[18] XVIII. Es wird heißer
Tot war ich nicht, aber nur ein wenig am Ende. Der entscheidende Unterschied zwischen meinem jetzigen Zustand und dem Tod war folgender: Ich spürte, wie Kopfschmerzen einsetzten und jeder Teil meines Körpers wie Blei zu Boden sackte, während mein Verstand immer noch nicht wusste, was passiert war. Wenn ich aber im Jenseits wäre, dann würde ich nicht wissen, dass ich fühlte. Weil ich nichts gefühlt hätte. Zurückblickend wäre es vielleicht besser gewesen, wenn ich gestorben wäre. Oder zumindest einfacher.
Ich wachte auf und registrierte sofort die mir sehr bekannten Poster an den Wänden. Ich war zuhause. Wie war ich denn hier gelandet?
»Bianca, Gott sei dank.« Die Stimme klang erleichtert und ich bemerkte, dass Chris auf meinem Schreibtischstuhl saß. »Ich sag den anderen Bescheid, dass du wach bist.«
»Wie ...?«, brummte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
»Alles gut, Bianca, alles gut«, beschwichtigte mich Natalie und lächelte mir zu.
»Gut. Gut, warum sollte nicht alles gut gehen? Ich hab euch doch gesagt, dass nichts passieren wird«, widersprach ich trotzig, meine Gedanken waren immer noch wirr und verloren.
»Bianca, keine Zeit für Witze.«
»Keine Zeit zu sterben, würde ich eher sagen.«
»Herr Krempe ist gestern gestorben.«
Und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Der Schuss, Herr Krempe, das Flackern des Lichtes. Der kalte Blick, der zweite Schuss. Allerdings fühlte es sich so an, als hätte ich eine Schutzmauer aus Backsteinen um mich errichtet. Verglichen damit, dass ich diesmal nicht nur eine Leiche, sondern auch den Mord direkt mit ansehen musste, setzte es mir nur wenig zu.
»Er wurde erschossen«, brachte ich dann heraus und Chris bestätigte meine Erinnerungen. Die Art und Weise, wie er nickte, verständnisvoll und geduldig, berührte mich irgendwie.
»Die Polizei wartet unten, denkst du, du kannst runter?«, erkundigte sie sich und ich nickte. Dann ging ich nach unten, nachdem ich ein wenig Wasser in mein bleichen Gesicht gespritzt und mir etwas angezogen, was seriös genug für Polizisten war - also meinen Hasen-Schlafanzug.
Die Befragung zog sich hin und ich beantwortete alle Fragen so ehrlich, wie ich konnte. Ob ich gewusst hatte, dass Herrn Krempes Frau auch ermordet worden war, ob ich etwas von dem Angreifer hatte erkennen können, ob Herr Krempe etwas gesagt hatte, ob ich aus irgendeinem bestimmten Grund dort gewesen war und so weiter.
Ich habe nicht gewusst, dass seine Frau getötet worden war, ich habe nichts erkennen können, der Mörder hätte jedem Geschlecht angehören können, ich sei aus Interesse an Kunst dort gewesen. Um mein Interesse noch einmal unter Beweis zu stellen, nannte ich Andy Warhol und Marilyn. Die Polizistin hakte nicht nochmal nach. Sie würden sich die Überwachungskameras noch einmal genauer ansehen und dann vielleicht mehr wissen. Sie bedankte sich für meine Auskünfte und ich lächelte gezwungen zurück.
Dann erkundigte sich der Kommissar, der die restliche Zeit der Befragung damit verbracht hatte, unsere Familienfotos an den Wänden zu studieren, ob ich noch ein paar weitere Fragen beantworten könne.
»Schießen Sie los.«
»Haben Sie vor acht Jahren irgendwas bemerkt, das sich zwischen Ihren Eltern verändert hatte?« Der Glatzkopf schaute mich fragend durch seine Brillengläser an.
Ich runzelte die Stirn. Versuchte er, eine Verbindung zwischen gestern und dem Mord meines Vaters herzustellen?
»Ähm«, stammelte ich. »Das überrumpelt mich gerade. Aber eigentlich war alles normal. Mama bei der Arbeit, Papa auch.«
»Ich meine, ob sie vielleicht Streit hatten.«
»Nein.« Sie hatten nie gestritten. Mama hatte sich höchstens einmal beschwert, dass Papa immer so viel arbeitete. »Das Einzige, was anders war, ist, dass Papa noch mehr auf der Arbeit war.«
Ich konnte dem Polizisten ansehen, dass es nicht die Antwort war, die er sich erwünscht hatte, er bedankte sich dann aber trotzdem und die Beamten verließen mein Haus.
Wann würde man endlich einsehen, dass meine Mama nichts getan hatte? Und wie könnte ich, wenn nötig, selbst die Beweise beschaffen?
*
Irgendwie fühlte es sich falsch an auf einer Beerdigung von einem ehemaligen Lehrer zu erscheinen, den man für eine Zeit lang als Mörder bezeichnet hatte, der dann aber vor den eigenen Augen erschossen worden war. Was für eine Ironie des Schicksals. Was mich aber immer noch zum Grübeln brachte, war die Unwissenheit, ob nun Herr Krempe diese Frau wirklich umgebracht hatte, oder ob es nur so ausgesehen hat. Doch so im Nachhinein fiel mir wieder etwas ein, was Herr Krempe gesagt hat. »Umgebracht von ...«, bevor die Tür zugeflogen war. Hatte er mir den Mörder sagen wollen? War das der Grund, weshalb man ihn umbringen wollte? Weil er mir den Mörder von seiner Frau und meinem Vater nennen wollte? War es womöglich dieselbe Person, die auch ihn umgebracht hatte?
Nach der Zeremonie verließen wir zusammen die Kirche und machten uns auf den Weg zu mir.
»Herr Krempe hat etwas gesagt, bevor er gestorben ist. Hypocrita. Keine Ahnung, was das bedeutet«, warf ich nachdenklich in die Runde.
»Hypocrita ... vielleicht ist das Latein oder so?«, rätselte Ali. Finn zuckte mit den Achseln.
»Sicher, dass er Hypocrita gesagt hat? Oder dass er überhaupt etwas gesagt hat? Vielleicht hast du dich nur verhört oder-«
»Ich bin mir sicher«, erwiderte ich vehement. Und ich war mir tatsächlich absolut sicher, nur leider brachte mich das nicht weiter, weil ich keinen Schimmer hatte, was er mit Hypocrita meinen könnte. Dennoch hatte ich das Gefühl, das Wort irgendwann schon einmal gehört zu haben. Es kam mir so bekannt vor. Ich konnte mich aber beim besten Willen nicht entsinnen, wann.
Finn zückte sein Handy und erklärte kurz darauf: »Also Hypocrita ist wirklich Latein und bedeutet entweder Mime, sprich jemand der mit Gebärdensprachen übersetzt, oder Heuchler. Beides ergibt nicht wirklich Sinn.«
Ich nickte. War ich mir wirklich sicher, dass ich Hypocrita verstanden hatte? Vielleicht war es auch so was Ähnliches gewesen? Wir würden hier nicht weiter kommen. Ich schloss die Tür auf und die anderen folgten mir durch das Umzugskarton-Chaos.
»Was wenn die Überwachungskameras nicht funktioniert haben? Oder ausgeschaltet worden sind?«, fragte ich die anderen, als wir uns um den Küchentisch verteilten. Ich konnte nicht gegen das ungute Gefühl ankämpfen, welches in meiner Magengegend grummelte. Wenn das der Fall wäre, hätte ich kein Alibi. Der Mörder von Herrn Krempe war aus der Ausstellung verschwunden, wie er hineingekommen war - spurlos. Was wiederum heißen würde, dass der Tatverdacht auf mich fallen würde.
»Sie werden nicht nicht funktioniert haben«, versuchte Natalie mich zu beruhigen. Ich nickte zögerlich, war aber nicht gänzlich überzeugt, als ich den Kaffee aufsetzte. »Hoffentlich.«
»Ich meine, es würde ja auch keinen Sinn machen, wenn ich jemanden umbringen würde und dann aber freiwillig ein Kunstwerk anfasse, um einen Alarm aufzulösen. Es sei denn, ich würde damit versuchen, von mir abzulenken. Aber ansonsten wäre das ja ein bisschen dumm.«
»Das stimmt, und so dumm bist du dann doch nicht«, neckte Chris mich und half mir mit der Hafermilch für den Kaffee. »Notfalls organisieren wir dir einen Gefängnisausbruch«, ergänzte er und küsste mich auf die Haare.
»Klar, ins Gefängnis zu wandern und dann wieder auszubrechen, gehört definitiv zu den Dingen, die ich im Leben einmal gemacht haben will.«
»Warum nicht, Diggi? Is sicher ne krass geile Experience ...«, witzelte Ali.
Natalie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Halsbrecherische Experiences sind sicher nicht krass geil.«
»Und wenn es halsbrecherisch so wie Hals über Kopf auf wen crushen ist?«, antwortete er und zwinkerte ihr zu, worauf hin sie ihn genervt ansah und demonstrativ nach Finns Hand griff, der neben ihr saß.
»Und wie wollt ihr mich dann aus dem Gefängnis holen? Mit einer scharfen Soße, mit der ich die Gitterstäbe wegätzen kann?«, griff ich das Thema wieder auf, um diese seltsame Stimmung zu unterbrechen.
»Klar, meine Süße, nur dass du sowieso schärfer als jede Soße bist«, raunte Chris mir zu und ich prustete los. Zu meiner Erleichterung lachte auch Natalie über den Witz und als ich mich halbwegs wieder gefangen hatte - was für eine ironische Formulierung - antwortete ich: »Und du bist ätzender als jede saure Soße.«
Er grinste und zog mich an sich. »Ich weiß, dass du ätzend magst.«
»Weiß ja nicht ganz.«
»Doch, doch.«
»Und ich weiß«, mischte sich Finn ein, »dass ihr zusammen ätzender als Salzsäure seid. Im positiven Sinne.«
»Freut mich. Ich wollte schon immer mit einer Salzsäure verglichen werden«, erwiderte ich. »Nicht.«
Unser Gespräch begleitete das leise Blubbern vom Kaffee und ein angenehmer Geruch verbreitete sich in der Küche.
»Wie ist der Typ nur durch die Sicherheitskontrolle gekommen?«, grübelte Natalie. »Entweder er hatte nichts dabei, oder er kannte irgendwen dort.«
»Keine Ahnung.« Ich strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Vielleicht sollte ich einfach ins Gefängnis gehen, immerhin könnte mich da kein Bodemuseumstyp erstechen.«
»Dafür aber andere komische Typen«, warf Natalie ein.
»Du hast schon Recht, dann lieber direkt abhauen«, stimmte ich ihr zu.
»Können wir vielleicht auf das Thema zurückkommen? Auf die Morde und deine Mutter, die im Gefängnis sitzt.« Natalie spielte an ihrer Uhr herum. »Wie wäre es, wenn wir darüber reden würden, wie wir sie aus dem Gefängnis bekommen und nicht darüber, wie wir Biancas Ausbruch arrangieren würden?«
»Stimmt, aber ...« Ali zuckte mit den Schultern. Ich wendete mich zwei heißen Sachen zu - Chris und dem Herd.
»Folgendes Problem - fürs Abhauen brauchen wir Geld«, gab ich zu bedenken.
Chris runzelte die Stirn. »Wir könnten es stehlen.«
»Hm, bin nicht überzeugt«, antwortete ich.
»Was ist mit Hypocrita? Und was hat es jetzt mit der Leiche bei Herrn Krempe auf sich? Und warum wollte Herr Krempe sich mit dir treffen und wurde aber aus dem Verkehr gezogen? Was steckt da alles hinter?«, grübelte Natalie gerade.
»Oder du wirst Model«, überlegte ich leise an Chris gewandt. »Am besten für Unterwäsche.«
Chris blendete genauso wie ich die Unterhaltung der anderen aus und raunte mir stattdessen zu: »Glaub mir, Bibi-Schätzchen. Um meine Unterwäsche zu Gesicht zu bekommen, brauchst du mich nicht bei einer Unterwäsche-Werbeagentur anmelden.« Ich lachte und spürte sogleich ein wenig Röte in mein Gesicht aufsteigen.
Natalies Räuspern hinter uns rief uns beiden ins Gedächtnis, dass noch drei weitere Personen anwesend waren, doch zum Glück wurde die peinliche Stille von meinem klingelnden Telefon unterbrochen.
»Hallo Bianca«, meldete sich Lawrence's Stimme.
»Hallo.«
»Ich bin im Handy von Herrn Krempe drin. Ich komm zu dir. Und ihr schuldet mir Erklärungen.«
***
Das war nicht möglich. Es war verdammt noch mal einfach nicht möglich! Zwar wusste das Mädchen, dass sie vor einiger Zeit selbst noch genau diese Annahme gehabt hatte, aber dann war sie auf etwas gestoßen, das sie stutzig werden ließ. Und jetzt war sie sich sicherer denn je, dass sie richtig lag.
Sie hatte sich dazu entschieden, die notwendigen Maßnamen jetzt zu ergreifen. Sie hatte nicht nur ihre Freundin, der sie ihr Leben anvertrauen würde, eingeweiht, sondern würde jetzt dieser Garage einen Besuch abstatten und ein Telefonat führen.
Sie erhob sich von ihrem bequemen Bett und stand auf, um das Festnetztelefon zu nehmen und ihre Nummer zu unterdrücken. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich tat, worüber sie schon den ganzen Tag nachgedacht hat.
Nachdem sie die Nummer gewählt hatte, strich sie sich ihre schwarzen Haare aus der Stirn und atmete durch. Sich bloß keine Unsicherheit anmerken lassen.
Doch niemand hob ab. Die Zeit verstrich und das Telefon klingelte. Verhöhnte sie, als würde es ihr mitteilen, dass sie mit ihrer Vermutung falsch lag. Gerade wollte sie es wieder weglegen, als es rauschte und eine Stimme erklang: »Lange hier, hallo?«
Ohne zu zögern sprach sie ihre Vermutung aus und hoffte durch die Reaktion die Wahrheit zu erfahren. »Ich weiß, was du getan hast.«
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