06 | Limetten mit Salz
Entstehungszeitraum: Sommer 2024
POV: Annie Cresta
Inhaltshinweis: Kinderwunsch, Verlust des Partners und Traumabewältigung
Es gibt gute Tage und schwierige Tage. Manche sind beides, besonders wenn die Erinnerungen an Verlorenes ihre Schatten aufs Glück werfen. Der zwölfte Geburtstag von Annies Sohn ist keine Ausnahme. Zum Glück gibt es Freunde, mit denen man die Last teilen kann.
Limettensäure prickelt auf meiner Zungenspitze. Es ist eine lustige Empfindung – irgendwo zwischen dem Kitzeln von Bienenflügeln auf blanker Haut und der Begegnung mit einem winzig kleinen Seeigel. Oder sowas in der Art. Ich mag jedenfalls das Gefühl, wenn sich alle Geschmacksknospen auf meiner Zunge vor Schreck zusammenziehen.
Da es so guttut, lutsche ich gleich das nächste Limettenviertel aus. Wieder folgt ein kurzer, wonniger Moment des Nichtdenkens. All meine Konzentration ist ausschließlich auf das Kribbeln und Ziepen im Mund gerichtet. Und natürlich darauf, keinen Kern zu verschlucken, der sich in der Frucht versteckt.
Zufrieden lege ich den Kopf in den Nacken. Das Meer umspielt meine Füße, die vom Steg hinabhängen, und der Himmel über Distrikt Vier ist so blau, dass es gemalt aussieht. Nur ein paar fluffige Wolken zieren den Horizont, als hätte Peeta Mellark sie höchstpersönlich dort platziert. Er hat ein wahres Gespür für solch realistische Schönheit. Sein Gemälde in meinem Wohnzimmer beweist es mir jeden Tag aufs Neue. Allein wie er das Licht der untergehenden Sonne auf meinem Schleier eingefangen hat, obwohl damals in Dreizehn keine geschienen hat ...
Ein kleines Seufzen kitzelt mich im Bauch. Statt ihm nachzugeben, presse ich mit der Zungenspitze auch noch den letzten Rest Limettensaft aus dem Stück.
Heute nicht, das habe ich mir geschworen. Immerhin ist es ein Glückstag. An 364 anderen Tagen im Jahr kann ich trauern und schreien und mich in Tagträumen verlieren – theoretisch. Selbstverständlich habe ich gelernt, mein Leben nicht von den Traumata beherrschen zu lassen. Tatsächlich kommt ein richtiger Zusammenbruch nach all der Zeit höchstens ein Mal pro Monat vor. Umso bedeutender, dass ich jetzt stark bleibe.
Noch ein letztes Mal drücke ich das Limettenviertel gegen meinen Gaumen. Mehr als den bitteren Geschmack der Schale bekomme ich aber nicht geboten. Eindeutiger könnte das Signal nicht sein. Schluss mit den fünf Minuten Realitätsflucht!
Ich schnippe die Schalenreste in das glasklare Hafenbecken. Umgehend stürzt sich ein Schwarm Fische darauf. Mit einem Lächeln schaue ich zu, wie die Fruchtfasern verschwinden. Erst dann ziehe ich die Füße wirklich aus dem Wasser.
Weiter vorne am Steg liegt die Pearl of Hope, mein Schiff. Oder eher unser Schiff, wenn ich mir so ansehe, mit welchem Selbstverständnis Samuel inzwischen die Takelage überprüft. Mein Herz zieht sich genauso zusammen wie eben noch die Knospen auf meiner Zunge.
Wann ist er eigentlich so groß geworden? Es kann doch unmöglich so lange her sein, dass ich mit rundem Bauch hier stand und alleine auf die Scherben meiner Heimat schaute.
»Hey, alles ok da oben?«, rufe ich vom Steg aus.
Samuel lässt seinen Oberkörper nach hinten fallen, sodass er nur noch mit den Knien in den Seilen hängt. Reflexhaft presse ich eine Hand an die Brust, einen kleinen Schrei im Hals – da streckt er mir mit einem entschuldigenden Grinsen den Daumen entgegen. »Keine Sorge, es ist alles startklar, Mama! Ich kann die anderen übrigens schon sehen. Sie sind gleich da!«
Ich weiß nicht warum, aber mir läuft ein Schauer über den Rücken. Haltsuchend schlinge ich die Arme um den Oberkörper, während ich mich um ein Lächeln für meinen Sohn bemühe. »Willst du dann nicht lieber runterkommen? Ich glaube, das Sprudelwasser muss noch aus dem Kühler geholt werden. Den Limettensaft für die Limonade habe ich eben schon gepresst.«
Einen Moment lang fürchte ich, dass er schmollen wird, weil ich ihm mal wieder den Spaß verwehre, doch dann ruft Samuel nach seiner besten Freundin Mara. Genau wie er klettert sie völlig selbstverständlich durch die Takelage und schneller, als ich gucken kann, sind die beiden zurück an Deck. Kichernd verschwinden sie in die Kombüse und ich atme aus.
»Kinder, hm?«, brummt eine raue Stimme hinter mir. »Ohne sie hätten wir bestimmt keine grauen Haare ...«
»Haymitch!« Mein Herz macht schon wieder einen überraschten Satz – diesmal vor Freude.
Distrikt Zwölfs ältester Sieger lacht frech wie ein Hafenarbeiter, bevor er mich mit einem Schulterklopfen begrüßt. »Schön, dich zu sehen, Annie. Kann ich meine Kinder auch gleich bei dir abladen? Die beiden machen mich schon die ganze Fahrt hierher wahnsinnig.«
»Und das sagt ausgerechnet der alte Mann, wegen dessen Abstecher auf den Hob wir fast den Zug verpasst hätten?« Schnaubend schiebt sich Katniss an ihrem einstigen Mentor vorbei. Mit einem Arm drückt sie mich kurz an sich und ich kann förmlich hören, wie sie die Sekunden zählt, aber das ist schon in Ordnung. Wir beide sind nicht die größten Fans von Umarmungen.
In ihrem Schlepptau folgt Peeta, der immerhin ein Schultertätscheln für Haymitch übrig hat, bevor er mich ebenfalls kurz, aber umso fester drückt. »Ich weise jegliche Unterstellungen zurück«, sagt er zwinkernd. »Wir wissen ja alle, wer hier die größte Nervensäge ist, nicht wahr Annie?«
Empört stemmt Haymitch seine Hände in die Hüfte. »Siehst du?«, wendet er sich an mich. »Die beiden sind unmöglich! Ich habe mich nur nach dem perfekten Geburtstagsgeschenk für einen gewissen Jemand umgesehen. Diese beiden allerdings –«
»Ja ja ja, wir haben's verstanden, du hast ein großes Opfer gebracht. Jetzt jammer leise und lass mich durch!« Im selben Atemzug wird Haymitch auch schon unsanft beiseitegeschoben und Johannas Stachelfrisur schiebt sich ins Blickfeld. »Hey! Lange nicht gesehen!«
Meine Wangen werden mindestens ebenso warm wie mein Herz, als ich auch die letzte meiner Freundinnen in die Arme schließe. »Es ist wirklich schön, dass ihr alle hier seid«, murmle ich gegen ihre Jacke, die wunderbar nach Tannennadeln und Harz riecht.
»Na klar, ist doch Ehrensache«, entgegnet Johanna ebenso leise.
»Als wenn wir uns Sammies Geburtstag entgehen lassen! Beetee lässt übrigens seine herzlichsten Glückwunsche und Bedauern ausrichten – leider hält die Arbeit an der neuen Solaranlage drüben in Acht ihn und seine Süße gefangen.« Haymitch zaubert ein reichlich zerknittertes Päckchen aus einer Tasche, das nur von einer halben Rolle Klebeband zusammengehalten wird. »Also, wo ist der kleine Racker hin?«
»Unter Deck, die Getränke holen.« In meiner Kehle macht sich ein Kloß breit und bevor mich noch irgendwer auf das Brennen in den Augenwinkeln anspricht, führe ich die anderen auf das Boot. Oben angekommen, drehe ich mich mit ausgebreiteten Armen einmal um die eigene Achse, obwohl es sich anfühlt, als würden Bleigewichte daran hängen. »Willkommen auf der frisch renovierten Pearl – fühlt euch ganz wie zuhause.«
Anerkennend pfeift Peeta durch die Zähne. »Wow, da habt ihr echt ganze Arbeit geleistet.«
Katniss pflichtet ihm mit einem reservierten Nicken bei. Johanna hingegen kniet sich direkt hin und streicht prüfend mit dem Finger über die Planken. »Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelt sie leise. »Da sind die Bäume daheim wenigstens für einen guten Zweck gefällt worden.«
»Danke!« Samuel schlüpft von hinten unter meinem Arm hindurch und strahlt in die Runde. »Das Deck und die Reling habe ich ganz allein geschliffen und gestrichen!«
Von Haymitch kommt ein kehliges Lachen. »Weise Aufgabenverteilung«, lobt er mich mit einem Zwinkern.
Der Sarkasmus darin verfehlt Samuel. Voller Stolz schiebt er die Brust raus. »Ja, ich bin viel schneller als Mama«, erklärt er. »Vor allem weil sie es hasst, den elektrischen Schleifer zu benutzen, dabei ist der super!«
Supergefährlich, denke ich, schlucke das Wort aber hinunter. Manche meiner Ängste wird Samuel nie verstehen und ich sollte froh sein, dass es so ist. Anstatt diesen Zwist wieder aufleben zu lassen, drücke ich das Gesicht in sein welliges, rot-braunes Haar und atme tief ein. Schon als er ein Baby war, hat der Duft stets geholfen, mich zu erden, und das ist zwölf Jahre später keinen Deut anders. Nur, dass Samuel nicht mehr allzu kuschelbedürftig ist. Immerhin ist er jetzt groß, wie er auch prompt allen Anwesenden verkündet. Einzig Katniss schafft es, die Miene nicht zu verziehen, als sie ihm dazu gratuliert.
Während Samuel sich anschließend gemeinsam mit Mara auf seine Ehren-Tanten und Onkel stürzt, um sie mit Fragen über Distrikt Zwölf und Sieben zu löchern, löse ich die Leinen vom Steg und werfe den Hilfsmotor an. Es ist lange her, dass Sammie und ich auf See waren, und noch länger, dass wir zusammen mit den übrigen Siegern unterwegs waren. Trotzdem hat es nichts von seiner beruhigenden Wirkung verloren, am Steuer zu stehen und dem offenen Meer entgegenzufahren.
Peeta, dem schon früher immer bei dem seichtesten Wellengang etwas grün um die Nase wurde, gesellt sich zu mir. Er lehnt sich gegen den Türrahmen und jetzt entringt sich mir der kleine Seufzer von vorhin doch.
»Tut mir leid«, sagt Peeta sofort. Seine Stimme ist so sanft, dass sie kaum über das Tuckern des Motors dringt. Ohne, dass ich überhaupt etwas sage, wechselt er die Position auf meine andere Seite.
»Schon gut. Es ... es wäre lächerlich zu behaupten, dass das sein Platz ist. Finnick hat schließlich nie einen Fuß auf dieses Boot gesetzt.«
»Aber wenn, dann hätte er früher da gestanden.«
Ich ziehe die Nase hoch, obwohl sie gar nicht läuft. »Früher«, murmle ich. »Vor zwölf Jahren. Kannst du das glauben?«
Stumm schüttelt Peeta den Kopf.
»Es gab Tage, da hätte ich nie gedacht, dass wir beide es so weit schaffen. Dass wir überhaupt je ...« Eine unsichtbare Angelschnur schlingt sich um meinen Hals und zieht sich langsam fester. Aber ich muss es aussprechen, das hat Doktor Aurelius mir beigebracht. Es muss schmerzen, damit ich heilen kann. »Ich hätte nie gedacht, dass wir aus Snows Gefängnis entkommen.«
An meiner Seite zuckt Peeta kaum merklich, als hätte er einen winzig kleinen Stromstoß bekommen. Trotzdem – oder vielleicht eher deswegen – fahre ich rasch fort: »Und noch viel weniger habe ich damit gerechnet, dass eines Tages wirklich Frieden herrschen würde. Keine Hungerspiele mehr ... Egal wie groß die Hoffnung war, den Glauben daran aufzubringen war viel schwieriger, wenn man einfach nur schreien und weinen wollte.«
»Manchmal geht es mir heute noch so«, gesteht Peeta in einer fast schon fröhlichen Tonlage, die so gar nicht zu der Schwere seiner Worte passen will. »Erst heute Morgen dachte ich, dass ich unmöglich in den Zug steigen kann. Einfach nur weil ein paar Ärzte aus unserem Distrikt in ihren weißen Kitteln mit uns am Bahnsteig standen. Ich ...« Er schließt die Augen und atmet tief durch. »Ich dachte, vielleicht würde ich dieses Mal aufwachen und alles wäre nur ein Traum.«
Meine Lippen zittern so sehr, dass ich unmöglich eine Antwort formen kann. Für einen Augenblick sehen Peeta und ich uns bloß an, bevor wir ein ersticktes kleines Lachen teilen. Die Tränen funkeln durch das Sonnenlicht in seinen Wimpern und erinnern mich einmal mehr daran, wie schrecklich schön manche Dinge sein können.
»Aber es ist kein Traum«, sage ich mit so viel Überzeugung, wie ich aufbringen kann. »Unser Leben ist wirklich so viel ... größer gewachsen. Die ganze Trauer ist noch da, aber auch so viel mehr. Ich meine – sieh dir nur Sammie an ...«
Peeta folgt meinem Blick zu Samuel, der gemeinsam mit Mara zwischen Johanna und Haymitch an der Reling hängt und Delfine beobachtet, während Katniss ihnen aus sicherer Entfernung zuschaut. Der Seewind zerzaust seine wilden Haare und alle Sommersprossen auf seinem Gesicht scheinen zu tanzen, wenn er lacht. Er ist entgegen manchen Behauptungen nicht zu einer Kopie von Finnick herangewachsen, sondern trägt mindestens ebenso viel von mir, aber das macht es nicht leichter.
Ich drehe den Kopf, damit der Wind mir durchs offene Fenster die Tränen aus den Augenwinkeln pustet.
Neben mir raschelt Peeta leise, als er sich gegen den Tisch mit Seekarten lehnt. »Du kannst stolz auf dich sein, Annie. Samuel ist alles, was Finnick nie sein konnte – sein durfte. Ich bin mir sicher, er wäre sehr glücklich, seinen Sohn so zu sehen. Und dich.«
Was würde ich mir jetzt ein weiteres Limettenviertel wünschen. Nur ein kleines Zwicken in meiner Zunge, damit es mich nicht überkommt ...
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Aufmerksam, wie er ist, hat Peeta natürlich gleich bemerkt, dass ich mir auf die Unterlippe beiße. Verlegen lasse ich von der schlechten Gewohnheit ab. »Nein«, beruhige ich ihn. »Ich ... ich wollte heute nur nicht ...«
Ganz vorsichtig legt sich eine Hand zwischen meine Schulterblätter. Peeta bewegt sich nicht und für einen Augenblick lasse ich den sachten Druck auf mich wirken.
»Ich wollte heute nicht so viel an ihn denken«, gestehe ich schließlich. »Nicht an die schlimmen Dinge. Das hier ist ein ... ein guter Tag.«
»Gute Tage können auch schwere Tage sein.« Immer, wenn Peeta so etwas sagt, klingt er fünfzig Jahre zu alt. Manchmal liegt so eine Wärme in seinen Augen, dass ich glatt vergesse, was er durchgemacht hat.
»Sammie soll bloß nicht das Gefühl haben, dass es immer nur um seinen Vater geht.« Angestrengt fixiere ich den Horizont, aber das reicht nicht, also reibe ich die Wange an meinem Kleidärmel. »Besonders nicht an seinem zwölften Geburtstag. Der ist schließlich was Besonderes.«
Peeta nickt langsam. »Damit hast du auch wieder recht. Ich fand es immer furchtbar, wie oft meine Mutter mich mit meinen Brüdern verglichen hat, denen ich ihrer Meinung nach nie das Wasser reichen konnte. In solchen Momenten habe ich mir manchmal schon vorgestellt, von zuhause wegzulaufen.« Er stockt kurz und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er die Stirn runzelt, als wäre er von seinen eigenen Worten überrascht. Dann lächelt er mich wieder an. »Du bist eine gute Mutter. Ich bin mir sicher, das sieht Samuel genauso.«
Ich gebe einen undefinierbaren Laut von mir, irgendwas zwischen Wal und Seekuh. »Du weißt nicht, wie viel Hilfe ich gebraucht habe.«
»Nein, aber du hast es geschafft. Weißt du, du bist nicht länger die Annie, die ich in Snows Gefängnis kennengelernt habe. Du warst immer stark, aber jetzt noch viel mehr. Ich finde es bewundernswert, Hilfe anzunehmen.«
Das Verlangen, wieder auf meine Lippen zu beißen, wird drängender. Doch statt ihm nachzugeben, sehe ich zu Peeta, der seine Hand wiederholt zur Faust ballt und dann Finger für Finger lockert. Er scheint gar nicht zu bemerken, was er da tut.
»Wir sind alle mit dem Leben gewachsen«, sage ich leise. »Ich meine ... Haymitch hat endlich seinen Schatten überwunden und Effie angeboten, dass sie bei ihm wohnen kann.«
Die Erwähnung dieser Jahrtausendüberraschung lässt Peeta glucksen. »Das ist wirklich unglaublich. Katniss und ich dachten schon, wir müssten uns bis in alle Ewigkeit um ihn kümmern und jetzt haben wir auf einmal so viel Freizeit ...« Er schüttelt bedächtig den Kopf.
»Wird euch etwa langweilig?«, witzel ich.
Wider Erwarten lacht Peeta nicht, sondern seufzt tief.
»... alles in Ordnung? Ich ... ich wollte nicht –«
»Ja. Es ... ach, es ist nichts.«
»Nichts? Sicher?« Ich kenne Peeta mittlerweile lange genug, um das Zögern aus seiner Stimme herauszuhören. Genauso klingt er manchmal, wenn er an der Realität zweifelt.
Seine Augen sind fest auf den Horizont gerichtet, als er spricht. »Darf ich dir vielleicht doch eine Frage stellen? Auch wenn sie mit Finnick zu tun hat?«
Überrascht halte ich inne. »N-natürlich!«
Peeta atmet ein und strafft seine Schultern. »Wann wusstet ihr, dass ihr ... na ja, dass ihr bereit für ein Kind seid?«
Vor Überraschung formen meine Lippen ein stummes O. »Nun ... so richtig bereit ist man nie. Zumindest hat es mir selbst dann noch unheimlich viel Angst gemacht, als ich herausgefunden habe, dass ich mit Sammie schwanger bin.«
»Aber ihr wolltet das, nicht wahr?«
»Ja. Sehr sogar.« Ich reibe meine Wangen noch einmal am Kleidärmel. »Selbst wenn es mitten im Krieg keine gute Idee war, irgendwann war einfach der Punkt erreicht, an dem wir ... etwas mehr Glauben an das Gute in die Welt bringen wollten. Einfach eine kleine Prise Glück, nur für uns beide.« Nun beiße ich mir doch auf die Unterlippe. Ich schmecke Salz – vielleicht das meiner Tränen, vielleicht auch das des Meeres. »Ich weiß, es klingt kitschig. Und vielleicht ergibt es nicht mal Sinn. Vernünftig war es jedenfalls nicht.«
»Nein.« Peeta schüttelt den Kopf. »Ich verstehe das, irgendwie.«
Wir verfolgen beide, wie Samuel und Mara, nun gelangweilt von den Delfinen, Verstecken mit Haymitch spielen – der sich überhaupt keine Mühe gibt, wie Johanna lautstark kommentiert. Katniss beobachtet das ganze Treiben weiterhin von ihrem sicheren Posten aus. Es ist ein friedliches Bild, eines von der Sorte, die man einfrieren und für immer aufbewahren will.
»Die Welt ist noch lange nicht perfekt«, sage ich in die Stille hinein, »und ich fürchte mich jetzt schon vor dem Augenblick, in dem sie Sammie zum ersten Mal so richtig verletzen wird. Bei den Meeren, ich bin froh, dass die Sache mit dem Schleifgerät gut gegangen ist. Aber wenn er lacht, ist es die Angst trotzdem wert. So werden auch die schweren Tage wieder gute Tage.«
Peeta erkennt seine eigenen Worte offenbar wieder, denn seine Mundwinkel zucken leicht. »Das wäre ein schöner Titel für ein neues Gemälde. Ein guter schwerer Tag.«
Ich erwidere das vorsichtige Lächeln. »Wie würdest du es malen?«
»Ich weiß es nicht. Gerade ist es mehr ein Gefühl als ein konkretes Bild. Manchmal weiß ich es erst, wenn ich die Farbe schon auf dem Pinsel habe.«
»Mh.« Ich nicke, obwohl ich von Kunst keine Ahnung habe. »Das passt wohl gut zu diesem Thema. Denn wenn du mich fragst, gibt es gar keinen vernünftigen Grund für ein Kind. Es ist einfach ein Wunsch, den man nicht rational erklären kann. Oder muss.«
Möwen kreischen und Peeta schweigt. Draußen gibt Johanna Samuel und Mara lautstark falsche Tipps, wo Haymitch angeblich kauert, doch die beiden lassen sich nicht täuschen. Niemand hat einen Blick für die alten Befestigungsanlagen übrig, die vor ihrer Zerstörung den Distrikt vom unendlichen Ozean dahinter abgeschirmt haben. Allein mir jagt wahrscheinlich ein Schauer den Rücken hinab, als wir die Ruinen mit den Brandspuren problemlos passieren.
»Darf ich dir denn jetzt eine Frage stellen, Peeta?«
Er hebt die Schultern. »Das wäre wohl nur fair.«
Ich schlucke und schaue auf meine Hände am Steuerrad, um mich zu sammeln, aber mein Mund ist längst weiter als meine Gedanken. »Wünschst du dir ein eigenes Kind? Zusammen mit Katniss?«
Dass nicht sofort eine Antwort kommt, damit habe ich gerechnet. Nicht aber mit dem leisen Schniefen, das Peeta von sich gibt. Alarmiert schaue ich zurück zu ihm.
»Peeta ...«
Er bewegt ein paar Mal lautlos den Mund, bevor er wieder einen zusammenhängen Satz herausbekommt. »Entschuldige. Mir ist, glaube ich, gerade etwas klargeworden.«
Sein Gesicht ist ganz weiß und ich würde mir Sorgen machen, hätte er nicht diesen Glanz in den Augen, der nichts mit Tränen zu tun hat.
»Ich fürchte, ich wusste bis eben nicht ... dass ich die Antwort auf meine Frage längst weiß.«
Meine Schultern sinken ein Stück herab. Ich lehne mich zur Seite, um ihm unbeholfen den Arm zu streicheln. »Die Verwirrung gehört dazu. Das erste Mal, als ich mir ein Baby mit Finnick vorgestellt habe ...« Bevor ich weitersprechen kann, räuspere ich mich. »Sagen wir so, ich habe alles getan, um den Gedanken zu vertreiben.«
»Aber es hat nicht geklappt ...?«
»Überhaupt nicht.«
»Und Finnick wollte es genauso sehr wie du?«
»Ich glaube, er war in erster Linie überfordert mit dem Gedanken.« Angesichts dieser Erinnerung schmunzle ich glatt. »Er hat auf jeden Fall Zeit gebraucht.«
»Umso schöner, dass ihr euch einig geworden seid.«
»Ja ...« Mein Blick gleitet zu Katniss, die mit angezogenen Knien auf den Holzplanken sitzt und in ihrer eigenen Welt versunken scheint. Es fällt mir immer noch schwer, sie in solchen Situationen einzuschätzen – doch in einem bin ich mir sicher. »Sprich mit ihr«, sage ich zu Peeta. »Nicht mit mir. Erzähl ihr von den guten schweren Tagen und all den Dingen, die keinen Sinn ergeben und ganz und gar unvernünftig sind. Gib ihr die Chance, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen.«
Er presst die Lippen aufeinander und blinzelt ein paar Mal zu häufig. »Ich weiß nicht. Nach allem, was mit uns geschehen ist ... Ich will nicht zu viel verlangen. Ist es nicht schon ein Wunder, dass sie mich überhaupt liebt?«
»Nicht wirklich.« Ich erinnere mich daran zurück, wie ich die beiden vor so vielen Jahren auf den Fernsehbildschirmen zum ersten Mal sah. An das beklemmende Gefühl in meiner Brust, als Katniss diese Beeren zückte und verkündete, dass sie ohne ihn nicht gehen würde. »Ihr stärkt einander. Ergänzt euch. Das braucht sie mindestens ebenso sehr wie du.« Die Erinnerung an Finnick drängt sich wieder auf, doch dieses Mal lasse ich sie gänzlich zu. Es ziept in meinem Herzen und ich stelle mir den Geschmack von Limette vor, der sich mit dem Salz auf meinen Lippen vermischt. »Manchmal war ich auch stark für Finnick. Das ist ein Band, was nicht so leicht bricht. Nicht, wenn man offen und ehrlich miteinander spricht.«
»Das Ding ist ... eigentlich haben wir schon einmal darüber gesprochen. Indirekt. Vor Jahren. Katniss hat sehr deutlich gemacht, dass sie diese Welt keinem Kind antun würde. Wie auch, nach Rue und Prim ...«
»Und Cyle«, ergänze ich leise den Namen meines kleinen Bruders, der noch viel länger tot ist. »Oder Pon, mein Mittribut ...« Ich verfolge Samuels Haarschopf über das Deck. Es sticht in meiner Brust, wie damals, als ich ihn vor zwölf Jahren zum ersten Mal in den Armen hielt und von Glücksangst überwältigt wurde. »Meinungen können sich ändern«, gebe ich schließlich zögerlich zu bedenken. »Natürlich sollst du Katniss nicht überreden ...« Ich halte einen Moment inne, um meine Gedanken zu sammeln. »Ihr könnt gemeinsam darüber nachdenken, ob sich die Situation verändert hat. Ich meine – heute ist der beste Beweis, oder? Zwölf Jahre sind vorbei. Zwölf Jahre in Frieden. Samuel drohen keine Hungerspiele.« Während ich spreche, wird mir der Hals ganz eng. Vielleicht habe ich es bis eben selber nicht begriffen. Doch es ist wirklich wahr. Mein Sohn wird in einer Welt ohne Furcht groß. Er darf älter werden als Cyle und Pon je waren.
Peeta betrachtet mich einen Moment hin- und hergerissen, dann ergreift er meine Hand am Steuer und drückt sie. »Du hast recht. Vielleicht ist das Licht inzwischen hell genug, um wirklich daran zu glauben.«
Wie ich Peeta so anlächele und gegen die Tränen anblinzele, fühle ich mich gleich doppelt so sehr nach einer zufriedenen Mutter. »Finnick würde das auf jeden Fall behaupten«, schniefe ich. »Und ich bin mir sicher, er ist stolz auf uns alle. Egal wie eure Entscheidung sein wird, ihr werdet etwas finden, das euer Leben bereichert. Da bin ich mir sicher.« Verlegen tupfe ich mir noch einmal die Wangen. Inzwischen sind wir längst auf dem offenen Meer angekommen und der Distrikt hinter uns ist zu einem schmalen Strich am Horizont geschmolzen. Mit einem tiefen Atemzug schalte ich den Motor ab. »Na komm, wir sollten feiern.«
Es ist unglaublich, wie schnell Peeta sein warmes, gutmütiges Lächeln wiederfindet. Sobald wir uns zu den anderen gesellen, merkt man ihm das aufwühlende Gespräch kaum noch an. Sogar seine Hände sind vollkommen ruhig, als er mir hilft, die Limettenlimonade auszuteilen.
Der Ozean gibt sich zudem alle Mühe, den Tag bilderbuchhaft perfekt zu machen. Kaum eine Welle kräuselt das endlose Blau, während am Himmel die Schäfchenwolken dahinziehen, deren Formen Samuel und Mara auf dem Rücken liegend kommentieren. Peetas selbstgebackener Geburtstagskuchen – türkis, verziert mit Fischen und Meermenschen – schmeckt herrlich süß und passt hervorragend zu der sauren Limonade.
Am Ende gesellt sich auch das Salz auf meinen Lippen wieder dazu, aber das ist schon okay. Zuerst holt Johanna ein Fischernetz hervor, in das sie und die anderen gemäß einer abgewandelten Tradition aus Distrikt Sieben all ihre Wünsche für Samuel eingeknüpft haben (und das laut Haymitchs Worten das Hässlichste auf Erden ist, was er je geschaffen hat); dann singt Katniss eine ganze Reihe an Liedern aus Zwölf. Die größte Überraschung kommt allerdings von Samuel selber. Mit einem reichlich verlegenen Ausdruck ziehen Mara und er einige wunderhübsche Jakobsmuschelschalen hervor, für jeden von uns eine.
»In der Schule hat die Lehrerin erzählt, dass die Menschen in Vier früher einen Brauch hatten«, sagt er und reibt sich die Nase. »Wenn ein Kind zwölf wurde, haben die Eltern das Meer mit den schönsten Muscheln oder anderen Reichtümern gebeten, es noch nicht ... davonzutragen.« Vorsichtig blickt er zu Mara und sie nickt ihm zu. »Ich ... also eigentlich wir ... dachten, dass wir vielleicht sowas Ähnliches machen könnten. Nur dass wir etwas für Papa auf die Muscheln schreiben und dann ... dann weiß er, dass es uns gut geht. Dass er keine Angst haben muss.«
Spätestens in diesem Augenblick lassen sich meine Tränen nicht mehr aufhalten. Ich schließe Samuel in die Arme und drücke ihn, so fest ich kann. Früh genug wird er wieder mit den Augen rollen, wenn ich ihm verbiete durch die Takelage zu klettern oder das Schleifgerät zu benutzen, doch dann muss ich nur hieran denken.
»Ich hab dich so lieb, Sammie«, flüstere ich. »So, so, so unendlich lieb.«
Es ist wahrlich ein guter schwieriger Tag. Einer von vielen, die noch kommen werden, jetzt wo ein Zwölfjähriger ohne Angst groß werden darf. Wir holen zurück, was das Kapitol uns genommen hat. Stück für Stück, mit Salz auf den Lippen und Lachen im Herzen.
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