[02] Silla
Nach der Meeresüberquerung betritt Miyu die Landesgrenze zu Silla. Auf dem Schiff hat sie ihre lederne Samurairüstung mit einem blauen Reisegewand im koreanischen Stil gewechselt. Schnellen Schrittes verlässt sie das Deck und wendet sich der Hauptstadt zu. Seorabol.
Wer nennt schon seine Hauptstadt wortwörtlich Hauptstadt?, denkt sich Miyu und zieht sich den Umhang enger. Die frische Meeresluft dringt durch die dünnen Stoffe und lässt sie frösteln. Wenigstens ist Silla das nächstgelegenste Land der koreanischen Fragmentierung, weswegen Miyu nur ein paar Tage und ein ausdauerndes Pferd braucht, um ihr Ziel zu erreichen.
Als Händlerin auf der Durchreise betritt Miyu wenig später die Hauptstadt. Im Gegensatz zu Sillas Dörfern ist Seorabol bunt. Die Menschen sind in farbenfrohe Stoffe gewickelt und die Händler preisen verschiedenste Waren an.
Es gibt süßlich duftende Früchte, glitzernde Perlenketten und melodisch klingende Instrumente. Es ist alles dabei, was das Herz des koreanischen Adels begehren kann.
Neugierig blickt Miyu sich um. An einen Stand mit kleinen Anhängern tritt sie näher. Die Vielfalt der Auswahlmöglichkeit ist nahezu erschlagend. Fasziniert schaut sie sich jedes Teil genau an, doch ihre wahre Aufmerksamkeit lenkt sie auf die Gespräche um sie herum.
Miyu braucht nicht lange auf dem Marktplatz, um alles Wesentliche über Sillas Machtgefüge zu verstehen. Es steht nicht gut um Königin Jiso. Freund und Feind leben in der Hauptstadt. Doch eine Rückkehr von König Jinheung hüllt sich in Schweigen.
War die chinesische Botschaft gelogen?, fragt sich Miyu, als sie bis zum Abend nichts Neues erfahren hat.
Unzufrieden streift sie durch die dichten Straßen und lässt unbemerkt beim Bäcker ihr Abendessen mit gehen. Selbst bei Dämmerung ist Seorabol wach.
Miyu lässt sich auf einem der Dächer nieder und blickt in Gedanken auf das koreanische Volk herab, während sie ihr frisch gebackenes Diebesgut isst.
"Park Youngshil", flüstert sie den Namen, den sie am meisten herausgehört hat.
Park Youngshil ist ein älterer Koreaner, der die Position des höchsten Ministers innehat. Und da das Schicksal es gut mit Miyu meint, gehört er nicht zu den Königstreuen.
Mit Sicherheit führt er eigene Pläne, die Königin und ihre Blutslinie zu stürzen, aber an diesem Tag hat eine weitere Schachfigur das Spielfeld in Silla betreten und sie hat ganz andere Pläne.
Bist du die Hand, die emsig ihre Spielfiguren schiebt, oder doch nur ein Bauer in der Hand eines anderen?
***
Während die Nacht voranschreitet und Miyu sich einen versteckten Platz zum Schlafen sucht, macht die Königin ihren ersten Zug im Spiel um die Thronfolge. Sie trifft einen Freund des alten Königs, Kim Wihwa, der in ihrem Namen Sillas neue Kriegsmacht aufbauen soll. Königin Jiso beginnt ihren Plan Hwarang.
Doch auch in ihrem Unwissen betreten andere Spielfiguren die Hauptstadt. Im Schutze der Nacht durchschreiten König Jinheung und sein Wächter Paoh die Tore der Hauptstadt. Nach zwölf Jahren der Abwesenheit kehrt der verschwundene König in sein Reich zurück und fordert seinen Thron. Geschwind galoppieren sie an der einzigen Wache des Abends vorbei und beziehen ihr Quartier in einem einfachen Gasthaus.
Doch nicht nur ein königlicher Spross und sein Schützer dringen in dieser Nacht in die Hauptstadt ein. Unerkannt erklimmen zwei Bauern die Schutzmauer Seorabols und schlüpfen durch die Sicherheitsvorkehrung des Adels. Sie werden von der Hoffnung auf ein besseres Leben und dem festen Vorsatz, den vermissten Sohn mit seiner Familie zu vereinen, getrieben. Makmoon und sein Freund Gaesae, Hundevogel.
***
Am nächsten Morgen erwacht die Stadt erneut zum Leben. Bäcker backen ihr täglich Brot, Händler stellen ihre Waren auf und Handwerker machen sich an ihr Tagewerk. Und der Adel? Die jungen Damen der Gesellschaft treffen sich, um auf den Straßen zu flanieren und über die jungen Herren der Gesellschaft zu tuscheln. Diese wiederum treffen sich für ein Kräftemessen jeglicher Art; sei es ein Kampf, ein Fußballspiel oder das Imponieren eben genannter weiblicher Gesellschaft. Die älteren Vertreter höheren Ranges tagen als Minister der Königin oder sprechen bei einem Tee über die neusten Ereignisse in der Stadt.
Miyu schlendert genüsslich durch die belebten Straßen und saugt die Gespräche anderer in sich auf. Ihre Anwesenheit in Silla ist rein beruflich, aber sie genießt die Freiheit eines Einzelauftrages und das Wissen, jedem, den sie trifft, überlegen zu sein.
Unwissende kleine Ameisen.
Ihre Füße tragen sie erneut zum Marktplatz, der an diesem Tag sogar gefüllter ist als am Gestrigen. Schnell wird ihre Aufmerksamkeit von der Menschentraube auf eine junge Frau gelenkt, die in der Mitte des Kreises steht und theatralisch eine Liebesgeschichte erzählt.
Miyus Blick schweift über die Zuhörer. Sowohl Frauen als auch Männer sind in den Bann dieser Geschichte gezogen und hängen gebannt an den Lippen der Erzählerin. Etwas abseits der Menschenmenge aber noch immer im hörbaren Bereich, sitzt ein junger Mann auf einer Bank. Sein Rücken ist der Erzählerin zugewandt. Die Augen sind geschlossen, als würde er schlafen.
Merkwürdiges Volk, die Koreaner, denkt sich Miyu und stibitzt dem stillen Bewunderer der Geschichte ein paar Münzen aus der Tasche. Das Essen des Tages ist gesichert.
Als Liebesgeschichtenopponent lässt Miyu den Marktplatz schnell hinter sich und widmet sich den Tee trinkenden Damen. Mit ihrem neu erlangten Geld kauft sie sich einen Tee und lauscht den Gesprächen über die neusten Modeschnitte, um mit etwas Glück in einem Nebensatz etwas über diesen Park Youngshil, die Königin oder das Knochenrangsystem zu erfahren.
Das Knochenrangsystem ist die Stütze der hiesigen koreanischen Gesellschaft. Es ist ein Kastensystem, das auf der Erbschaft des koreanischen Adels beruht. An der Spitze steht die Königsfamilie, die Heiligen Knochen. Knapp darunter sind die Aristokratenfamilien, die Wahren Knochen. Diese beiden Ränge bilden die oberste Elite, die die politische Macht innehat. Unter ihnen befinden sich drei weitere Ränge des niederen Adels und werden durch unterschiedliche Farbakzente in ihrer Kleidung differenziert. Rot, blau und grün. Unter diesen Adligen stehen die normalen Bürger, die wiederum in drei Ränge unterschieden werden können, aber diese haben in der Hauptstadt keine Zutrittserlaubnis. Bloß Händler sind für befristete Zeit geduldet.
Aber unter der seidigen Kleidung des Adels verstecken sich zwei Namenlose in der Hauptstadt, die nach Sillas Gesetz geköpft und als Warnung an andere Aufsässige an der Mauer zur Schau gestellt werden müssten.
Doch der Hundevogel und Makmoon verstecken sich hinter neuer Kleidung und beginnen die Suche nach Makmoons Familie.
Ihre Suche beginnt in einer Kneipe, in der sie unglücklicherweise auf den Goldhändler Dogo stoßen. Der gerissene Mann mit der Narbe im Gesicht erkennt sofort, dass die beiden Besucher nichts in der Hauptstadt verloren haben und versucht, sich daraus seinen eigenen Gewinn zu ziehen.
Mit überlegener Miene geht er auf das Angebot des Hundevogels ein. Es ist ein Spiel um Leben und Tod, doch Bauern in der Hauptstadt stehen schon mit einem Bein im Grab und mit dem anderen im Gefängnis.
Hundevogel rückt seinen Strohhut zurecht und wirft seinen Würfel. Langsam rollt er die vierzehn möglichen Seiten entlang, bis er endgültig zum Erliegen kommt. Der Bauer blickt auf das nach oben gerichtete Zeichen. Glück für mich. Pech für dich, denkt er und beginnt das Spiel.
Doch mit Dogo kann kein Spiel gespielt werden, das er verliert. Kurze Zeit später bricht Tumult in der Kneipe aus und die beiden jungen Männer stürmen heraus - gefolgt von einem wütenden Dogo und seinem Gefolge.
"Komm schon", zieht Gaesae seinen Freund hinter sich durch die dichten Straßen. Es beginnt eine lebhafte Hetzjagd, bei der die Bewohner der Stadt nicht unverschont davonkommen. Menschen werden angerempelt, Wagen umgeschmissen und Handelsgut auf dem Boden verteilt. Nichts davon lässt aber einen von ihnen langsamer laufen.
Das merkt auch Miyu, als sie vom Hundevogel zur Seite gedrängt wurde und dabei in einen Stand mit Kohlköpfen gedrückt wurde. Die grünen Gemüsebälle verteilen sich sehr zum Missfallen des Händlers auf dem Straßenboden und werden von den vielen Füßen der Menschen hin und her gekickt.
Erzürnt blickt sie den beiden Flüchtlingen hinterher und anschließend auch dem Mann, dessen Narbe eine tückische Erweiterung eines boshaften Grinsens bietet, bevor sie ihren eigenen Nutzen aus dem Chaos zieht und mit einem der Kohlköpfe in einer Seitenstraße verschwindet.
Merkwürdiges Volk, die Koreaner.
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