunter stand ein kleiner Text.
»Sie wird bei mir sicher aufgehoben sein. Ein gutes Sammlerstück, finde ich. Ein Sammlerstück, das aber leider ein wenig zu viel in der Birne hat. Keine Sorge, sie ist noch nicht tot. Aber das wird sie sein, falls ihr versucht, herauszufinden, wer ich bin. Kleiner Tipp: Versucht es nicht. Es bringt euch nicht weiter. Aber ich kann euch etwas ganz anderes anbieten.«
Ich wechselte einen Blick mit den anderen und Natalie murmelte: »Da steht jemand auf Psycho-Spielchen.«
Meine Finger tippten von automatisch eine Antwort. »Was?«
»Ich lasse die Kleine am Leben und ihr liefert der Polizei den wahren Mörder aus«, kam drei Sekunden später die Antwort.
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