Übersehen
Kapitel 21
Elija
Dieser hinterhältige, kontrollsüchtige Mistkerl! Elija hätte von Anfang an ahnen können, dass er dahinter steckte! Aber bis jetzt hatte er es immer geschafft, die bloße Existenz seines Großvaters zu ignorieren und sein Leben so zu führen, als gäbe es diesen alten, manipulativen Mistkerl nicht.
Als das siegessichere Grinsen dann noch auf seinem alternden Gesicht erschien, spürte Elija mit jeder Sekunde mehr, dass er die Kontrolle verlor. Alleine durch Melodys Anwesenheit gelang es ihm, so weit die Kontrolle zu behalten, um zumindest sie unbeschadet hier herauszubekommen. Markurio Markovic, Kopf der russischen Mafia in dieser Stadt, war ein gefährlicher Mann und während Elija durch seine Verwandtschaft zu ihm relativ geschützt war, traf das auf Melody nicht unbedingt zu. Sein Großvater mochte wie ein netter, alter Mann aussehen, und auf Außenstehende auch sehr charmant wirken, aber er hatte verdammt viel Blut an den Händen und nicht das kleinste Fünkchen eines Gewissens. Er würde nicht scheuen Melody etwas anzutun um von Elija zu bekommen, was er wollte.
Markurio war kalt genug gewesen um die Ehe, die seine Tochter - Elijas Mutter - gewählt hatte abzulehnen und sie mitsamt dem Kind in ihrem Bauch – Elija selbst – zu verstoßen. Und Elija hatte nie auch nur ein Moment daran geglaubt, dass Makurio es jemals bereuen würde. Schließlich hatte sein Großvater neben einer Tochter auch noch zwei Söhne und somit war Elijas Mutter wenig bedeutungsvoll gewesen. Als Frau schon gar nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Und wo er gerade an seine Onkel dachte: Elija sah sich um und entdeckte den ältesten Bruder seiner Mutter ganz in der Nähe und der schien alles andere als erfreut zu sein, Elija zu sehen. Kein Wunder, schließlich hatte Elija den Traditionen der Bratwa zufolge ebenfalls einen Anspruch auf die Krone, die nach dem Tod seines Großvaters frei werden würde. Wenn jemand dieses Ding überhaupt würde haben wollen.
Elija selbst hatte keinerlei Interesse daran zur Mafia gehören, geschweige denn sie anzuführen. Er war ein „Postoronniy", ein Außenseiter in dieser Welt und das war ihm auch ganz recht so. Elija hatte sich sein Leben selbst aufgebaut und würde sich nicht von uralten, überholten Traditionen einschränken lassen. Seinen Eltern hatten das definitiv kein Glück gebracht, obwohl beide sich in diese Welt zurückgewünscht hatten. Sein Vater hatte seine Mutter geheiratet und geschwängert, weil er glaubte dadurch endlich in der Schirach der Mafia aufzusteigen zu können. Als das nicht geklappt hatte, hatte er es auf anderen Wegen versucht und war dabei in etwas hineingeraten, dass letztendlich seiner Schwester einen brutalen Tod beschert hatte. Nein, auf so etwas konnte Elija getrost verzichten, auch wenn er nicht zum ersten Mal den Schatten seines Großvaters über sich spürte, als wäre er der Inbegriff einer Bösen Vorhersage.
Sein Großvater war bei der Beerdigung seiner Schwester gewesen, daran erinnerte sich Elija noch gut. Seine Mutter war da schon so verzweifelt gewesen, dass sie ihren Vater kaum wahrgenommen hatte. Elija aber hatte ihn bemerkt und zum ersten Mal gespürt, dass es etwas in der Familie gab in das man hineingeboren wurde und gegen das man sich kaum wehren konnte. Die Tradition hatte Markurio dazu gezwungen Anwesend zu sein, sich zum ersten Mal mit Elija auseinander zu setzen, dann noch einmal bei der Beerdigung von Elijas Mutter vor einigen Jahren.
Markurio hatte ihn gesehen, seine Existenz registriert und sich sonst wenig um ihn geschehrt, bis zu dem Moment, als Elija seinem Großvater im frisch eröffneten Noir begegnet war. Markurio hatte versuchte sich mit ihm „auszusöhnen", so hatte er es zumindest genannt. Eine Lüge. Elija hatte darauf verzichtet und ihm zum Teufel gejagt. Er wollte keine angebliche Aussöhnung und er wusste, dass auch Markurio daran kein wirkliches Interesse hatte. Elija war der unliebsamste von mindestens fünf Enkelkindern, die Markurio vorzuweisen hatte. Inzwischen könnten es noch mehr sein, Elijas Informationen waren veraltet und wenn er an sein eigenes Alter dachte, schätzte er, dass es auch schon Urenkel geben könnte. Nein, Markurio war nicht hier aus Sentimentalität. Nicht damals und auch nicht heute. Es gab nur eines, dass Elija für Markurio interessant machte: Die strategische Position des Noir. Nahe genug an den guten Vierteln um reiche Kundschaft anzulocken und nahe genug an der Grenze von Markurios Einfluss um als Brücke dienen zu können.
„Elija, es ist so schön, dass du gekommen bist", sagte sein Großvater und Elija ließ seinen Onkel nicht aus den Augen, während er ihn passierte und auf seinen Großvater zusteuerte. Und auf Melody.
Wie hatte der alte Mann von ihr erfahren? Es war nicht so, als würde er mit seiner Schwäche für Melody hausieren gehen, allerdings wusste jeder im Noir von ihr und er freute sich jetzt bereits darauf, diese Spitzel-Ratte zu fassen zu bekommen und ihm sein Gesicht zu Matsch zu schlagen. Er mochte nicht direkt in der Welt der Mafia groß geworden sein, aber sein Vater war ein kleiner, unbedeutender Einwanderer gewesen, der große Ziele hatte. Und dieser hatte ihm gelehrt Hart zu sein. Immer.
„Sie geht", meinte Elija lediglich und deutet mit einer Kopfbewegung auf Melody. Sie musste hier raus. Ihn selbst schützten die Traditionen der Familie, nach der kein Familienmitglied ohne Grund getötet werden durfte, aber Melody schützte gar nichts. Bis auf ihn.
„Ich genieße ihre Gesellschaft. Eine hübsche, junge und sehr stolze Frau, Elija. Und wie ich hörte auch noch die Leiterin des Noir. Quasi das Gesamtpaket, da könnte man fast eifersüchtig werden."
„Du willst reden? Fein. Aber bevor ich auch nur ein Wort mit dir wechsle, muss sie in Sicherheit sein. So wird das laufen, alter Mann, nicht anders!" beharrte er und der Blick seines Großvaters verengte sich und er starrte Elija für einige Sekunden direkt an, schien nachzudenken, abzuwägen, dann wurden seine Gesichtszüge wieder sanft und er lachte.
„Warum den so misstrauisch, Junge? Wir sind doch eine Familie. Deinen Onkel Nikolaus kennst du ja schon und der junge Mann auf der anderen Seite ist übrigens Mischa, sein ältester Sohn, also dein Cousin. Ich dachte ihr solltet euch kennenlernen", versuchte Markurio abzulenken und kurz besah sich Elija den jungen Mann am Tisch gegenüber seines Onkels. Das war sein ältester Sohn?
Er sah nicht so aus, als würde er irgendjemanden das Wasser reichen können. Sein Cousin war Fettleibig und sicherlich zehn Jahre jünger als Elija. Wenn das Nikolaus ältester Sohn war, war er dann der älteste Enkel? Das wäre furchtbar, das das würde ihn für eine potenziell Nachfolge interessant machen.
Elija kramte in seinem Gedächtnis. Nein, das konnte nicht stimmen. Seine Mutter war die jüngste Tochter gewesen und ihre Brüder hatten lange vor ihrer Schwangerschaft geheiratet. Zu der Beerdigung seiner Schwester hatte er einige seiner Cousins gesehen und sie waren fast alle älter gewesen als er. Also was war hier los?
„Ich kenne einige meiner Cousins vom sehen. Das ist nicht Nikolaus ältester Sohn", erwiderte Elija und hasste sich in diesen Augenblick für die Aussage. Er sollte auf diese Ablenkung nicht eingehen. Aber Markurio nickte da bereits und zeigte auf einen Platz am Gang neben Melody. Wenn er sie schon nicht hier herausbekam, könnte er so zumindest halbwegs für ihre Sicherheit sorgen.
„Jetzt ist er es. Mischa hat seine drei älteren Brüder leider verloren. Am selben Tag an dem auch dein Onkel Igor und dessen Familie starb. Eine Tragödie. Aber du weißt ja wie das ist: Wir führen ein gefährliches Leben."
Elija schwante böses, aber er wagte es nicht das Thema zu vertiefen und hatte auch wenig Mitleid mit seinen Verwandten. Zum einen kannte er sie nicht, zum anderen war er sich sicher, dass die Welt ohne sie besser dran war.
Er beschloss sich zu setzen und verschränkte die Arme vor der Brust um seinen Großvater eindeutig zu vermitteln, was er von dem allen hier hielt.
„Wenn ihr etwas passiert, ist es mir egal wer du bist, ich verpasse dir eine Kugel direkt zwischen die Augen und verscharre dich dort, wo dich niemand mehr findet", knurrte er und sein Großvater nickte verstehend. Für seine Verhältnisse sogar ernst.
„Natürlich. Ich ahnte bereits, dass du das nicht sehr witzig findest. Wenn du jemanden für ihre Anwesenheit hier verprügeln willst: Dahinten sitzt der Mann, der sie hergebracht hat. Du kannst mit ihm machen, was du willst, er ist einer meiner Polizeispitzel und ich hab keine Verwendung mehr für ihn."
Noch bevor Markurio ausgesprochen hatte, drehte sich Elija zu dem Mann um, der Melody nach Augenzeugen in den Wagen gezerrt hatte und wollte tatsächlich aufstehen und dem Kerl das Genick brechen. Doch da legte sich Melodys Hand unauffällig auf seinen Oberschenkel und drückte fest zu, um ihn aufzuhalten. Elija atmete tief durch, verschob das geplante Massaker an diesen Mistkerl innerlich und drehte sich wieder langsam zu seinem Großvater herum.
Der Alte hatte nichts von Melodys Geste bemerkt. Sie verhielt sich so leise und unauffällig, dass man sie glatt vergessen könnte und Elija war sich sicher, das diese Männer hier es tatsächlich bereits getan hatten. Frauen zählten in ihrer Welt nicht viel, sie wurden selten beachtet, wenn man sie nicht gerade als Druckmittel einsetzte oder ihnen an die Wäsche wollte. Elija war hier und damit hatte Melody ihren Zweck erfüllt, zumindest aus der Sich seines Großvaters. Aber Elija konnte sie nicht ignorieren. Melody war zu clever um die nötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber das bedeutete nicht, dass sie ihrerseits ihre Umgebung nicht ganz genau im Auge behielt und damit mehr bemerkte als er selbst.
So wie jetzt. Elija vernahm das spöttische Glitzern in den Augen des alten Mannes und seine Enttäuschung als Elija sich wieder von Melodys Entführer abwandte und ihn nicht sofort umbrachte. War es das, was sein Großvater wollte, dass er ausrastete? Aber wofür? Was brachte ihn das?
„Er hat in deinem Auftrag gehandelt, also sollte ich eher dich dafür verantwortlich machen", meinte Elija und seine Stimme vibrierte von unterdrückten Aggressionen. Melodys Fingernägel bohrten sich tiefer in sein Beim. Geboten ihm ruhig zu bleiben. Was sah sie, was er nicht erfassen konnte? Was vermutete sie, wo sein Verstand mit Wut und dem Willen jemanden die Knochen zu brechen, überflutet war? Was bemerkte er nicht? Und wie könnte er sie fragen, ohne sie der Aufmerksamkeit der anderen Männer auszusetzen?
Beta: Geany
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