
[14] XIV. Verliebt, verheiratet, verhaftet
Mit schnellen Schritten stöckelte Dr Anke Bor über den glatt polierten Boden. Früher hatte sie ihre Arbeit geliebt. Doch es hatte sich so viel geändert, dass sie an einem Punkt angekommen war, an dem sie kündigen würde. Wenn sie es denn könnte. Doch sie war bereits fester Teil dieser Sache. Sie konnte jetzt nicht aussteigen, dieser Zug war schon vor Jahren abgefahren. Außerdem war Anke Bor nicht nur Passagier des Zuges, nein, sie saß ganz vorne im Führerhaus und konnte mit als eine der wenigen vollständig Eingeweihten wirklich sehen, wohin die Reise ging.
Doch der Unterschied zwischen einem normalen Zugführer und ihr bestand darin, dass dieser Kontrolle über die Geschwindigkeit und Richtung seines Zuges hatte. Das Steuer wurde Anke Bor allerdings immer wieder von allen Seiten entrissen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten und sitzen zu bleiben.
Außerdem, so redete sich Anke jeden Tag ein, blieb sie für eine bessere Welt sitzen. Für das Allgemeinwohl. Das Problem war, dass sie diese bessere Welt noch nicht am Horizont erkennen konnte.
Und genau deswegen erwischte sie sich ständig dabei, wie ihr absichtlich kleine Ausrutscher im Forschungsprozess passierten, um dessen Vollendung so weit wie möglich herauszuzögern. Deswegen hoffte sie, dass der Generator nicht funktionieren und dass das Testobjekt aufgegeben werden würde. Deswegen hatte sie ein schlechtes Gewissen. Deswegen überwies sie jeden Monat Geld. Deswegen war ihr ein Stein vom Herzen gefallen, als die Bedienung verschwunden war.
Anke Bor erinnerte sich noch genau an das Murmeln, an die Vorahnungen, die leise die Runde gemacht hatten. An den Moment, als das Herzstück des Generators nicht mehr an seinem Platz gesessen hatte. Vor neun Jahren. Das Rennen der Ärzte in weißen Kitteln, das Alarmsignal, das durch die Gänge geschallt war und alle Befürchtung bestätigt hatte, waren ihr zu deutlich im Gedächtnis geblieben. Schnell hatte Anke Bor zusammen mit Else Zanke die Puzzelstücke zusammengefügt und verstanden, wer die Bedienung entwendet hatte. Die Bedienung, welche das Zentrum ihrer ganzen Arbeit darstellte.
Es kam ihr vor, als hätte die Person einen Teil der Stromzufuhr gekappt. Die Geschwindigkeit des Zuges war verlangsamt worden. So sehr, dass sie fast wieder von vorne hatten anfangen müssen. Natürlich hatten sie Schuldige gesucht. Gesucht und gefunden.
Ein letzter Akt, hatte sie sich damals gedacht. Jetzt dachte sie sich, dass mit diesem Akt das Stück womöglich erst begonnen hatte.
Ihr Blick glitt an die Wand, an dem das große Plakat hing. Der brasilianische Schmetterling zeigte den ganzen Stolz der Einrichtung. Den Erfolg.
In seiner anmutigen Größe überschattete er die Asche, aus der er gestiegen war. Die Opfer und die Gesetzesbrüche, von denen nie jemand erfahren würde. Die nur sie vorne am Steuer beobachten konnte und sie aber wie die Landschaft an sich vorbeirauschen ließ.
***
Chris hatte darauf bestanden, bei mir zu bleiben, was ich dann nach anfänglichem Protest doch akzeptiert hatte. Als ich nicht alleine, sondern neben Chris in meinem Bett lag, war ich dankbar dafür. Denn seine Anwesenheit und die Wärme, die er abstrahlte, beruhigten mich und gaben mir das Gefühl, dass doch irgendwie alles in Ordnung war. Aufgrund der letzten schlaflosen Nächte, übermannte mich der Schlaf mit einer Wucht, sodass ich nicht einmal mehr mitbekam, dass Chris die Nachtlampe ausmachte. Trotz aller Sorgen war ich am nächsten Morgen erholt und so etwas wie zufrieden, auch wenn ich sofort das Fehlen meiner Mutter bemerkte.
»Nein, wir schwänzen heute nicht, Chris«, protestierte ich, als wir uns in der Küche etwas zu Essen machten.
»Aber diesmal haben wir wirklich eine gute Ausrede!«
»Ja, na und? Außerdem habe ich Natalie versprochen, dass wir nach der Schule reden.«
»Für die pflichtbewusste Streberin bin ich schon mit Xuan befreundet«, grummelte Chris.
»Na vielen Dank auch.« Ich drückte Chris ein Stück Apfel in die Hand. Als er mich fragend anschaute, sagte ich: »Für dein Gehirn.«
»Wie lieb von dir, Bibi-Schnuckelpurzel.«
»Versuchst du gerade meine Mutter zu ersetzen?«
»Nope«, grinste Chris und beugte sich zu mir vor. Sein Atem strich über meine Unterlippe und ich schloss die Augen.
»Ich seh schon«, murmelte ich, bevor seine Lippen meine berührten.
*
Wenig später saßen wir in der S-Bahn zur Schule. Meine Überzeugungskünste hatten wohl doch funktioniert. Oder ich hatte so gut geküsst, dass Chris seine Argumente vergessen hatte. Wer weiß. Allerdings waren wir so spät dran, dass wir Natalie verpasst hatten und erst vor dem Schultor auf sie trafen. Mit einem prüfenden Blick schaute sie uns beide an und entschied dann weise, sich ihre Kommentare für später aufzuheben. Finn neben ihr zog ebenfalls eine Augenbraue nach oben. Dass er einen Arm um Natalie gelegt hatte, deutete ich als offizielles Zeichen dafür, dass sie zusammenwaren.
Mit einem Lächeln deutete Natalie auf meine Haare, die ich vergessen hatte zu kämmen, weil Chris und ich heute morgen mit anderen Sachen beschäftigt gewesen waren.
»Bianca, was ist mit deinen Haaren passiert? Wolltest du etwas mit Harry gemeinsam haben?«
Beim Anblick von Natalie, Finn und der Schule - der Realität -, verstand ich mehr und mehr, dass das Leben jetzt weiter gehen würde, während meine Mutter in Untersuchungshaft saß. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich sogar schlecht dafür, gut geschlafen zu haben und Chris bei mir zu haben, aber dann rief ich mir in Erinnerung, dass meine Mutter nicht wollen würde, dass ich jetzt unglücklich bin. Sie würde wollen, dass ich mich auf mein Leben fokussiere und sie aus dem Gefängnis hole. Gut, der zweite Teil war gelogen. Ich würde es aber trotzdem machen.
»Fragst du jetzt nicht nach, was du mit Harry gemeinsam hättest?«, holte Natalie mich aus meinen Gedanken.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
»Style.« Sie lachte über ihren eigenen Witz und zog uns dann alle in Richtung Schultor. Ich lächelte schief.
»Leute ... meine Mutter wurde verhaftet«, ließ ich schließlich die Bombe platzen. Finn blieb augenblicklich stehen und Natalies Kiefer klappte nach unten.
»Oh Gott, Bianca. Und dann mach ich noch Witze über deine Frisur. Es tut mir so leid«, rief sie und umarmte mich fest.
»Wegen ... dem Mord an deinem Vater? Also wurde deine Mutter deswegen verhaftet?«, fragte Finn. Die Schulglocke klingelte. Trotzdem standen wir vier weiter vor dem Tor. Dieses Gespräch war keines, welches mit dem Ertönen der Glocke augenblicklich beendet war.
»Die Polizei kam gestern ... ich frage mich, warum. Ich meine, warum jetzt? Es sind acht Jahre mit dem Glauben an einen Autounfalltod vergangen, warum wird jetzt erst von einem Mord geredet? Warum wird jetzt meine Mutter verhaftet?«
»Ja, das ist komisch«, stimmte Finn mir stirnrunzelnd zu.
»Ich kenne ja deine Mutter, Bianca, und ich weiß, dass sie so etwas nie im Leben getan hätte.« Natalie stemmte überzeugt die Hände in die Hüften. »Abgesehen davon wissen wir sowieso, dass man der Polizei nicht vertrauen kann.«
Kaum hatte der Englischunterricht begonnen, klingelte mein Handy laut und alle Köpfe drehten sich zu mir. Ich lächelte entschuldigend. Anstatt allerdings mein Handy auszuschalten, schnappte ich mir meinen Beutel und verließ den Raum.
»Ja?«, fragte ich in mein Handy.
»Schätzchen«, antwortete Mama und ich lächelte. »Wie jeht's dir?«
»Warte kurz«, flüsterte ich in dem hallenden Flur und steuerte auf das Mädchenklo zu.
»Stimmt«, murmelte Mama. »Hast ja heute Schule.«
»Kein Problem, ich verpasse nichts. ... Nichts Wichtiges zumindest.« Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich an die Heizung. »So, jetzt kann ich reden. Weißt du schon genaueres, Mama?«
»Ick weeß nur, wat ick denke. Und zwar, dit'n Fehler oofjetreten seen muss. Deen Vater wurde janz sicher nicht umjebracht und janz sicher nicht von mir«, sagte Mama mit fester Stimme.
»Ich weiß, dass du ihn nicht umgebracht hast«, beruhigte ich Mama. »Wann kannst du wieder raus? Das Haus fühlt sich so einsam an ohne dich.«
Ich hörte Mama gerührt auflachen. »Keine Sorge, ick komme sicher bald zurück.«
»Was liegt vor? Also welche Beweise?«, fragte ich, weil mir die Frage schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte.
Mama schwieg. Dann: »Der Autounfall hat anscheenend nie stattjefunden und sie denken jetzte, dat ick dahinter stecke. Und anscheinend jibt's eenen Zeugen.«
»Was? Ein Zeuge?«, fragte ich. »Wer?«
»Das hat mir niemand gesagt.«
»Irgendwer verwechselt bestimmt etwas, Mama«, sagte ich und hoffte, dass es stimmte. Denn wenn nicht, dann versuchte irgendwer krampfhaft, Mama ein Mord anzuhängen. Nachdem wir noch ein bisschen geredet und anschließend aufgelegt hatten, überlegte ich, ob es sich bei dem Geständnis um das handeln konnte, welches im auf dem Friedhof gefunden hatte. Andererseits lag dieses doch in meinem Zimmer in der Schublade. Oder? Wenn die Schule vorbei war, müsste ich das unverzüglich nachprüfen
Beim Mittagessen ließ ich die Stimmen an mir vorbeiplätschern. Ich fragte mich, ob man die Schule darüber informiert hatte, dass meine Mutter verhaftet worden war, oder ob es meinen Englischlehrer einfach nicht störte, dass ich mitten im Unterricht gegangen war.
»Sandwich heißt eintausend Prozent nicht so, weil jemand Sand auf ein Brot gekrümelt hat«, sagte Finn gerade zu Ali.
»Ach und du Super-Streber weißt das sooo viel besser?«, fragte Ali.
»Es ist eingedeutscht«, klugscheißerte Finn.
Ich richtete meinen Blick auf mein Handy und öffnete Natalies Nummer.
Ich: Kommst du nicht zu uns in die Mensa?
»Hey«, sagte Tamara und ich sah, dass Xuan und sie auf unseren Tisch zusteuerten. Ich hatte nicht den Nerv, einen Platz für Natalie freizuhalten, als sie sich zu uns setzten.
»Junge, ich weiß, dass Sand und Sand-wich nicht das Gleiche sind, du Spast«, rief Ali aufgebracht. »Das davor war nen Joke, falls du schon mal was davon gehört hast. Normalerweise lacht man dann und liefert keinen Beweis seiner noch so super krassen Schlauheit.«
Mein Blick glitt wieder auf mein Handy. Keine Antwort.
»Du.« Xuan blickte Finn fragend an. »Kennen wir uns irgendwoher?«
Dieser wandte sich von seiner Diskussion mit Ali ab und sagte schulterzuckend: »Ich wüsste nicht, woher.«
Immer noch keine Nachricht von Natalie.
Gerade wollte ich das Handy wieder wegstecken, als Ali - fertig mit seiner Sanddiskussion - fragte: »Mit wem schreibst du?«
»Natalie.«
»Schreib ihr, dass sie sicher gerade umwerfend aussieht«, schlug er grinsend vor, weshalb Finn ihm finstere Blicke zuwarf.
»Ali lässt grüßen«, schrieb ich also an Natalie.
Natalie: Grüße zurück
Ich: Er sagt, dass du sicher gerade umwerfend aussieht
Natalie: ... okay? Freut mich? Ist Finn eigentlich da?
»Sie schreibt danke«, sagte ich schlicht. Ali lächelte und drehte sich weg.
Ich: Klar, und rate mal, wer gerade nicht da ist.
Natalie: Wer?
Ich: Du.
Natalie: Ich hatte schon Schluss, vergessen? Und mein Job wird nur dann bezahlt, wenn ich rechtzeitig anwesend bin. Sorry, ich hätte gern mit euch gegessen
Ich: Alles gut
Ich stecke mein Handy wieder weg und stopfte mir ein paar Pommes rein, hörte den anderen aber nicht zu.
Erst, als Chris neben mir aufstand, hob ich meinen Kopf. »Was ist?«
»Nichts isst, weil ich kein Essen mehr habe«, sagte er und deutete auf seinen leeren Teller. Ich nickte und verdrehte die Augen. »Falls du dir Pommes holst, dann bitte Schranke, ja?«
Chris zwinkerte mir zu. »Immer.« Ein Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel.
Das Klingeln meines Handys verkündete das Eintreffen einer neuen Nachricht und ich öffnete diese. Zu meiner Überraschung war sie aber nicht von Natalie, sondern von einer unbekannten Nummer.
»Wer ist das?«, fragte Chris, der anscheinend noch nicht losgegangen war, um sich sein Essen zu holen.
»Keine Ahnung«, murmelte ich. Ich war viel zu abgelenkt vom Inhalt der Nachricht.
»Können wir uns treffen?«
Treffen? Wer? Und warum?
»Mach nichts Dummes, okay?«, sagte Chris und strich mir sanft mit der Hand über die Schulter. Dann ging er zur Essensausgabe.
Ich: Wer ist da?
Unbekannt: Unwichtig.
Ich: Warum sollte ich mich mit dir treffen wollen?
Unbekannt: Ich weiß, was mit deinem Vater passiert ist.
Mein Herz setzte ein Schlag aus. Meine Gedanken überschlugen sich. Wer war das? Und woher hatte die Person meine Nummer? Ich machte mein Handy aus und atmete durch. Bemerkte dabei Xuans skeptischen Blick, die meine Erregung aber als Einzige zu bemerken schien. Schnell warf ich ihr einen giftigen Blick zu. Dann öffnete ich den Chat nochmal.
Ich: Wann treffen wir uns?
Unbekannt: Heute um fünf Uhr.
Dann schickte mir die Person auch noch eine Adresse und ich stellte schnell fest, dass diese gar nicht so weit von uns entfernt war.
Als ich Schluss hatte, machte ich mich auf dem Weg zum Computerraum, das Handy von Herrn Krempe in der Tasche. Ich war nicht überrascht, dass Lawrence an einem der Computer zu finden war und lief zielstrebig auf ihn zu. Als er mich sah, zog er unmerklich den Kopf ein.
»Hallo«, begrüßte ich ihn.
»Hallo? Was führte dich zu mir?«
»Also, folgendes. Du schuldest mir ja etwas. Aber bevor ich sage, worum es geht, kannst du mir versprechen, dass ich dir vertrauen kann?«, fragte ich.
Lawrence schaute mich skeptisch an. »Okay?«
»Kein Okay. Versprich es.«
»Versprochen.«
»Gut.« Ich holte das Handy hervor. »Kannst du das Passwort knacken?«
Lawrence warf einen Blick auf Herr Krempes altes BlackBerry. »Das könnte etwas dauern. Er hat kein Zahlen oder Strichcode, die Buchstaben-Zahlencodes sind immer am schwersten zu lösen.«
»Wie lange denkst du dauert das?«
»Kommt drauf an. Wessen Handy ist das?«, fragte Lawrence.
»Keine Fragen?«, erwiderte ich.
»Ich kann das Handy kostenlos für dich knacken. Aber damit ich nicht frage und auch nichts erzähle, müsstest du einen kleinen Aufpreis zahlen.«
»Wie viel Geld willst du?«, fragte ich.
»Weil du so verzweifelst wirkst, gebe ich mich mit dreizig geschlagen«, sagte er und hielt die Hand auf. Dreizig Euro? Das war viel Geld für jemanden wie mich, die fast nie Geld dabei hatte. Ich drückte Lawrence meinen Zehner in die Hand und sagte: »Den Rest geb ich dir am Ende und wenns schnell geht auch noch bisschen mehr.«
Lawrence nickte und strich mit den Fingern über das Handy. »Ich versuche, so schnell wie möglich fertig zu werden.«
»Schwörst du, dass du niemanden etwas davon erzählst? Das ist wirklich wichtig«, sagte ich.
»Bei Python und Java, ich schwöre«, sagte Lawrence und verdrehte die Augen. »Ich bin kein Anfänger.«
»Danke«, sagte ich und verließ den Raum.
Kalter Nieselregen fiel aus den hellen grauen Wolken und benetzte den Boden. Die schon angeschalteten Laternen spiegelten sich in den Pfützen und ich zog meine Jacke enger an mich. Was für ein blödes Wetter. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als erst nach Hause zu fahren und meine Schulsachen abzustellen, damit sie nicht noch nässer wurden. Anschließend hatte ich meinen Arzttermin bei Dr. Bor.
Als ich in meine Straße einbog, blickte ich auf mehrere Streifenwagen. Standen die vor meinem Haus? Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich die Auffahrt entlang rannte. Was wollten die Polizisten schon wieder bei mir?
Als ich bei der Tür ankam, sah ich, wie zwei eine Kiste mit Gegenständen in Plastiktüten hinaustrugen. Mein Mund klappte empört auf.
»Hey!«, rief ich. »Ihr könnt doch nicht einfach meine Schleichfiguren mitnehmen!«
Der eine schaute mich emotionslos an. »Tut mir leid, Kleine. Wir untersuchen hier in einem Mordfall.«
»Und Schleichpferde haben genau was damit zu tun ...?«, hakte ich nach. Darauf bekam ich keine Antwort. Bei dem Gedanken daran, dass sie mein Zimmer durchsucht hatten, wurde mir übel und ich stürmte ins Haus. Es sah noch schlimmer aus, als ich erwartet hatte. Und inmitten dieser Unordnung stand ein etwas niedergeschlagen aussehender Heiner. Als er mich erblickte, warf er mir ein entschuldigendes Lächeln zu.
»Durchsuchungsanordnung ist Durchsuchungsanordnung.«
Dann fiel mir etwas ein und mein Herz sackte mir in die Hose. »Ficken, ficken, ficken!«, fluchte ich laut.
***
Natalie saß an ihrem Arbeitstisch, das Handy neben sich. Doch so wirklich konzentriert war sie nicht und deswegen sehr froh, dass sich im Moment niemand das Leid von der Seele reden wollte.
In ihren Gedanken kreisten die Bilder der Leiche und der Gedanke an die Verhaftung von Biancas Mutter. Mittlerweile fiel es Natalie schwer, diese zwei unterschiedlichen Fälle voneinander zu trennen. Dabei war Herr Krempe zumindest als Mörder für Biancas Vater ausgeschlossen. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass es einen Zusammenhang geben musste. Und so wirklich überzeugt war sie auch nicht von Biancas Argument, dass die Schriftarten nicht übereinstimmten. So etwas konnte man auch fälschen.
Sie dachte daran, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, von zwei nicht aufgeklärten Morden zu wissen. Wenn jeder Mensch von zwei wüsste, müsste es gefährlich viele freilaufende Mörder geben ... bei dem Gedanken erschauderte sie.
Manchmal verfluchte sie ihr mathematisches Gehirn. Dadurch erschienen zwar manche Zusammenhänge sinnvoller, gleichzeitig wussten man leider immer genau, wie schlecht die Chancen standen.
Das Telefon der Hotline klingelte. Natalie sammelte sich und hob ab. Es war ihr vierter Anruf heute, bis jetzt waren es kleinere Kummer der Menschen gewesen.
»Guten Tag, hier die Sorgenhotline, Sie sprechen mit Frau Sommer«, sprach Natalie mit sanfter Stimme in den Hörer.
»Hallo«, sagte eine männliche Stimme und schwieg dann kurz.
»Können Sie das Telefonat zurückverfolgen? Bin ich anonym?«
»Wir garantieren unseren Anrufern, dass sie unbeschwert und ohne jegliche Bewertung von ihren Sorgen erzählen können. Deswegen wird Ihre Nummer weder gespeichert, noch können wir ihre IP-Adresse zurückverfolgen«, gab Natalie wieder. Die Frage wurde ihr nicht das erste Mal gestellt.
»Gut. Dann gibt es nichts, was ich zu befürchten habe.«
Natalie schwieg und wartete darauf, dass der Mann weitersprach. Sie wusste, dass sie ihn nicht drängen durfte, ansonsten würde er auflegen, ehe er sich seinen Kummer von der Seele gesprochen hatte. Erst hörte sie nur das Atmen. Dann: »Es ist schrecklich.«
Ein leises Aufschluchzen.
»Jeder Tag und jeder Schritt tut mir weh. Diese gewaltige Last auf meinen Schultern ... erdrückt mich. Zerstört mich. Macht mich verrückt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich vollkommen durchgedreht bin. Dabei ...«
Der Mann wartete und sagte dann deutlich und beinahe gefasst: »Ich habe jemanden umgebracht.«
Natalie horchte auf. Wenn man gerade darüber nachdachte ... Sie unterdrückte den Impuls, ihr Handy hervorzuziehen, um das Gespräch aufzunehmen. Das durfte sie nicht.
»Ich ... er ... Er war wie ein Bruder. Aber ... ich habe ihn umgebracht. Ich vermisse ihn. Das Schlimmste ist, dass ich mich nicht mal genau erinnern kann. Es ist so lange her. Wenn ich nur ... ich hätte es verhindern können, aber ...
Jetzt habe ich keine Wahl mehr. Ich kann der Realität nicht entkommen. Alles, alles habe ich verloren. Meine Frau, meinen Sohn, meinen besten Freund. Alles.«
Die Stimme des Mannes zitterte heftig und obwohl Natalie wusste, dass sie mit einem Mörder sprach, entwickelte sie ein wenig Mitleid für ihn. Die Stille am anderen Ende der Leitung hielt lange an.
Dann glaubte Natalie ein geflüstertes »Thomas« zu hören, bevor der Anrufer auflegte.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Thomas? Es könnte Zufall sein. Aber ... Thomas war der Name von Biancas Vater gewesen. Der Anrufer hatte selbst davon gesprochen, dass es länger her war. Das konnte doch nur Zufall sein, oder? Das musste Zufall sein, denn sonst ... es würde bedeuten, dass sie gerade mit ihrem Mörder gesprochen hatte.
Aber warum ging er nicht zur Polizei? Wenn er in seinen Worten sowieso schon alles verloren hatte?
Natalie ärgerte sich, dass sie nicht doch das Gespräch aufgenommen hatte. So sehr es auch gegen die Regeln verstoßen und wie sehr sie damit ihren Job gefährdet hätte. Dann könnte sie das Gespräch erneut abspielen und genau darauf achten, ob er am Ende wirklich den Namen geflüstert hatte. Und vor allem hätte sie dann Beweismaterial. Wenn sie doch nur die Stimme erkannt hätte!
Doch, erinnerte sie sich, was war dieses Material wert, wenn sie damit nicht zur Polizei gehen konnte, weil ein unerlaubter Mitschnitt kein Beweismaterial war? Selbst wenn die Polizei jemanden aufgrund diesen Verdachts festnehmen würde, wusste sie nicht, wer der Anrufer war. Leider gab es genügend Menschen, auf die die Beschreibung »männlich, um die vierzig bis fünfzig, hat einen Sohn« zutreffen würde.
Abgesehen davon hatten sie doch erst mitbekommen, dass zumindest ein Teil der Beamten bestechlich sein könnte. Was, wenn die Audio ihnen nur noch mehr Probleme bereitet hätte?
Sie schloss die Augen und ließ das Gespräch Revue passieren. Dann schrieb sie es, so gut wie es ihr Gedächtnis zuließ, auf.
»Ich habe jemanden umgebracht ...«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro