Prolog
Diese Geschichte beginnt wie die meisten Geschichten mit einem einschneidenden Erlebnis im Leben des Protagonisten.
Dieses einschneidende Erlebnis, dass alles im Leben des Protagonisten ändert. Ein Erlebnis, das den Protagonisten zwingt, neue Wege zu gehen, sein Leben zu ändern oder neue Möglichkeiten zu sehen.
Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine neue. So heißt es doch. So wurde es mir zumindest von keiner Ahnung, wie vielen Menschen gesagt. Von Ärzten, Pflegern, meinen Eltern, meiner Schwester und meinen Freunden.
Du ahnst es wahrscheinlich bereits, aber in dieser kleinen, feinen Geschichte bin ich der Protagonist, der ein einschneidendes Erlebnis erfuhr und für den sich eben absolut alles änderte und der gezwungen wurde, neue Wege einzuschlagen.
Tja, wäre nur irgendwie schön, wenn ich diese Wege sehen könnte, die sich mir auf Aussage aller Menschen in meinem Umfeld, die irgendwie gezwungen sind, mit mir auszukommen, mir jetzt neu erschließen. Ich kann diese Wege nämlich nicht sehen.
Und wenn ich sage, dass ich sie nicht sehen kann, meine ich das im wahrsten Sinne des Wortes. So wahr, wie das geschriebene Wort eben sein kann und so wahr, wie sie meinem Geiste entspringt.
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»Findest du das nicht ein wenig dramatisch ausgedrückt?«
»Sei still, das ist meine Geschichte und ich entscheide, wie sie erzählt wird.«
»Ich sag's ja nur. Ich meine, ich könnte jetzt hier weiß Gott was aufschreiben und du könntest mich nicht daran hindern, weil du weder die Tastatur siehst, noch das, was ich tatsächlich aufschreibe.«
»Du bist gemein, weißt du das?«
»Ich hab dich auch lieb. Wo waren wir stehen geblieben?«
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Und wieder ahnst du es und ja, du hast recht. Ich bin blind und bin gezwungen, meine Geschichte aufschreiben zu lassen, anstatt sie selbst zu schreiben. Aber auf der anderen Seite hat keine der großen Persönlichkeiten, derer Biografien im Bücherregal meines Vaters stehen, die Geschichte seines Lebens selbst aufgeschrieben. Diese Tatsache macht mich also doch zu etwas Besonderem.
Das hier ist kein Tagebuch, wie sich vielleicht vermuten lässt, es ist der Anfang von etwas ganz Großartigem. Mein einschneidendes Erlebnis hat mich nämlich nicht in ein tiefes Loch stürzen lassen, wie vielleicht andere vor mir, die ein ähnliches Schicksal hatten und weniger glorreich daraus hervorgingen, eben genau deshalb, weil sie sich in ein tiefes Loch hatten fallen lassen.
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»Ja, ich glaub's auch.«
»Hättest du die Güte mir nicht immer rein zu reden, wenn ich einem meiner Gedanken folge und dir diesen diktiere?«
»Jordan, dir ist klar, dass das niemand außer uns je lesen wird? Willst du dich wirklich selbst belügen? Wenn ich die Geschichte so aufschreibe, wie es wirklich war, klingt es immerhin glaubwürdig...«
»Klappe, Terminator. Das kümmert keinen. Weiter im Text.«
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Und wie in einer echten Geschichte hat auch diese ihren Anfang.
Sie findet ihren Anfang auf einem verregneten Sportfeld. Es war bereits dunkel und die Scheinwerfer fluteten das Feld mit Licht. Tosender Applaus war zu hören und ich stand mitten auf dem Feld mit der Gewissheit:
Sie jubelten meinetwegen.
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*hust* »Heldenepos« *hust*
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Sie jubelten meinetwegen, denn es war wohl der wichtigste Tag meines Lebens. Zehn Minuten vor dem Spiel hatte der Coach mir die Talentscouts der wohl namhaftesten Unis des Landes vorgestellt und wieder hatte ich eine Gewissheit: Sie waren meinetwegen hier.
Und wenn ich sie an diesem Abend überzeugte, stand ich vor einer Zukunft, in der der rote Teppich für mich ausgelegt werden würde. Ich könnte wählen zwischen den besten Unis und ihren Teams. Sie alle würden mich mit Kusshand aufnehmen. Nein, mehr noch! Sie würden mir die Füße dafür küssen, wenn ich mich doch nur für die entscheiden würde.
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»Also eingebildet bist du ja nicht, nh?«
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An diesem Abend lag mir die Welt zu Füßen. Das Glück erschien zum Greifen nahe, ich musste nur zupacken und es mir nehmen. Tja, und dann kam das einschneidende Erlebnis, von dem ich bereits zu Anfang sprach.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich nicht vollkommen auf das Spiel fokussiert gewesen. Eine einzige Sekunde und das strahlende Licht, dass mir den Weg in meine Zukunft wies, erlosch.
Das war der Moment, in dem auch für mich die Lichter ausgingen.
Sekunde, ich bin nicht tot oder nicht, dass wir uns falsch verstehen. Ich spreche nur wieder mit dem wahrsten Sinn des Wortes.
Rückblickend könnte man sagen, dass das der Tag war, ab dem ich mir für den Rest meines Lebens nie wieder Gedanken um nicht bezahlte Stromrechnungen machen musste, weil ich vergessen hatte, das Licht auszuschalten. Nicht dass ich zu dem Zeitpunkt meine Rechnungen schon selbst bezahlt hätte.
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»Oder vielleicht sollte ich mir doch welche machen ... Schließlich kann ich nicht sehen, ob ich irgendwo Licht anhabe. Bumblebee, habe ich das Licht irgendwo an?«
»Nein, hast du nicht, Schwachkopf. Und selbst wenn, bin ich da, um es auszumachen.«
»Wow, das hebt die Romantik auf ein völlig neues Level.«
Ich kann es nicht sehen, aber ich glaube sie verdreht gerade die Augen.
Ich würde gerne mal sehen, wie das aussieht, wenn sie es tut.
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Ja, ich weiß, ich gehe scheinbar sehr humorvoll mit meinem Schicksal um, aber auch der Weg zurück ans Licht der ewigen Dunkelheit war steinig und ich habe mir mehr als einmal den kleinen Zeh gestoßen.
Diese eine Sekunde, in der ich nicht völlig bei der Sache war, reichte aus, damit ich zu spät sprang, um den Ball aus der Luft zu fangen. Aber stattdessen wurde ich von einem Gegner quasi aus der Luft zu Boden gerissen und knallte mit voller Wucht gegen das Knie eines weiteren gegnerischen Spielers, womit ich die Hoffnungen auf eine Chance bei den countyübergreifenden Regionals begrub.
Ich war gut gewesen, nicht nur bis zu diesem Zeitpunkt, immer schon. Ich war das, was man, sobald ich die Highschool verlassen hätte, eine Legende genannt hätte.
Ich war einer der besten Footballer, die unsere Schule je hervorgebracht hatte. Ich sage das nicht, weil ich angeben will, sondern einfach, weil es die Wahrheit war. Ich war die Hoffnung Coach Mills', bis eben zu diesem Moment, wo mein Kopf Bekanntschaft mit dem Knie meines Gegners machte.
Das letzte, woran ich mich erinnerte, war das Brechen von Knochen und ich dachte mir, dass es das jetzt war. Dass es gar nicht meine Knochen waren, die da gebrochen waren, erfuhr ich erst sehr viel später.
Ganz klassisch – und nur fürs Protokoll, ich hasse es, dass es so gewöhnlich war – wachte ich erst im Krankenhaus wieder auf. Dass es ein Krankenhaus sein musste, erkannte ich jedoch nur an dem sterilen Geruch, dem stetigen Piepsen, das versicherte, das mein Herz noch genau das tat, was es sollte, und dem Gefühl der steifen Krankenhaus Bettwäsche, die ich unter meinen Händen spürte. So wie jetzt und ich könnte immer noch Ausschlag davon bekommen! So etwas wie Weichspüler muss denen in der Verwaltung ja völlig fremd sein! Gleichzeitig dröhnte mein Kopf wie eine Kirchenglocke, und als ich mir ächzend an die Stirn fassen wollte, spürte ich gleich die nächste unangenehme Überraschung.
Dass ich den Fakt, dass beinahe mein ganzer Kopf bis über die Augen bandagiert war, bis zu diesem Moment nicht bemerkt hatte, schrieb ich der Kirchenglocke und dem Medikamentencocktail, der sich in meinem Blut befinden musste, zu.
~
An dieser Stelle mache ich eine längere Pause. Es ist seltsam, wenn ich versuche, mich an das Gefühl zurückzuerinnern, das ich damals empfand. Ich weiß genau, wie ich mich damals gefühlt habe, aber wenn man versucht, dieses Gefühl wieder zu beleben, in dem man sich erinnert, fühlt es sich an, als würde man sich nur einen Film über das Leben eines anderen ansehen. Man fühlt mit, aber es ist nicht das Gleiche.
»Jordan? Alles okay?«
»Ich komme klar. Schreib weiter.«
»Jordan?«
»ICH SAGTE, ICH KOMME KLAR! ...
Tut mir leid. Ich—«
»Schon gut. Ich weiß.«
~
Nur wenig später erschien erst eine Krankenschwester, aufgeschreckt davon, dass ich panisch ständig den Panikknopf drückte – dafür ist das Scheißteil ja auch irgendwie da, oder? – und daraufhin ein Arzt.
Ich war ab der Sekunde misstrauisch, als er sich als mein Neurochirurg vorstellte.
Mag sein, dass ich nie der beste in Biologie, aber es reichte aus, um zu wissen, dass Neurochirurgie etwas mit dem Gehirn zu tun hatte.
Ich erfuhr, dass ich anscheinend ganz schön k.o gegangen sein musste, nachdem mein Kopf trotz Helm Bekanntschaft mit dem Knie des Gegners gemacht hatte. Aber das interessierte mich in diesem Moment wenig. Alles, was mein mit Drogen vollgepumptes Gehirn interessierte war, ob mir die Talentscouts noch eine zweite Chance geben würden. Schließlich war das Spiel doch wegen des Unfalls unterbrochen worden und sie hatten gar nicht die Chance, irgendwas von mir zu bewerten. Eine Antwort konnte mir mein Neurochirurg jedoch nicht geben.
Alles, was mir gesagt wurde, war, dass jetzt, wo ich endlich wach, war noch einige Tests mit mir durchgeführt werden mussten, um die bereits bestehende Diagnose zu bestätigen. Ich bin mal ganz ehrlich, weil das hier irgendwie von mir verlangt wird, und sage, dass ich ein äußerst ungeduldiger Mensch war. Von den Untersuchungen wollte ich nichts wissen und bevor ich mich darauf einließ, wollte ich unbedingt Coach Mills sprechen. Selbst meine Eltern wollte ich nicht sehen, bevor ich nicht mit dem Coach gesprochen hatte.
Wobei sehen, damals recht relativ war, denn ich sah ja immer noch nichts wegen des dämlichen Verbandes.
So kam es dazu, dass ich mich einfach aufsetzte und mir das Ding vom Kopf zerrte, obwohl mein Neurochirurg versuchte, mich davon abzuhalten. Aber es war zu spät und der Verband runter.
Ich erwartete, das sterile Bild eines Krankenhauszimmers zu sehen, aber da war nichts. Gar nichts.
Es war kein Unterschied zu dem, als ich den Verband noch um hatte. Also atmete ich tief durch, um wohl und überlegt zu handeln.
Nein, Spaß. Ich drehte vollkommen durch, rieb mir mit den Fäusten über die Augen, schlug und trat um mich, wenn mich etwas berühren wollte, dessen Ursprung ich nicht kannte.
Nach nur wenigen Minuten ermüdete ich jedoch und fühlte mich wie auf einem Drogentrip. Dann begriff ich. Sie hatten mich sediert!
Erst als ich aufwachte und mich bereit erklärte, nicht noch mal Doktor Stein – mein Neurochirurg – die Brille vom Kopf zu treten, erhielt ich meine vorläufige Diagnose in Anwesenheit meiner Eltern.
Durch den Aufprall meines Kopfes auf das Knie war doch tatsächlich mein Helm in zwei gebrochen und ich war quasi ungeschützt mit dem Kopf aufgeschlagen.
Das Fazit? Ich hatte eine ordentliche Gehirnerschütterung mit einer örtlich auftretenden Hirnblutung und Beschädigung meines Sehnervs, sodass ich in dem Moment quasi blind war.
Irgendwie gefiel mir das nicht, wie oft Doktor Stein das Wort quasi verwendete. Und wieder hatte ich mit meinem Misstrauen recht, denn er konnte mir nicht sagen, ob mein Erblinden von Dauer oder ob es nur vorübergehend wäre.
Das ist jetzt ein Jahr her und was soll ich sagen? Ich bezahle jemanden dafür, meine Geschichte aufzuschreiben, weil ich selbst die Tastatur nicht sehen kann, und an die Blindenschrift kann ich mich bis heute nicht gewöhnen.
(Mein Nachhilfelehrer meinte letzte Woche, dass ich klinge wie ein Vorschulkind, wenn ich versuche, etwas aus einem der Übungsbücher vorzulesen.)
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»Toll, jetzt fühle ich mich wie eine Prostituierte.«
»Eine Prostituierte im Rollstuhl? Gibts das?«
»Keine Ahnung. Es gibt bestimmt den passenden Fetisch dazu, aber ich fühle mich befleckt. Übrigens... Seit wann werde ich bezahlt?«
Meine Mundwinkel zucken und ich weiß ganz genau, dass sie das gesagt hat, damit ich mich besser fühle. Sicher lächelt sie jetzt zufrieden. Ich habe keine Ahnung, aber wenn, dann ist das auch einer dieser Dinge, die ich gerne sehen würde.
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Ich war also blind und mein Gegner hatte ein zertrümmertes Knie, wie ich wenig später erfuhr. Sowohl er als auch ich konnten uns Football abschminken.
Er, weil er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens nicht ohne Schmerzen würde laufen können und ich, weil ich den Ball nicht mal sehen könnte, wenn ich ihn in Händen hielte.
Das Licht meiner glorreichen Zukunft war erloschen. Im Krankenhaus konnte ich auch nicht ewig bleiben und irgendwann wurde es Zeit, nach Hause zu kommen und zu lernen, damit zu leben. Zur Schule musste ich schließlich auch wieder, denn ich weigerte mich konsequent, auf eine Blindenschule zu gehen oder privat unterrichtet zu werden. Mich erwartete mein Senior Year! Und ich hatte noch nicht aufgegeben, irgendwas Großartiges aus diesem einen letzten Schuljahr zu machen!
Das Schicksal hat schon seltsame Wege, um dir ordentlich in den Arsch zu treten. Und wer hätte geglaubt, dass es dazu nur ein Mädchen im Rollstuhl brauchte und einen seltendämlichen, treudoofen Blindenhund?
Fortsetzung Kapitel 1...
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»Margo?«
»Hm?«
»Ich glaube, das wird noch echt gut.«
Ich kann sie fast schmunzeln hören. Wahrscheinlich streicht sie sich noch eine Haarsträhne hinters Ohr oder richtet ihre Brille.
»Jordan?«
»Hm?«
»Ich glaube, da könntest du ausnahmsweise recht haben.«
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