[04] Okta
Mit der Sonne des nächsten Tages im Rücken schlendert Miyu die Straßen entlang. Ihr Blick schweift über die bunt gekleideten Menschen und deren glücklichen Mienen zu den eher farblosen Häusern aus Holz und Stein. An den meisten hängt ein Stoffbanner herab, der den Laden im Inneren des Hauses anpreist. Zwischen den Häusern zieren pastellfarbene Girlanden den Himmel.
An die koreanische Architektur und den bunten Straßenschmuck kann sich die junge Japanerin gewöhnen. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie in der Kaserne. Zwischen Blut und Männerschweiß ist nicht viel Platz für eine fröhliche Dekoration.
Genüsslich nimmt sie sich einen weiteren Reiskuchen aus der Tüte und beißt die Hälfte ab. Es gibt in Silla vielleicht keine Fischkuchen, wie Miyu sie aus Japan kennt, aber die Mochis sind besser als nichts. Die Bohnenpaste in der Mitte des Reiskuchens ist gewöhnungsbedürftig, aber nach dem ersten Schock schmeckt auch diese.
Weiter essend folgt Miyu ihrem Pfad des Schicksals, der sie vor den bewachten Eingang des Hauses Okta führt. Das Haus ist im abstrakten Stil gebaut und hebt sich von der restlichen Stadt ab. Das Licht aus dem Inneren glimmt durch die Außenwände und lässt das gesamte Gebäude nahezu erstrahlen.
Okta ist der wohl begehrteste Treffpunkt der jüngeren Obrigkeit, ein Zentrum für Klatsch und Tratsch und für Miyu die Zentralisierung der Druckmittel aller Minister. Denn welche Bedrohung wirkt besser als das Leben ihrer Erben?
Durch den Hintereingang schleicht sich die Samurai in das Gebäude und findet sich in einer großen Halle wieder. Es ist voll, aber die Fläche in der Mitte des Raumes wäre für einen Tanz groß genug. Auf der anderen Seite des Raumes sieht sie eine Bühne mit Tänzern. Von der Seite wird Musik gespielt. Eine Bedienstete balanciert ein Tablett bunter Getränke und drückt sich an Miyu vorbei. Diese verfolgt mit aufmerksamen Augen den Weg des Personals und erkennt Sitzgelegenheiten für mehrere kleine Gruppen. Am Rand des Saals führen einzelne Flure tiefer in das Gebäude zu Einzelräumen, wenn die Gesellschaft eine privatere Umgebung bevorzugt. Ein paar Zierwände aus filigran geschnitztem Holz bilden eine Art Gang, der an den Außenwänden verläuft. Vereinzelt trennen sie auch Gruppen der Sitzgelegenheiten.
Miyu durchschreitet unbemerkt den Raum und nimmt sich in einer Drehung ein Glas von dem Tablett der Angestellten. Mit einem Schluck, dessen Süße Miyu überrascht, setzt sie sich an den Rand eines Gruppenplatzes, an dem zwei Mädchen kichernd die Köpfe zusammengesteckt haben. Vereinzelt blicken sie zu einer Männergruppe in ihrer Nähe, um danach noch etwas lauter zu kichern.
Miyu wendet sich von den beiden Mädchen ab und überblickt die Halle. Ihr Platz liegt so weit außen, dass sie nicht sofort von allen bemerkt werden sollte, aber so weit zentral, dass sie alles überblicken kann. Zu ihrem Glück ist sie aber nicht die Einzige, die an dem Tag ihren Weg nach Okta gefunden hat.
"Banryu!", ruft eine Frau und zieht die Aufmerksamkeit aller auf den Eingang. Dort treten gerade vier Männer ein, angeführt von einem jungen Krieger in rot-schwarzer Robe.
Das muss Banryu sein, denkt sich Miyu und überblickt neugierig das Spektakel. Die Männer schreiten unter den Schreien der Frauen den Gang entlang, der sich automatisch für sie gebildet hat.
"Sooho ist auch da!", ruft eine andere Frau.
Sofort bildet sich ein weiterer Gang, der Miyu einen Blick auf die Neuankömmlinge aus der anderen Richtung ermöglicht. Dort stehen drei andere junge Männer, die das Aufjauchzen der Frauen sichtlich genießen. Vorne lächelt ein charmanter Mann zu der sprechenden Frau, welche daraufhin ihr Gesicht mit einem Fächer bedeckt und glücklich zu Boden sinkt. Ihre Freundinnen an ihrer Seite zieht sie mit sich. Schwächlinge. Wer schon bei einem Lächeln einknickt, wird niemals einen Kampf im Leben gewinnen können.
Der junge Mann mit dem Namen Sooho lässt noch weitere Frauenherzen auf dem Weg bis zur Mitte erweichen. Dort trifft seine Gruppe allerdings auf die von Banryu und das schmeichelnde Lächeln erstarrt.
"Muss ich unbedingt dein Gesicht sehen?", fragt er spöttisch und dreht sich zu seinen Begleitern, "Wenn ich ihn sehe, kommt mir die Suppe von vor drei Jahren hoch."
Die Frauen in Miyus Nähe flüstern in nicht ganz so leisem Ton ihre Schwärmereien, aber Miyu interessiert etwas ganz anderes. Neugierig richtet sie sich auf und blickt erst zu Banryu und dann zu dem Begleiter hinter Sooho. Beide tragen eine eiskalte Miene, als würden sie die weibliche Aufmerksamkeit nicht genießen. Beide passen auf die Bescheibung von Park Youngshils Sohn. Wer von Euch ist es aber? Unglücklicherweise hat sie den Namen noch nicht herausfinden können, aber alleine die Tatsache, dass er einen Sohn hat, macht Youngshil angreifbar.
Sooho fängt den Blick von Miyu auf und zwinkert ihr zu. Die Frauen vor ihr geben sich ihm jauchzend hin, aber Miyu zieht nur belustigt eine Augenbraue nach oben und ihre Mundwinkel ziehen sich bedrohlich nach oben. Macho. Es ist das Lächeln einer Katze, die bereit für ein Spiel mit der Maus ist.
Wer seid Ihr?, fragt Sooho sich und mustert die fremde Schönheit. Euch habe ich noch nie hier gesehen.
Erst als die Frauen über Banryu schwärmen, reißt er sich von der Fremden. Mit einem letzten Blick zu den Frauen und einem gemurmelten "Das nervt wirklich" führt er seine beiden Freunde aus dem Saal zu einem der Privaträume.
Auch Banryus Gefolge verschwindet hinter der Tür eines anderen Raumes und die große Halle beruhigt sich wieder. Das Gesprächsmaterial bleibt allerdings bei den beiden jungen Männern. Miyu holt sich ein weiteres Getränk und lauscht dem Gemurmel und der Musik.
Stück für Stück verschwinden ein paar Frauen in einem der Hinterzimmer, in dem Ahro geduldig auf ihre Kundschaft wartet. Als sich genug Publikum gesammelt hat, fängt sie an, eine neue Geschichte zu spinnen, die die Frauen vor ihr einsaugt und mit den Figuren mitfiebern lässt.
Aber nicht nur die Frauen halten gespannt die Luft an. Die männliche Gesellschaft in den Einzelzimmern drückt ihre Ohren an die Wand und lauscht dem schamlosen Liebesgeschnulze.
Ahros Worte dringen sogar in den Raum des versteckten Königs und lullen ihn erneut in die Geschichte ein.
Miyu, die noch immer in der großen Halle sitzt, ist gelangweilt. Es sind keine bedeutenden Kinder der Minister zu sehen und die Gespräche über Mode und Männergeschmack helfen ihr nicht, das Regiment Sillas zu stürzen. Gerade als sie aufstehen und die Halle verlassen möchte, erblickt sie doch eine Auffälligkeit in der Elite. Ein schlicht gekleideter Mann blickt suchend über die Menschen. Er war noch nie hier, aber er kommt mir bekannt vor. Das ist klar an seinem Gesicht abzulesen. Er gehört nicht hierher.
Dieser Meinung scheint auch ein anderer zu sein, der den fremden Mann ruckartig zu sich zieht und dann auf die freie Bodenfläche schubst. Kangsung wurde eben von Banryu gedemütigt und sieht in dem fremden Mann ein perfektes Opfer, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Brüllend schlägt er auf ihn ein. Schlecht ausgeführt, denkt sich Miyu und schaut sich missbilligend weitere Schläge an.
Nach einer Weile lässt Kangsung atemlos von dem Fremden ab, der blutend auf dem Boden liegen bleibt. Und so eine schlechte Kondition. Unter den Samurai wirst du nicht einmal drei Tage überleben, unerfahrenes Frischfleisch.
"Warst du das? Banryus Müll?", ertönt eine bekannte Stimme von der anderen Seite. Sofort bildet sich erneut ein großer freier Platz in der Mitte, damit jeder dem Spektakel zusehen kann. Sooho ist aus dem Zimmer in die Halle zurückgekehrt. Hinter dem Angesprochenen erscheinen auch die restlichen Herrschaften.
"Kangsung, was ist los?", erkundigt sich einer von ihnen, als er die wütenden Blicke und den blutenden Mann sieht. Banryu drückt sich an ihm vorbei und wirft selbst einen Blick auf die Szene.
"Verdammt, was für ein Glück, dich zweimal an einem Tag zu sehen", kommentiert Sooho sofort sein Auftreten und mit einem Seitenblick sucht er bei den umstehenden Frauen eine Reaktion. Sein Blick findet Miyu, wird aber von ihrer eisigen Miene enttäuscht.
"Jeder ist seines Glückes Schmied. Fass mich nicht an, wenn du heil heimkommen willst", spricht Banryu ruhig zu ihm, aber legt seinen gesamten Hass in diese Worte.
"Du mieser...", beginnt Sooho und will auf ihn zustürmen, aber seine Freunde halten ihn erfolgreich zurück.
Oho, leicht reizbar, bemerkt Miyu. Aber kannst du auch so kämpfen?
Kangsung drückt den Kopf des fremden Mannes fester auf den Boden. Der da kann es nicht.
Von dem Streit angelockt, laufen die Frauen aus Ahros Erzählung in die Halle und füllen die Zuschauerplätze. Genervt steht nun auch Miyu auf, um nichts zu verpassen.
"Es ist kein Verbrechen, einen ohne Zutrittserlaubnis zu töten", spuckt Kangsung ihm entgegen und wendet sich dann an seine Freunde, "Also kann ich diese Ratte töten, oder?"
Hmm, gesetzlich vielleicht schon, aber deine Fähigkeiten überschätzt du wohl bei weitem. Hast du überhaupt den Mumm, einen Mann zu töten, oder heulst du dich danach bei Mami aus?
Amüsiert sieht Miyu zu, wie er sein Schwert zieht. Sie kichert leise, was ihr den Blick von Sooho und seinen Freunden beschert. Spielerisch hält sie ihren Blicken stand. Ich habe auch keine Zutrittserlaubnis. Soll ich jetzt auch sterben? Wenn einer von euch das Schwert auf mich richtet, bin ich die einzige, die hier lebend hinausspazieren kann. Schwachmaten.
"Wie kannst du es wagen, Sillas Knochenrangsystem zu ignorieren und hier reinzukriechen? Individuen wie du sind nicht mehr als Insekten. Lebe wohl."
Kangsung holt mit dem Schwert aus, doch bevor er es hinabsausen lassen kann, trifft ihn etwas an der Stirn und er taumelt zurück. Vor dem Gesicht des am Boden liegenden Mannes landet ein Würfel. Aber es ist kein gewöhnlicher Würfel mit sechs Seiten und Punkten. Diesem Holzwürfel wurden die Ecken abgeschnitten, dass er nun vierzehn Seiten hat - sechs kleine Quadrate, die von acht Dreiecken miteinander verbunden sind. Auf jeder kleinen Fläche wurden die Würfelaugen mit feinen schwarzen Schriftzeichen ausgetauscht.
"Verflucht, wer war das?", brüllt Kangsung und sieht sich wütend um. Seine Suche endet bei dem einzig anderen Mann im Raum, der die gleiche schlichte Kleidung trägt. Sein Gesicht wird von einem Strohhut verdeckt, der tief in die Stirn gezogen wurde. Dich kenne ich doch, schmunzelt Miyu und erinnert sich an den Zusammenstoß, der ihr einen Kohlkopf eingebracht hatte.
"Ich glaube, im Leben geht es um Glück", spricht der Strohhut und betritt den Raum, "Aber heute habt ihr keines."
Latent ängstlich zeigt Kangsung mit seinem Schwert auf den Fremden. "Wer seid Ihr?"
Aber der Neuankömmling lässt sich davon nicht beeindrucken und schlendert weiter ruhig auf ihn zu. "Ihr geht mir auf die Nerven", murmelt er bloß.
"Sagt, wer Ihr seid!", befiehlt der Bewaffnete, aber mit der höheren Lautstärke erhöht sich auch die Stimmlage Kangsungs. Dies verleiht ihm neben dem tiefenentspannten, mysteriösen Fremden eine kindliche Lächerlichkeit.
"Geht euch nichts an."
Der Fremde bleibt vor dem blutenden Mann stehen und kniet sich zu ihm. Ruhig greift er zu seinem speziellen Würfel. "Geht es dir gut?", flüstert er. Der blutende Mann nickt. "Mir aber nicht."
"Du unverschämter...", beginnt Kangsung, greift aber dann auf die Waffe in seiner Hand zurück, welche er in die Richtung des Fremden schwingt, anstatt seine Beleidigung zu vollenden. Der Fremde hingegen reagiert erstaunlich schnell und agil auf den Angriff. Er duckt sich unter dem Schwert hindurch, schiebt seinen Freund auf Seite und entwaffnet Kangsung mit schnellen Griffen. Dieser ist von dem Können seines Gegenübers überrumpelt und fällt vor seinen Freunden selbst auf den Boden. Geschockt sieht er den Fremden mit seinem Schwert an.
Dieser wartet nicht lange, dreht sich einmal um die eigene Achse und hinterlässt mit der Schwertspitze eine aufgekratzte Spur im Holzboden.
"Ihr tötet Leute ohne Zutrittserlaubnis, ich Adlige, die diese Linie überqueren." Es ist still im Raum, aber die Spannung nahezu greifbar.
"Wenn Ihr Euch traut, nur zu. Ich schaffe Euch alle."
Nicht mich, grinst Miyu. Der Mann in der Mitte des Kreises scheint ein guter Kämpfer zu sein, aber Miyu ist seit ihrer Geburt als Samurai trainiert worden und hat mehr Menschenleben auf ihrem Gewissen, als in diese Stadt passen - wenn man von den Provinzen und Regionen absieht, die sie ins Chaos gestürzt hat.
Zu ihrem Erstaunen erhebt sich Kangsung erneut und läuft in den gezeichneten Bereich. Schlechter Kampfstil, schlechte Ausdauer und jetzt auch noch absolut dummes Verhalten. Kangsung, du bist die Torheit in Person. Hast du in deiner Kindheit deine eigenen Hirnzellen gefressen oder woher kommt die enorme Selbstüberschätzung?
Wie erwartet, braucht der Stohhutträger nicht lange, um Kangsung mit der Schwertscheide erneut aus dem Kreis zu prügeln.
"Was wird das?", schaltet sich nun Sooho ein, der bis dahin zum einen stumm das Geschehen verfolgt hat und zum anderen immer wieder zu der fremden Frau in der Menge blicken musste. Ihre Anwesenheit ist widersprüchlich. Er sah in der gesamten Hauptstadt keine Frau, die eine Stärke ausstrahlt, die sogar alle Männer in den Schatten stellt. Was versteckt sich hinter diesem überheblichen Grinsen?
Seine Konzentration fokussiert er aber wieder auf die Männer vor ihm. Er blickt seinen größten Widersacher direkt an: "Dein Freund ist nicht nur körperlich verletzt, sondern auch emotional. Du bist ein Idiot ohne Loyalität."
Doch Park Banryu ist nicht nur ein Idiot ohne Loyalität, sondern auch ein Idiot ohne Emotionalität.
"Wenn du dich so in einen Kampf wirfst, wirst du nur mit Schlamm beschmutzt. Erbärmlicher Verlierer", kommentiert er Kangsungs Aggressionshandlung und verlässt den Raum.
"Will noch jemand die Linie überschreiten?"
Es bleibt dieses Mal still, sodass der Fremde mit dem Strohhut seine Waffe fallen lässt und nun seinem Freund aufhilft. Auf seinen Schultern gestützt verlassen die beide das schweigende Okta. Bloß ein letzter Ruf durchreißt die Stille.
"Denkst du, du kommst damit davon? Die Soldaten werden dir den Kopf abschneiden!"
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