Warum nicht?
„Ich geb' auf", stöhnte Aviana, legte ihren Zauberstab demonstrativ auf den Tisch vor sich und verschränkte die Arme. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich so an, als fiele ihr heute alles noch so kleine bisschen Magie schwer.
Ihr Streichholz hatte nach dem dreißigsten Versuch gerade mal eine einzige Ecke seiner braunen Farbe für einen grauen Flecken eingebüßt, was ihr einen resignierten Seufzer entlockte. Ihr Blick zu Merle half auch nicht dabei, ihre Laune zu heben, denn vor ihrer besten Freundin lagen vier perfekte silberne Nadeln mit Spitzen, die jedem Seeigel Konkurrenz gemacht hätten.
„Sag mal, wie schaffst du das?" Aviana flüsterte, denn Professor Barnes begann soeben seinen Rundgang durch den Raum, um ihre Ergebnisse zu betrachten.
„Du musst bloß die Nadel ganz klar vor dir sehen. Nicht in einem Nadelkissen steckend und auch nicht mitten in der Verwandlung. Dann musst du einfach noch deutlich sprechen und schon hast du's. Siehst du?"
Sie richtete ihren Zauberstab auf das fünfte Streichholz vor sich, vollführte den kleinen Schlenker und sprach: „Acus!"
Der silberne Strahl ließ das kleine Holzstück kurz zittern, ehe es in identischer Form neben den anderen Nadeln lag. Aviana entwich ein leiser anerkennender Pfiff und Merle's Augen leuchteten stolz.
Ihr Professor war jedoch nur noch drei Bänke von ihnen entfernt, wo er Saymon Bridge's Nadel inspizierte, die eher einem Bolzen als einem Nähutensil glich; weshalb sich Aviana wieder gerade hinsetzte und nach ihrem Zauberstab griff.
Auf einen weiteren Vortrag, dass sie bei diesem Fach kaum mehr aufholen würde, wenn sie die Grundlagen nicht beherrschte, konnte sie gut verzichten. Sie wusste selbst nicht, weshalb es ihr gerade in Verwandlung so schwerfiel.
Ein lautes Zischen neben ihr lenkte sie jedoch ab, bevor sie sich auf das Bild der Nadel in ihrem Kopf konzentrieren konnte, und an ihrer rechten Wange spürte sie eine Wärme, die sie so bisher nur aus dem Kräuterkunde Unterricht kannte, als sie ‚Incendio' geübt hatten.
Professor Barnes war sofort zur Stelle und löschte die ungewöhnlich hohe Stichflamme mit einem Wisch seines Zauberstabes.
„Junge, Junge!" Er rieb sich die Stirn und Aviana sah, wie er versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. „Wenn Ihnen mein Unterricht zu langweilig ist, dann dürfen Sie das gerne mündlich mitteilen. Sie brauchen dazu nicht mein Klassenzimmer in Brand zu stecken. Dann bleiben Ihnen auch ganz bestimmt alle Augenbrauen erhalten."
Aviana fragte sich, wie ihr Lehrer auf einen solchen Kommentar kam, als ihr Cal's panischer Ausdruck hinter der schiefen Brille und seine Hand an seiner Stirn auffiel. Sein Zeige- und Mittelfinger strichen über die Stelle, an der sich bis vor einer Minute noch seine linke Augenbraue befunden hatte und die jetzt beinahe unauffällig noch leicht rauchte.
Seine Augen fanden ihre und Aviana sah, dass er den Tränen nahe war. Ehe sie sich jedoch melden konnte, um ihren Lehrer auf Cal's Unwohlsein aufmerksam zu machen, holte Professor Barnes um einen ernsten Gesichtsausdruck bemüht Luft.
„Mister Lupin, wären Sie so gut und würden Mister Shori in den Krankenflügel begleiten?", sprach er Cal's Banknachbarn an, der mit dem murmelnden Cal ohne Umschweife aus dem Klassenzimmer hastete.
Mit den beruhigenden Worten an die Klasse, dass Madam Pomfrey dies in wenigen Minuten wieder richten könne, widmete sich Professor Barnes wieder den restlichen Schülern, deren Verwandlungsergebnisse er noch nicht gesehen hatte und zog die verbleibenden zehn Minuten knallhart durch.
Doch außer Merle war die Verwandlung keinem gänzlich erfolgreich gelungen. Sie holte den Hufflepuffs damit zwar fünf Hauspunkte, der Rest bekam jedoch die Hausaufgabe, bis am nächsten Montag den Zauber zu lernen.
Das Stöhnen der Klasse hatte ihren Lehrer dabei nicht interessiert und Aviana wusste, dass sie die freien Zwischenstunden der nächsten sieben Tage mit einem Streichholz verbringen würde.
„Sollten wir vielleicht zu Cal in den Krankenflügel? Wir können ihm und Teddy was zu Essen mitbringen."
Sie waren bereits beinahe am Ende der Großen Treppe angekommen, als Merle's Frage beide vor dem Portrait eines schnarchenden alten Mannes zum Stehenbleiben brachte.
„Meinst du nicht, dass wir Madam Pomfrey einfach machen lassen sollten? Professor Barnes meinte doch, dass es lediglich eine Sache von ein paar Minuten wäre. Sollte er nach dem Mittagessen noch immer nicht zurück sein, können wir ja nach ihm sehen, oder was meinst du?"
Die Schülerscharen, die mittlerweile von allen Seiten Richtung Große Halle strömten, zwangen Aviana dazu, etwas lauter zu sprechen und lenkten ihre Aufmerksamkeit automatisch auf die kleine Gruppe von Slytherins, die soeben die Treppen zu ihrer Linken hochstiegen. Doch zwischen den verschiedenen Gesichtern konnte sie Anthony's bleiche Haut und die dunklen Haare nicht ausmachen und fragte sich zum hundertsten Mal, ob er sie bewusst umging.
Seit der Auseinandersetzung letzten Freitag hatte sie ihn, wenn überhaupt, immer nur kurz am Slytherin Tisch oder in den Korridoren gesehen, denn sobald sie sich zu ihm und Luke gesellen wollte, war er aus der Halle oder um die nächste Ecke verschwunden.
Der Gedanke, dass ihn Merle's Konfrontation so sehr erschreckt hatte, fühlte sich nicht richtig an. Er wusste doch, wie sie zu ihm stand. Das hatte ihn bisher auch nicht davon abgehalten, sich mit Aviana zu den Nachhilfestunden für Zaubereigeschichte zu treffen, oder sich mit ihr am Hufflepuff Tisch über Kräuterkunde, Zauberschach oder ihr Leben vor Hogwarts zu unterhalten.
Irgendetwas stimmte nicht und Aviana nahm sich vor, ihn heute vor dem Abendessen noch zu suchen und zu fragen.
Das laute Getrampel von mehreren Schülern hinter ihnen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre beste Freundin, die wohl gerade hatte Antwort geben wollen, nun aber mit fleckigen Wangen einen Punkt über Aviana's Schultern fixierte.
„Ich weiß ja nicht, aber da wo ich herkomme, greift man seine Freunde nicht an. Hat euch der Todesser Trampel doch noch einige seiner Tricks beigebracht?"
Aviana erkannte die Stimme nicht, doch als sie sich umdrehte, war sie nicht überrascht, in Sienna Maverick's herausforderndes Gesicht zu blicken. Neben ihr waren nun auch Charles McLaggen und Thomas Whick stehen geblieben, während der Rest ihrer Gruppe an ihnen vorbeizog.
„Es war ein Unfall im Unterricht", versuchte Aviana die Situation zu de-eskalieren, doch bereits als sie fertig gesprochen hatte, wusste sie, dass sie dem Gryffindor Mädchen eine Steilvorlage gegeben hatte.
„Ich wette, wenn wir Madam Pomfrey fragen würden, wäre „ein Umfall" wohl in 90 Prozent der Fälle die Beschreibung des Herganges."
Das höhnische Grinsen auf ihren vollen Lippen passte nicht zu ihrem hübschen Mondgesicht, wirkte deplatziert und Aviana fragte sich abermals, weshalb Sienna es so auf sie und ihre Freunde abgesehen hatte.
„Sienna, lass gut sein", schaltete sich Charles ein und schob sich beinahe unauffällig ein Stück zwischen Aviana und seine Kollegin.
„Ach komm schon Charlie, du hast selbst gesagt, dass es seltsam sei, wie viel Zeit sie mit diesem Slytherin verbringt. Vielleicht mag sie ja die Dunklen Künste. Ist dir nicht aufgefallen, wie sie jeweils gemeinsam in der Bücherei oder in der Großen Halle über ihren Büchern hängen? Aber wer kann's ihr verübeln? Als Muggel Mädchen muss man sich beweisen, nicht wahr?"
„Sienna, du ..."
Doch Aviana hörte Charles' Erwiderung nicht mehr, denn eine Störung in der Schar der Slytherins, die gerade eben an der Wand gegenüber an ihnen vorbeigezogen war, lenkte Aviana's Fokus zu dem Jungen, der scheinbar kurz vergessen hatte, dass er sich eigentlich vor ihr verstecken wollte.
Seine eisblauen Augen huschten zwischen ihr und den Gryffindors hin und her und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, sah sie darin anstelle von Unsicherheit und Freundlichkeit Wut und Entschlossenheit.
Er wandte sich von ihr ab und ein mulmiges Gefühl, das sie nicht benennen konnte, breitete sich in ihr aus, als er zusammen mit dem Rest der Slytherin Schülerschaft ohne einen weiteren Blick zu ihr hinter der dicken Säule vor der Großen Halle verschwand.
Und dieses Gefühl blieb für den Rest des Tages. Nicht einmal Teddy und Cal konnten es vertreiben, als sie sich eine halbe Stunde später am Hufflepuff Tisch gegenüber von Aviana und Merle niederließen.
„Könnt ihr glauben, dass er Madam Pomfrey halb wahnsinnig gemacht hat? Unser Cal? Sie musste die Braue zehn Mal korrigieren, bis sie so war, wie er sie wollte."
„Als hättest du Freude daran, wenn sie dir deine Augenbrauen braun färben würde. Sieht sie denn nicht, dass die andere schwarz und gerade ist? Ich habe keine runden Augenbrauen."
„Ach, ich finde, es hat Stil", konterte Teddy und wechselte seine Augenbrauen-Farbe direkt vor ihnen von Blau zu Braun, worauf Cal amüsiert den Kopf schüttelte und Aviana trotz allem ein Lächeln über das Gesicht huschte.
Ihr Gedankenwirrwarr blieb jedoch bestehen und sie war in der Zaubertrankstunde am Nachmittag so sehr abgelenkt, dass sie sich sogar ein enttäuschtes Kopfschütteln von Professor Slughorn hatte ansehen müssen, als die Maus trotz mehreren Tropfen noch immer unbeeindruckt vom einen Ende des Käfigs zum anderen sauste.
„Miss Pelver, von Ihnen bin ich aber Anderes gewohnt. Sogar Mister Fuller's Schlaftrank wirkt besser." Mit leicht gequältem Gesichtsausdruck deutete er auf den Gryffindor hinter ihr, aus dessen Kessel eine derartige Menge an Qualm emporstieg, dass die hintersten zwei Reihen gar nicht mehr zu sehen waren.
Martin und die Schüler, die ihm am nächsten standen, schwankten außerdem etwas und blickten mit schweren Lidern auf ihre Notizen.
Der Tag hatte also nur noch besser enden können und alleine Gabriel's schiefes Grinsen vor der Großen Treppe nachdem sie sich aus dem Gemeinschaftsraum geschlichen hatte, reichte aus, um alle negativen Gedanken zu vertreiben.
Zumindest vorerst.
„Du siehst aus, als hätte dir jemand deine letzten Trauben vom Teller geklaut."
„Kann nicht sein, du warst nicht an unserem Tisch", konterte Aviana und erntete dafür ein Lachen.
Mit Gabriel war es so einfach und Aviana schalt sich, dass sie sich wünschte, dass es auch mit ihren anderen Freunden so wäre.
„Schuldig im Sinne der Anklage", meinte er und hob ergeben die Hände, sodass ihm die weiten Ärmel seines Umhangs über die Ellenbogen rutschten. „Du verteidigst sie ja aber auch nie."
Aviana fiel kein schlagfertiger Kommentar ein, weshalb sie ihm bloß die Zunge rausstreckte und dann auf ihre Umhängetasche deutete. „Hab ich das Pergament und die Tinte vergebens mitgenommen, oder können wir los."
„Hast du's eilig Pelver?"
„Nun, wenn deine Mutter verschwunden wäre und dann plötzlich wieder auftauchen würde, würdest du auch alles über sie erfahren wollen, oder?"
Gabriel blinzelte etwas perplex, doch der Schalk war schnell zurück: „Touché. Na, dann los."
Er harkte seinen Arm in die Schlinge ihrer Umhängetasche und hängte sie sich um die eigene Schulter.
„Wer schneller beim Raum ist, kriegt das Erinner-mich!", rief er und sprintete die Treppen hoch.
„Wie, was? Was ist ein Erinner-mich?" Bevor sie die Frage jedoch fertig gestellt hatte, hatte Gabriel bereits zwei Treppenaufgänge erklommen und schob sich hinter einen der Wandteppiche.
Ihr Adrenalin stieg, als sie die Verfolgung aufnahm, doch sie kannte das Schloss gerade halb so gut wie Gabriel und er nahm die Abkürzung, die sie bereits damals genommen hatten, als er ihr den Raum das erste Mal gezeigt hatte, was ihre Chance auf einen Gewinn – bei dem Vorsprung, den er bereits hatte – gleich Null setzten. Und als sie etwas unbehände aus dem Ausgang des Geheimganges purzelte, lehnte Gabriel mit verschränkten Armen an der Mauer gegenüber. Sein klopfender Fuß und die gelangweilte Miene erinnerten zu sehr an die Cartoons, die sie jeweils vor dem zu-Bett-Gehen noch geschaut hatte und sie lachte trotz ihrer Niederlage.
„Das nächste Mal ... krieg ich dich", brachte sie zwischen den tiefen Atemzügen vor, streckte ihren Arm nach der Tasche aus und machte die universale „Gib her"-Bewegung. „Was ist ein Erinner-mich?"
Gabriel streckte seinen Arm ebenfalls aus, ließ die Schlinge von seinen Schultern gleiten und die Tasche rutschte ihr so schnell in die Hand, dass sie sie beinahe auf den Boden knallen ließ.
Er antwortete ihr, während er dreimal an der Wand vorbeiging: „Eine Glaskugel, in der sich der darin befindende Rauch rot färbt, wenn du etwas vergessen hast. Eigentlich vollkommen nutzlos. Wie solltest du dich an etwas erinnern, das du vergessen hast, wenn dir die Kugel nicht sagt, was es denn genau war?"
Die große Holztür erschien in der Wand und wenige Sekunden später standen sie wieder in diesem spektakulären Raum. Aviana's Mund klappte automatisch auf und sie fand tausende Dinge, die ihr beim ersten Mal nicht aufgefallen waren.
Teleskop artige Geräte, Spiegel, die ihr nicht ihr Spiegelbild zeigten, kaputte Besen und ein müde zitternder Klatscher fanden sich unter einer dicken Schicht Staub an der äußeren linken Seite des Raumes. Und als sie Gabriel noch weiter in den Raum folgte, konnte sie einige wunderschöne Eisskulpturen erkennen. Nur konnten sie nicht wirklich aus Eis sein, oder? Sie wären schon längst geschmolzen. Als sie jedoch den Hals der Schwanenskulptur anfasste musste sie über sich selbst lachen. Natürlich war es eine Eisskulptur und natürlich war sie bisher noch nicht geschmolzen, sie befand sich hier schließlich auf einer Zauberschule.
„Hier, schenk ich dir."
Gabriel hielt ihr etwas hin, das sie stark an eine dieser großen Bastelkugeln erinnerte, die sie mit ihrem Vater jeweils befüllt oder angemalt hatte, um sie dann vor das Fenster oder an den Weihnachtsbaum zu hängen. Nur war diese Kugel hier durchsichtig und bis auf die dichten grauen Nebelschwaden leer.
„Ist das das Erinner-mich?"
Er nickte und Aviana nahm es sachte entgegen. Gespannt starrte sie auf den Rauch, doch als er sich auch nach einer Minute nicht verfärbte, steckte sie es in ihre Tasche und blickte beinahe enttäuscht zu Gabriel. Fast so als hätte sie erwartet, dass es ihr bestätigt, dass sie etwas vergessen hatte, dass ihr etwas entgangen war. Anthony konnte doch nicht von heute auf morgen nicht mehr mit ihr sprechen wollen.
„Das wird dich ganz sicher mehr beeindrucken", riss Gabriel sie aus ihren Gedanken und deutete auf eine alte Schulbank.
Beim Anblick der Zeitung darauf wurde ihr beinahe etwas schwindlig. Sie hatte sich noch immer nicht an die sich bewegenden Bilder gewöhnt und die Frontseite war gefüllt von Menschen, die in verschiedene Richtungen gestikulierten.
„Madam Pince ist ganz bestimmt an die Decke gegangen, als man die nicht mehr zurückgebracht hat, aber so wie die aussieht, hätte sie sie ganz bestimmt nicht mehr gewollt."
Erst jetzt fiel Aviana auf, dass die Seiten mit einer übelriechenden schwarzen Substanz verklebt waren, die sich bereits etwas durch das Papier gefressen hatte.
„Aber was uns interessiert, ist das hier" lenkte Gabriel ihre Aufmerksamkeit mit seinem ausgestreckten Finger auf einen Artikel ohne Foto in der unteren linken Ecke.
Wichtiger und bedeutender Fortschritt in Sachen Magische Kooperation zwischen Zauberern und Kobolden. Aurelia Hamstead hat die Verhandlungen mit Boris dem Blutrünstigen aufgenommen und gibt sich optimistisch. „Lässt man die potenten Körpergerüche unkommentiert, so war das erste physische Treffen ein ganz angenehmer Start. Der Dialog hat bisher lediglich per Brief stattgefunden, was das eine oder andere Missverständnis aufgrund von Fehlinterpretationen der Handschrift herbeigeführt hat. Zugegeben, auch die Aussprache von Koboldogack ist manchmal nicht viel einfacher zu deuten, aber ich bin zuversichtlich, dass sich unser Verständnis über die kommenden Wochen und Monate noch weiter verbessern wird."
Mit welchem Clanführer sich Hamstead als nächstes trifft, können Sie auf Seite 5 lesen.
„Von wann ist diese Zeitung?", fragte Aviana atemlos und mit rasendem Herzen und suchte die Frontseite nach einem Datum ab.
„Vom 15. Januar 2010", antwortete Gabriel. Das Zeitungspapier raschelte, als er seinen Zeigefinger darüber schob, bis unter den Titel.
Das war vor einem Monat gewesen. Ihre Mutter hatte vor einem Monat ein Interview gegeben. Sie lebte noch, sie arbeitete fürs Ministerium und sie lebte noch.
Ihre Mutter, die im Hause Pelver nur in ganz wenigen Momenten zum Thema wurde. Von der sie sich trotz all der Gleichgültigkeit, die sich über die Jahre eingestellt hatte, nun doch eine Erklärung wünschte. Warum hatte sie sie verlassen? Warum hatte sie ihr nicht irgendwann einen Brief geschrieben? Ihr erklärt, dass sie eine Hexe wäre und Aviana ganz sicher auch eine werden würde?
„Weißt du jetzt, weshalb du Pergament und Tinte mitnehmen solltest?"
Gabriel schien ihre Gedanken erahnt zu haben und sah sie von der Seite ermutigend an.
„Ich kann ihr doch nicht einfach einen Brief schreiben?" Ihr Herz, das sich seit dem Lesen des Artikels kein bisschen beruhigt hatte, drohte ihr aus der Brust zu springen.
„Warum nicht? Ich dachte, du wolltest wissen, wer deine Mum ist, wie sie ist, was sie ausmacht, warum sie gegangen ist? Was hast du zu verlieren? Im schlimmsten Fall kriegst du keine Antwort, was auch eine Antwort ist. Im besten Fall schreibt sie zurück und entschuldigt sich. Warum es also nicht versuchen?"
Das Klopfen gegen ihren Brustkorb schien ihr jeden einzelnen Grund dafür vorzutragen, weshalb ein solcher Brief alles andere als eine gute Idee war.
Badum. Sie wollte Aviana nicht. Badum. Sie war bloß eine Belastung. Badum. Lieber keine Tochter, als eine, die der Magie vielleicht nie mächtig sein würde.
Badum. Aber was, wenn es ein anderer Grund war? Badum. Was, wenn sie auf alle ihre Fragen endlich eine Antwort bekäme? Badum. Warum es also nicht versuchen? Badum. Warum nicht?
Die blaue Tinte an ihren Fingern war getrocknet, aber die Worte, die damit geschrieben worden waren, waren noch genauso frisch wie vor drei Stunden und als sie nun am Kopfteil ihres Bettes saß, die Beine unter der Decke, hoffte Aviana, dass sie die schnellste Eule in der Eulerei gewählt hatte.
Merle, Marley und Olivia hatten bereits geschlafen, als sie vor einer Stunde in den Schlafsaal zurückgekehrt war und Aviana war froh, dass sie ihnen nicht erklären musste, wo sie gewesen war. Jetzt, wo sie wusste, dass ihre Mutter lebte, fühlte es sich echter an. Die Hoffnung auf eine Kontaktaufnahme jedoch noch viel zu zart. So zart, sie könnte zerreißen, würde man sie zu weit spannen, würde sie durch zu viele Hände gehen.
So lag Aviana also auch weit nach elf Uhr im schwachen Schein der Lampe auf ihrem Nachttisch noch wach und versuchte sich ihre Mutter vorzustellen, wie sie heute aussehen musste. Trug sie ihren Afro noch immer schulterlang, oder hatte sie sich die Haare kurz geschnitten? Vielleicht hatte sie ja auch eine Flechtfrisur und umwickelte sie ab und an mit ihren Seidentüchern, von denen sie und ihr Vater vor einigen Jahren zwei Stück im Schrank gefunden hatten, die sie nun mit nach Hogwarts genommen hatte.
Als sie sich überlegte, ob Aurelia wohl groß gewachsen oder eher klein war, öffnete sich plötzlich die Tür zu ihrem Schlafsaal. Schnell kroch sie etwas weiter unter die Decke und versuchte durch den gelben Schein, der vom Gemeinschaftsraum her kam, etwas zu erkennen. Doch weder ein Schatten war in der Tür zu sehen, noch Schritte am Boden vernehmbar und als sich die Tür wieder schloss, ohne dass jemand durch den Rahmen getreten war, entspannte sie sich wieder etwas.
Vielleicht hatte sich einer der weiblichen Geister einen Spaß erlaubt, und war bereits wieder durch die nächste Wand verschwunden. Doch als sie die tapsigen Schritte vernahm und wenig später im spärlichen Licht der Öllampe ein paar fledermausartige Ohren an ihrem Bettende entdeckte, war klar, wer sich über ihren Bettrahmen hinaus unentdeckt hereingeschlichen hatte.
„Ich habe einen Brief für Aviana Pelver", hörte sie die piepsige Stimme und beeilte sich, dem Hauselfen zu verstehen zu geben, dass sie beide leise sein sollten.
Die Kulleraugen folgten Aviana's Finger, der auf Merle's eingekuschelter Form gerichtet war und nun an ihren Lippen lag. Die großen Ohren erschlafften etwas und Aviana kraxelte zum Bettende, um der weiblichen Elfe zu versichern, dass sie dies nicht böse gemeint hatte.
„Ich habe einen Brief für Aviana Pelver", fiepte sie erneut leise und deutete auf den Umschlag, den sie soeben auf die gelbe Tagesdecke gelegt hatte.
Im eigenen Schatten, den sie auf den Brief warf, hob sich der hellbraune Umschlag kaum von der Decke ab, doch die schwarze Tinte darauf konnte sie gerade noch so entziffern – für Aviana.
Für eine wahnwitzige Sekunde flogen ihre Gedanken wieder zu ihrer Mutter, ehe sie sich besann, dass die Eule noch nicht einmal an der Schottischen Grenze sein konnte.
Der Blick auf den Umschlag zeigte ihr eine bekannte Handschrift. Die Nachfrage konnte sie sich dennoch nicht verkneifen: „Von wem ist er?"
Doch die Elfe war bereits verschwunden. Aviana zog die Vorhänge um ihr Bett zu und ließ sich langsam wieder gegen das Kopfteil sinken.
Lumos.
Die sorgfältig geschriebenen Worte auf dem Umschlag erinnerten so sehr an den bedachten Jungen, der sie verfasst hatte und Aviana war so froh, nach einer ganzen Woche endlich etwas von ihm zu hören, dass sie das mulmige Gefühl vom Mittag zusammen mit dem Wachssiegel vom Umschlag löste und eifrig die eine Seite Pergament entfaltete.
Das mulmige Gefühl blieb verschwunden. Denn die unbenannte Vorahnung war mit den ersten drei Zeilen bestätigt und nun waren es Sorge, Wut und Trauer, die sie alle gleichzeitig fühlte und sie nicht mehr klar denken ließen.
Nox.
So leise wie möglich schlüpfte sie in ihren Pullover und die Hausschuhe, ehe sie sich genauso leichtfüßig aus dem Hufflepuff Gemeinschaftsraum stahl.
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Ok, jetzt bin ich gespannt auf eure Reaktionen.
Was stand da wohl im Brief, den Aviana hier bekommen hat?
Warum verlässt sie mitten in der Nacht den Gemeinschaftsraum?
Und was sind unsere Gedanken und Gefühle zu Aurelia Hamstead? Gut? Schlecht? Undefiniert? Meint ihr, sie schreibt Aviana zurück? Wenn ja, was würde sie wohl schreiben?
Ach, Freunde, es geht langsam wirklich los und ich freue mich sooo sehr auf alles, was noch kommt.
An dieser Stelle muss ich euch jedoch leider sagen, dass ich nicht weiß, wann ich das nächste Update posten kann, da ich diese Woche mit meinem Umzug starte und wohl dadurch für die nächsten zwei, drei Wochen ziemlich absorbiert sein werde. Ich hoffe aber, dass ich bald weiterschreiben kann, denn es fehlen nicht mehr viele Kapitel und der erste Teil der Geschichte ist bereits zu Ende :) Kann's kaum erwarten, euch die etwas älteren Aviana & Co. vorzustellen.
Ich hoffe, ihr könnt euch gedulden und ich danke jedem einzelnen von euch so unendlich für euer Lesen und eure lieben Kommentare immer und immer wieder.
Huffle-In lebt durch euch.
Glg
Eure Stephie
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