[12] XII. Väter ...
Chris legte auf und schaute mich entschlossen an. »Die Polizei wird schon wissen, wie sie mit einem Mord umgehen soll.«
Wir verließen das Hochhaus und warteten direkt vor dem Gebäude. In dem gemeinsamen Chat mit Ali und Natalie schrieben wir in ein paar Nachrichten, dass wir die Polizei gerufen haben und sie besser noch dort warten, wo sie sind. Etliche verwirrte Nachrichten füllten den Chat, weshalb ich mein Handy ausschaltete und wegpackte. Ich war davon gerade zu sehr überfordert. Die Nachrichten waren wie ein Regen aus Wörtern und auf keines konnte ich mich konzentrieren, weil sie viel zu schnell wieder weg waren.
Die Minuten verstrichen, bis endlich die erste Sirene zu hören war.
»Meinst du, die werden Herr Krempes Wohnung durchsuchen, obwohl wir zwei Jugendliche sind, die keine weiteren Beweise vorlegen können?« Chris zuckte mit den Schultern.
Schon kamen die ersten Polizisten auf uns zu. »Haben Sie den Notruf getätigt?«
Wir nickten gemeinsam und dann übernahm Chris das Sprechen, da ich mich immer noch wie erstarrt fühlte.
»Meine Freundin und ich haben bei unserem ehemaligen Lehrer unsere Klausuren abholen wollen ...« Chris räusperte sich, weil seine Stimme zitterte. »Dann musste Bianca auf Toilette ... und in der Badewanne hinter dem Vorhang lag eine Leiche.«
Der Polizist nickte und zwei der Beamten begaben sich in das Gebäude, um dem sechsten Stock einen Besuch abzustatten.
»Sie sind sich sicher, dass es sich um eine Leiche handelte?«, stellte der Polizist vor uns die nächste Frage.
»Denken Sie, ich kann eine Puppe nicht von einer Leiche unterscheiden?«, warf ich ihm mit bebender Stimme vor.
»Haben Sie oder der Lehrer diesen Treffpunkt vorgeschlagen?«
»Niemand, wir sind einfach zu ihm hin und haben nach der Klausur gefragt ... er wirkte überhaupt nicht so, als hätte er etwas zu verstecken und dann aber die Badewanne ...«
»Woher hatten Sie die Adresse?«, wollte der Polizist wissen.
Mist, wie sollten wir das jetzt beantworten?
»Hat sich herumgesprochen«, beantwortete Chris wage. Der Polizist nickte.
Kurz darauf kamen die anderen Polizisten wieder aus dem Gebäude ... ohne Herrn Krempe. Ich hatte erwartet, ihn mit verbissenem Gesichtsausdruck in Handschellen zu sehen. Oder so, wie man eben schauen würde, wenn man des Mordes verdächtigt wird.
»Nichts«, sagte der eine. »Da ist keine Leiche in der Badewanne gewesen, ebensowenig wie in der restlichen Wohnung. Es ist übrigends gar niemand zuhause.«
Der Polizist vor uns drehte sich langsam wieder zu uns. »Ich habe das Gefühl, dass ihr beide euch ein sehr, sehr schlechten Scherz erlaubt habt ...«
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Nichts? Keine Leiche? Herr Krempe konnte unmöglich die Leiche so schnell weggeschafft haben. Die verdammten Polizisten hatten nicht genau genug nachgesehen! Auf der anderen Seite ... wie hätte man eine Leiche in der Badewanne übersehen können?
»Wie ... nein, ich schwöre!« Ich zitterte immer noch und Chris legte schützend einen Arm um mich.
»Sie haben sich im Stockwerk vertan! Sicher, dass niemand in der Wohnung von Herrn Krempe war? Dann muss er irgendwie geflohen sein! Vielleicht ist er aufs Dach!« Mit der Leiche ...
Der Polizist wandte sich von uns ab und nahm eine Meldung entgegen, von welcher ich nur unverständliches Rauschen mitbekam. Meine Gedanken hingen noch immer an der Leiche. An den toten Augen, an dem geisterhaften Gesicht.
»Euer Glück, dass hier in der Nähe eine Schlägerei gemeldet wurde. Ich werde darauf verzichten, euch zum Revier zu fahren«, sagte er streng, als er sich wieder zu uns drehte.
»Mein gut gemeinter Rat: Macht das nie wieder. Es lohnt sich nicht für einen Streich ein Verzeichnis in der Akte zu bekommen.« Er und die anderen Polizisten entfernten sich wieder und ich drehte mich zu Chris um. Er schwieg und zog mich von dem Hochhaus weg.
»Du hast die Leiche ganz sicher gesehen?«, hakte er nach einer Weile nach.
»Sicher«, ich nickte heftig mit dem Kopf. »Sie lag tot in der Badewanne.«
»Chris, Bianca!«, rief Natalie und sie und Ali liefen auf uns zu. Natalies Augen waren verdächtig rot, sie hatte meine Nachricht also schon gesehen. Sie war wohl genau so mitgenommen wie ich. Wortlos nahm sie mich in die Arme und drückte mich fest.
»Was ist mit den Bullen? Wo ist Krempe?«, fragte Ali und blickte in unsere bedröppelten Gesichter.
»Sie haben die Leiche nicht gesehen«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Wie? Ich meine, Herr Krempe hätte die Leiche und sich selbst ja einfach verschwinden lassen müssen!«
»Oder ...«, begann Chris zögerlich, »... es steckt wirklich mehr dahinter, wie Herr Krempe gesagt hat. Was, wenn die Polizei bestechlich ist?«
»Nein, nein, man wird ja nicht Polizist, um Mörder zu schützen«, widersprach ich. »Das kann einfach nicht wahr sein!«
Daraufhin nahm Natalie mich noch einmal in den Arm. »Alles wird gut ... irgendwie.« In ihrem festen Griff ließ das Zittern ein wenig nach.
»Habt ihr noch was anderes gefunden?«, fragte Ali nach einer Weile, als wir die U-Bahn fast erreicht hatten.
»Ich hab den Briefumschlag nicht gesehen«, sagte ich ein wenig resigniert. »Und die Leiche soll ich mir ja anscheinend auch nur eingebildet haben.«
»Bianca, ich zweifle nicht an dir«, beruhigte mich Natalie. »Du hast sie ganz bestimmt gesehen, das Foto«, sie schluckte, »spricht für sich. Da muss etwas faul an der Sache sein.«
»Scheiße, ich hätte doch der Polizei das Foto zeigen können!«, rief ich und schlug mir frustriert gegen die Stirn. »Dumm, dumm, dumm ... «
»Also den Briefumschlag konntest du gar nicht finden«, erwiderte Chris. »Der lag nämlich in der Küche. Leider hatte Herr Krempe nicht das Bedürfnis, mir den Inhalt zu zeigen.«
»Aber hat er irgendwas gesagt?«
»Er ist meinen Fragen immer sehr geschickt ausgewichen. Das Einzige, was ich herausgefunden habe, ist nichts Neues. Er hat mich ausdrücklich gewarnt, dass die Sache viel Größer ist und wir aufhören sollen, zu suchen.«
»Offensichtlich sollten wir aufhören zu suchen. Da war ja auch eine Leiche in seinem Bad«, schnaubte Natalie. Plötzlich blieb sie stehen. »Wartet mal ... wir sollen nicht suchen, und er hat einer Leiche in der Badewanne ... aber was, wenn er auch noch etwas anderes meinte. Was, wenn diese Leiche nicht die einzige Person ist, die er umgebracht hat?«
Ich schüttelte den Kopf und unterbrach Natalie. »Den Gedanken hatte ich auch schon. Er kann meinen Vater nicht umgebracht haben. Er hat eine ganz andere Schrift als die auf dem Brief und er stand meinem Vater, soweit ich weiß, nicht sonderlich nahe. Aber ich war ja auch erst acht, als er gestorben ist, weshalb ich gar nicht mal genau wissen kann, was für Freunde Papa hatte und ... egal, die Schrift war nicht gleich, er kann es also nicht gewesen sein«, schloss ich. Es würde einfach nicht passen.
»Aber wir sollten es nicht ausschließen, oder?«, setzte Natalie nach.
»Nein, wir können nichts ausschließen.«
Frustriert atmete Chris durch. »Warum war das hier alles andere als eine Sackgasse und trotzdem sind wir kaum schlauer als davor?«
»Wir wissen, dass er irgendwie schuldig ist, dass die Polizei nicht vertrauenswürdig ist, die Sache also groß ist und dass ... äh.« Mir fiel etwas ein. »Wir borgen uns gerade etwas von Herrn Krempe aus.« Vorsichtig zog ich das Handy aus meiner Jackentasche.
»Bist du verrückt?«, stieß Natalie fast reflexartig aus. »Das ist illegal.«
»Denkst du, er wird einen uns anzeigen, während er eine Leiche bei sich liegen hat?«, fragte ich spöttisch. Die Leiche, die die Polizei nicht finden konnte.
»Du bist genial«, hauchte Chris mit leuchtenden Augen. »Wir haben Zugang zu seinen Kontakten, seinen letzten Telefonaten, möglichen Chatverläufen ... Die Antworten, die er uns nicht geben wollte, können wir uns einfach selber holen. Vielleicht finden wir ja sogar noch etwas über die verschwundene Leiche in der Badewanne heraus.«
»Smooth Criminal«, kommentierte Ali anerkennend nickend, während Natalie skeptisch einwarf: »Noch haben wir keinen Zugang.«
»Das lässt sich aber ganz leicht ändern«, sagte ich. »Ich kenn da jemanden, der mir in gewisser Weise etwas schuldet.«
*
Ich nahm kaum etwas von meiner Umgebung wahr, als ich in der Bahn saß, um zu Tamara zu fahren. Wie surreal mir das alles erschien. Ich hatte eine verdammte Leiche gesehen, die zehn Minuten später wie vom Erdboden verschluckt worden war. Kurz hatte ich auch in Erwägung gezogen, dass ich verrückt wurde, aber das Beweisfoto erinnerte mich wieder daran, wie real das leider alles war.
Ich ärgerte mich, dass ich das Foto nicht der Polizei gezeigt hatte. Andererseits war der Beamte so davon überzeugt gewesen, dass dieses Foto sicherlich auch nichts mehr gebracht hätte. Sie hätten es womöglich als Fälschung abgetan.
Nach einer ewig wirkenden Bahnfahrt, einer kleinen Orientierungsschwäche und drei Stockwerken später, stand ich vor Tamaras Tür und klingelte.
Lächelnd ließ sie mich ein und wir begaben uns in ihr Wohnzimmer, um mit den Hausaufgaben zu beginnen.
Die Wohnung war sehr nett eingerichtet und die vielen Fotos an den Wänden erinnerten mich an eine echte, funktionierende Familie. Ich wollte allerdings nicht unangenehm sein oder komisch wirken, weshalb ich nicht vor jedem Bild fasziniert stehen blieb. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Arbeitsblätter vor mir.
Immer wieder drifteten meine Gedanken ab und ich musste mich dazu zwingen, im Hier und Jetzt zu bleiben. Wenn ich unkonzentriert war, brachte es die tote Frau auch nicht zurück. Zum Glück hatte der Schock schon nachgelassen und Tamara dürfte mir von meinem schrecklichen Fund nichts angemerkt haben. Meine Augen schmückten zwar tiefe Ringe und mein Gesicht war immer noch sehr bleich, doch ich konnte es auf die Müdigkeit schieben, sollte mich jemand darauf ansprechen.
Es war erstaunlich, wie gut ich mit Tamara zurecht kam. Auch sie war sehr groß gewachsen und so unterhielten wir uns nach den Hausaufgaben über die Probleme, die damit einhergingen.
»Einfach mal untertauchen in der Menge, das hätte doch was, oder? Stattdessen stechen wir immer hervor wie riesige Zahnstocher«, sagte Tamara gerade.
»Der Vergleich hat was«, antwortete ich schmunzelnd. »Und stell dir mal vor, wie viel mehr Kleidung du im Second Hand Laden kaufen könntest, und stell dir erstmal vor, wie es ist, nicht immer größer als alle Jungs zu sein.«
»Also beim Kleidungsaspekt stimme ich dir zu, aber ich mag es, den Jungs allein durch meine Größe Respekt einzuflößen. Abgesehen davon, ich bin ja der Meinung, man sollte sein Blickfeld sowieso nicht nur auf Jungs beschränken.« Tamara zuckte mit den Schultern und stand dann auf. »Möchtest du auch einen Keks?«
Ich nickte. Während sie aus der Küche Kekse holte, blieb mein Blick erst an einem Schmetterlingsfoto hängen und danach an einem anderen, besonders schönen. Es zeigte ihren Vater und sie vor einem Sonnenuntergang, weshalb man eigentlich nur die schwarzen Umrissen sehen konnte, aber ich glaubte trotzdem, eine Ähnlichkeit zu Tamara zu erkennen.
»Mein Vater arbeitet als Journalist«, sagte sie, als sie meinen Blick sah. »Er mag es, unbekannt zu bleiben, während er über die Stars der Welt schreibt. Ich würde lieber ein Star sein, über den geschrieben wird.«
»Kann ich mir vorstellen«, gab ich lächelnd zurück.
»Was ist mit deinem Vater?«, erkundigte sie sich. Mein Lächeln verkrampfte sich ein wenig.
»Er ist nicht mehr da.« Die Trauer konnte man in meinen Worten und meinem Gesicht lesen. Tamara verstand sofort.
»Vermisst du ihn?« Ihre Stimme zögerlich, als sei sie sich unsicher, ob sie das Thema vertiefen durfte.
»Natürlich. Wahrscheinlich werde ich das immer. Aber es ist nicht mehr so schmerzlich, wie noch vor ein paar Jahren. Irgendwann muss man loslassen.«
Wieder wirbelten die Gedanken in meinem Kopf auf. Wie mein Vater wohl ermordet wurde? Eigentlich wollte ich das gar nicht wissen. Was ich wissen wollte, war, wer der Mörder gewesen war. Aber abgesehen von dem Brief und Herrn Krempes seltsamen Verhalten, der Leiche und den Warnungen hatten wir nicht wirklich irgendwas, wodurch wir voran kamen. War er der Mörder? Aber warum hatte ich ihn nie als Freund von meinem Vater kennengelernt? Was steckte dahinter? Oder zogen wir nur zu voreilig die falschen Schlüsse?
»Wir hatten auch losgelassen, also meine Mutter und ich.« Tamara strich gedankenverloren über die Sessellehne und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Papa und sie haben sich bei einem One-Night-Stand kennengelernt, aber sich dann nicht mehr gesehen. Doch als er erfahren hat, dass er eine Tochter hat, ist er zu uns gekommen.« Sie lächelte leicht und ich drückte ihr die Hände.
»Du kannst dich glücklich schätzen.«
»Ich weiß.«
Wir redeten noch weiter über belanglosere Themen und lachten viel. Ich ging nicht zu spät nach Hause, weil mir die schlaflosen Nächte nachhingen. Aber tatsächlich hatte mir die Zeit mit Tamara gut getan. Wenn auch nur kurz waren diese ganzen absurden Gedanken über den Mord meines Vaters, den Briefumschlag und die Leiche verklungen und diese Stille in meinem Kopf würde ich gerne zurück haben. Eine Mutter und einen Vater zu haben, das war sicher etwas Schönes. Tamara hatte echt Glück, eine vollständige Familie zu haben. Ein wenig beneidete ich sie.
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