[11] XI. Die Leichen im Keller
Natalies Worte und die lärmenden Schüler rauschten an mir vorbei und es fühlte sich beinahe so an, als würde ich im Zug sitzen und ihre Schwärmerei für Finn wäre die Landschaft draußen. Denn so wirklich konnte ich mich nicht auf sie konzentrieren. Viel zu sehr musste ich darüber nachdenken, wie ich das Abendessen am Sonntag verhindern konnte oder wie um alles in der Welt wir diesen Plan durchziehen sollten. Herr Krempe zu besuchen und auszufragen. Was für eine dämliche Idee. Sie konnte ja nur von Chris stammen.
»Bianca? Hörst du mir überhaupt zu?«, holte Natalie mich aus meinen Gedanken. Ich nickte schnell und wandte mich zu ihr, als wir weiter durch den Flur liefen.
Dass Natalie so viel Glück mit Finn hatte, freute mich für sie und ich ermutigte sie dazu, weiter zu erzählen. Finn war nett und im Gegensatz zu Chris oder Natalie hatte er schon Recherchen bezüglich des »Autounfalls« meines Vaters angestellt. Zwar war er nicht weiter gekommen als wir, aber ich schätzte den Gedanken.
Dass er der einzige war, lag vielleicht aber auch daran, dass wir anderen zu sehr von dem Briefumschlag bezüglich Chris' Vater abgelenkt waren. Ganz wie Chris wollte, hatten wir Finn davon nichts erzählt - dafür kannte er Finn nicht gut genug.
»... und heute, als wir Säuren neutralisiert haben, meinte er, dass wir wie eine Säure und Base sind - jeder in einer unterschiedlichen Farbe, doch zusammen neutral und ausgeglichen und in einer wunderbaren Wechselwirkung.«
»Das ist doch wirklich niedlich«, sagte ich. Dabei hatte ich von Chemie keinen Plan und wusste nicht, was sie meinte. Also nickte ich einfach und hörte ihr weiter zu.
Als ich auf mein Schließfach zuging, bemerkte ich, wie eine Person sich am Schloss zu schaffen machte. Ich beschleunigte meinen Schritt.
»Sag mal, geht's noch? Was willst du an meinen privaten Sachen?«, fuhr ich Xuan an. Sie zuckte zusammen und drehte sich dann zu mir.
»Wieso, deine Sachen?«, fragte sie irritiert.
»Das ist mein Spind, vor dem du da stehst, schon vergessen? Wolltest du mir Apfelsaft über mein Zeug kippen, oder was?«
»Nein, wie kommst du denn da rauf?«, fragte Xuan und ich zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Wie ich darauf komme? Das fragst du nicht ernsthaft.«
»Auf jeden Fall, sorry, dass ich es gewagt habe, dein Schließfach mit meinem eigenen zu verwechseln«, sagte Xuan und verschwand dann durch eine der Glastüren. Täuschte ich mich oder war sie gerade freiwillig einer Konfrontation ausgewichen? Was plante sie denn jetzt schon wieder? Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Mit diesen Fragen im Kopf machte ich mich auf zu meinem Unterricht.
*
Ali und Natalie positionierten sich schon eine halbe Stunde früher so, dass sie aus verschiedenen Richtungen das Hochhaus in einem dieser begrünten Pärke im Blick hatten. Chris und ich würden dann einfach klingeln und uns als Post ausgeben. Per Handy wollten wir Kontakt halten, falls irgendwelche seltsamen Verfolger sich dem Hochhaus näherten. Bei diesem Teil hatte Chris die Augen verdreht. Ich hätte absurde Visionen gehabt und so. Ihr könnt euch Chris' reizenden Tonfall bestimmt vorstellen. Aber mirzuliebe hatten Ali und Natalie dann doch versprochen, die Augen offenzuhalten.
Chris und ich liefen auf den Plattenbau zu und blieben vor der Tür stehen. Bis jetzt keine Nachricht von Ali oder Natalie.
»Okay, wir gehen da jetzt als Team rein«, sagte Chris und schaute mir ernst in die Augen. Ich nickte. Dann schlug er vor: »Und das geht am einfachsten, wenn du mir nicht sinnloserweise widersprichst.«
Ich blinzelte perplex.
»Das nennst du Team?« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wie wäre es, wenn ich sage, was wir machen und du hörst zu.«
»Wie auch immer«, sagte Chris und klingelte bei irgendwem.
»Hallo?«, ertönte die Stimme einer Frau blechern durch die Gegensprechanlage.
»Hallo, hier ist die Pin Post«, antwortete ich mit fröhlicher Stimme und das erwartete Surren ertönte. Die Tür war offen.
»In welchem Stockwerk wohnt er eigentlich?«, fragte ich, als ich den Knopf für den Fahrstuhl drückte.
»Das«, sagte Chris und zog mich am Arm zu den Treppen, »werden wir gleich sehen.«
Ich seufzte, als ich Chris die Treppen hoch folgte. Diese kamen mir endlos vor und mit jeder Stufe hatte ich mehr und mehr Zweifel an unserer Aktion. Was genau erhofften wir uns hiervon? Ein paar mehr Informationen? Dafür machte ich gerade den Sport meines Lebens?
Wir hatten wirklich das Pech, bis zum vorletzten Stock hoch laufen zu müssen, bis wir das kleine Klingelschild mit dem Namen »Krempe« fanden. Völlig außer Atem stütze ich meine Hände auf meine Knie und inhalierte anschließend einmal. Chris dagegen sah man die sechs Stockwerke kaum an.
»Mir ist so heiß und ich kann nicht mehr«, schnaufte ich.
»Soll ich dir mein Wasser übers T-Shirt kippen?«, fragte Chris belustigt.
»Haha, sehr witzig.« Dennoch schwappte mit einem Mal die Erinnerung an unseren Kuss hoch und ich biss mir auf die Lippe. Chris zog die Augenbrauen hoch und ich spürte, wie Wärme in meine Wangen schoss. Um ein bisschen Abstand zwischen uns zu bringen, ging ich einen Schritt nach hinten. Chris folgte mir. Was ...?
Meine Gedanken glichen einem Chaos und ich konnte nicht einmal greifen, was ich dachte. Es war eher so, als verschwammen sie alle zu einem großen Etwas. Chris beugte sich ein bisschen vor. Schmetterlinge, Gänsehaut ...
Noch ein bisschen näher kam er mir. So nah, dass unsere Lippen sich fast berührten und ich schielen musste, um seine zu sehen. Ein ganz kleines Bisschen wollte ich ihm entgegenkommen. Ein schrilles Geräusch ließ mich einen kleinen Satz nach oben springen. Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, aufzuschreien.
Chris wich grinsend zurück und nahm seinen Finger vom Klingelknopf, der hinter mir gewesen war.
»Boah, Chris, du Fiesling«, zischte ich flüsternd und huschte die Treppen nach oben zum anderen Stockwerk. Mein Herzschlag schien mir viel zu laut in der Brust und ich war mir nicht sicher, ob er von den Treppen, dem Beinahe-Kuss oder dem Klingeln kam.
Schritte ertönten hinter Herr Krempes Tür, dann öffnete dieser sie. Ich konzentrierte mich auf meine Ohren, um möglichst viel mitzubekommen.
»Sie wollen doch nicht dafür verantwortlich sein, dass ich wegen gebrochenem Fuß im Krankenhaus lande, oder?«, fragte Chris, woraufhin ich hörte, dass die Tür erst weiter geöffnet und dann geschlossen wurde. Zumindest fast.
Schnell schlich ich die Treppe runter und drückte die angelehnte Tür vorsichtig auf. Ich beobachtete, wie Herr Krempe alle Gardinen runterzog und sich dabei die ganze Zeit nervös umschaute.
Dann führte er Chris in die Küche.
»Was machst du hier?«, hörte ich seine Stimme gedämpft. Sein Tonfall klang fast ein bisschen ängstlich.
»Nur ein bisschen reden«, kam Chris' Antwort. Ich betrat schnell die Wohnung und lehnte die Tür hinter mir an.
Dann ging ich leise in das Wohnzimmer. Es roch ein wenig unangenehm, aber ich konnte den Geruch nicht einordnen. Ich überflog die Einrichtung und sah aber nichts, was wie der Umschlag von Johann Lange aussah. Als ich das Schlafzimmer betrat, bemerkte ich einen großen bräunlichen Fleck im Teppich. Da hatte wohl jemand versehentlich Kaffee verschüttet.
Aber auch hier sah ich nichts Spannendes. Anscheinend hatte entweder er oder seine Frau eine Vorliebe für antike Vasen. Dann blieb mein Blick an einem kleinen Ding hängen, welches auf dem Nachttisch lag. Sollte ich ...?
In meinem Kopf hielt ich ein kurzes Plädoyer ab. Dafür, das Handy von Herrn Krempe mitzunehmen, sprach, dass es womöglich gesprächiger war als Herr Krempe. Vielleicht hatte es auch wertvolle Informationen gespeichert. Oder Telefonnummern. Dagegen sprach, dass es illegal war.
Kurzentschlossen griff ich danach.
Als ich wieder in den Flur trat, konnte ich immer noch Stimmen aus der Küche hören. Also begab ich mich zur Toilette. Vielleicht legte Herr Krempe auch immer wichtige Dinge im Bad ab, so wie ich, und vergaß sie dann dort.
Ich erwartete nicht wirklich etwas zu finden. Aber irgendwas irritierte mich, als ich das normale Bad betrat. Was war es? Die komische Farbe des Klopapiers? Oder war es der seltsame Geruch? Seltsame Gerüche sollten doch nichts Unnormales für ein Bad sein, oder?
Je weiter ich in den Raum hinein ging, desto intensiver wurde der komische Geruch. Mein Blick blieb an dem zugezogenen Duschvorhang hängen. Vielleicht ... nein. Oder? Ein Versteck? Vielleicht schmuggelte Herr Krempe irgendwas? Ich hatte keine großen Erwartungen, etwas zu finden, zog ihn aber trotzdem ein Stückchen zur Seite.
Eis. Es war Eis in der Wanne. Helle, glitzernde Kälte. Kurz hatte ich es für Juwelen gehalten.
Ich zog den Vorhang weiter auf.
Füße. Bleiche, elegante, gepflegte Füße. Der beißende Geruch, der mir nun in einer Wolke entgegen schlug war unangenehm süßlich. Bitte lass diese Füße zu einer Schaufensterpuppe gehören.
Ich wollte es nicht sehen. Aber trotzdem zog ich den Vorhang weiter zur Seite. Es war, als würde alles in mir schreien, dass ich es lassen sollte, ich aber keine Kontrolle über mein Handeln hatte. Beine. Frisch rasierte, nackte Beine.
Als ich den entblößten Oberkörper sah, durchfuhr mich ein kalter Schauer. Elegant, blutleer, hell wie die Badewanne.
Wie in Trance zog ich auch das letzte Bisschen Vorhang zur Seite.
Dann das Gesicht. Bleich und leblos. Kiefer und Wangenknochen, die herausstanden, als würde die Haut nur noch Leder sein, welches sich um den Schädel spannte. Der Schnitt an der Halsschlagader war immer noch zu sehen. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich zog den Vorhang blitzschnell wieder zu.
Er hatte sie umgebracht. Herr Krempe hatte die Frau umgebracht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich mit einem leichten Schwindelgefühl umdrehte. Dafür hatte er die Eistüten gebraucht. Deswegen sollten wir nicht weiter nachfragen.
Dann hörte ich, wie die Küchentür geöffnet wurde. Chris' Stimme ertönte.
»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Mein Blick huschte über die Einrichtung des Bades. Keine Versteckmöglichkeit. Und die Tür stand offen. In wenigen Sekunden würde Herr Krempe in das Bad schauen können. Er würde mich entdecken. Er würde mich auch umbringen.
»Ja, ich hoffe, dass ich irgendwie weiterhelfen konnte«, antwortete Herr Krempe. Mist, Mist, Mist.
Ich sammelte mich kurz und stieg dann auf den Rand der Badewanne hinter den Vorhang. Nicht nach unten schauen, nicht nach unten schauen. Eine Landkarte auf dem Duschvorhang. Nicht nach unten schauen.
Die toten Augen schienen mich zu beobachten. Mich spöttisch anzusehen. Ich hätte nie von mir gedacht, dass ich es könnte, länger als ein paar Sekunden mit einer Leiche in einer Badewanne zu sein. Zittrig zog ich mein Handy hervor und machte ein Foto von der Leiche. Schickte es in den Chat. Dann steckte ich mein Handy wieder weg und fokussierte mich auf die Landkarte vor mir.
»Christian«, ertönte jetzt Herr Krempes Stimme. »Ein ernst gemeinter und wichtiger Hinweis: Komm nie wieder hier her. Nie wieder. Ja?«
Chris antwortete etwas, aber das Blut rauschte viel zu laut in meinen Ohren. Amsterdam, rote Linie, Niederlande.
Das Wasser strahlte so viel Kälte ab. Es war tot. Sie war tot. Der Anblick brannte sich in mein Gehirn und ich schluckte, um den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
Die Tür schlug zu. Dann hörte ich Herr Krempe laut durchatmen. Nicht ins Bad gehen, nicht ins Bad gehen, flehte ich.
Die Dielen knarzten unter seinen Schritten, als er zu meinem Glück am Bad vorbei in ein anderes Zimmer ging. Ich hörte nicht, dass er die Tür schloss. Trotzdem - ich musste es versuchen. So lautlos wie möglich stieg ich vom Badewannenrand und huschte zur Tür des Badezimmers.
Mein eigenes Atmen kam mir viel zu laut vor. Dennoch wagte ich einen Blick in den Flur. Nichts. Herr Krempe war nicht zu sehen. Also ging ich auf Fußspitzen zur Eingangstür. Hoffte, dass ich auf keine Diele trat, die knarzte.
Langsam drückte ich die Klinke runter und war froh darüber, dass sie lautlos war. In Schneckentempo öffnete ich sie. Bloß kein Geräusch machen, ermahnte ich mich. Als sie gerade so weit offen stand, dass ich hindurchschlüpfend konnte, ertönte ein lautes Fluchen hinter mir. »Wo ist mein verdammtes Handy?«
Vor Schreck zog ich die Tür hinter mir mit Schwung zu, was ein bisschen zu laut war. Chris blickte mich panisch von der geöffneten Fahrstuhltür an und ich hechtete hinein. Die schweren Schritte von Herr Krempe waren deutlich hinter der verschlossenen Tür zu hören. Gleich war es so weit, gleich würde er uns finden.
Wir hämmerten auf den Knopf fürs Erdgeschoss, aber die Türen schienen sich nicht schnell genug zu schließen.
Als ich sah, wie die Tür zu Herr Krempes Wohnung sich bewegte, sackte mein Herz mir in die Hose. Doch wie, als hätte jemand mein Gebet erhört, schlossen sich endlich die Fahrstuhltüren und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Ich stieß erleichtert die Luft aus, die ich angehalten hatte. Chris sagte etwas zu mir, aber ich hörte ihn nicht. Stattdessen hielt ich mich an der Wand fest und blickte durch die Fahrstuhltüren hindurch.
»Bianca?« Chris rüttelte mich an der Schulter. Endlich löste ich meinen Blick von der Tür und schaute Chris in die Augen.
»Dort...«, begann ich mit zitternder Stimme. »Er hat ... in der Badewanne ... Leiche.«
Ein paar Sekunden breitete sich Stille wie ein Tropfen Blut in Wasser aus. Dann sickerte die Erkenntnis bei Chris durch.
»Was?!«, stieß er fassungslos hervor. »Machst du Witze?«
»Er hat eine Frau umgebracht. Die Kehle ... durchgeschnitten. Sie war nackt. Bleich.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Und so tot.«
Als Chris die Arme um mich legte, bemerkte ich, dass ich zitterte.
»Er hat sie umgebracht«, stieß ich schwach hervor.
»Schhh«, flüsterte Chris in meinen Haaren. »Alles wird gut.«
Dann kam mir ein erschreckender Gedanke. »Was«, begann ich stockend, »wenn Herr Krempe uns folgt und uns auch umbringt?«
»Das wird er nicht. Denn er kann nicht wissen, dass du die Leiche gesehen hast und außerdem hätte er dann Zeugen.«
»Aber er weiß, dass du da warst. Und dass sein Handy fehlt. Was, wenn er es herausfindet?«
»Wird er nicht«, beruhigte mich Chris und strich mir sanft über die braunen Haare.
Ich konnte nichts mehr daran ändern, dass die Frau tot war. Das einzige, was mir übrig blieb, war zu hoffen, dass Herr Krempe es nicht auch noch auf uns abgesehen hatte.
Ein Lehrer, der mordet.
Ein Gedanke zuckte durch meinen Kopf. Was, wenn Herr Krempe meinen Vater umgebracht hatte?
Aber dann fiel mir ein, dass Herr Krempes Schrift nicht die von dem Briefschreiber war. Seine Schrift war viel geschwungener als die, in der das Geständnis verfasst war. Dafür hatte ich lange genug seine schrecklichen Tafelbilder abschreiben müssen und mir die seltsame Warnung zu oft durchgelesen.
Also verwarf ich die Idee wieder. Trotzdem erschien mir manches so viel klarer. Herr Krempes ängstliche Blicke - er hatte Angst davor gehabt, dass jemand es herausfand. Herausfand, dass er ein kaltblütiger Mörder war. So etwas blieb nie ungestraft und hoffentlich nicht unentdeckt.
Hinter mir sagte Chris plötzlich etwas in sein Handy. »Ich habe einen Mord zu melden.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro