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Während der gesamten Stunde von Frau Schulze, die natürlich anders als die anderen Lehrer direkt loslegt und bereits für Freitag einen Test ankündigt hatte, ärgerte ich mich, dass Ben direkt neben dir saß und nicht ich. Rechts von dir wäre zwar noch ein Platz frei gewesen. Jedoch war ich damals nicht mit genügend Mumm in den Knochen gesegnet, um mich direkt neben dich zu setzen.
Meine Hoffnung, dass vielleicht ein kurzes Gespräch zwischen uns entstehen würde, war genau das geblieben, eine Hoffnung. Stumm hattest du dem Unterrichtsgeschehen gefolgt. Ebenso wie Ben, der sich bei Frau Schulze nie erlaubt hätte, aus der Reihe zu tanzen. Wie die meisten Schüler hatte er zu viel Angst vor ihr gehabt. Nicht zuletzt lag das auch daran, dass die olle Hexe keine Grenzen kannte. Briefe und Mitteilungen an unsere Eltern zu schicken, schien ihre liebste Freizeitbeschäftigung zu sein. Solch einen Brief konnte Ben zu Hause nicht gebrauchen.
Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er damals bei seinen Großeltern gelebt. Andrea, Bens Mutter, war eine liebevolle Frau, die allerdings unter immensen Druck stand, alles richtig machen zu wollen. Besonders seit sie ihren Mann, und somit Ben seinen Vater verloren hatte. Ihr größter Wunsch war es gewesen, dass Ben sein Abitur machen würde. Nur mit viel Überzeugungskraft, und unter anderem durch die Hilfe meiner Eltern, ließ sie sich beim Wechsel in die siebte Klasse überreden, dass Ben nicht sofort auf ein Gymnasium gehen musste. Es bestand zu Bens Erleichterung die Möglichkeit, auch nach der zehnten Klasse noch auf ein Gymnasium zu wechseln. So musste er nicht alle seine Freunde zurücklassen.
Das war der Grund warum Ben von Beginn an besonders ehrgeizig war. Im Gegensatz zu mir war er immer in dem jeweils anspruchsvolleren Kurs. Während ich nur in den Hauptfächern mit ihm gemeinsam im Unterricht saß, war Ben zusätzlich auch noch in Biologie, Chemie und Physik in den sogenannten Erweiterungskursen. Diese würden ihm am Ende ermöglichen das Abitur zu machen. Ich legte allerdings keinen Wert darauf, mehr Zeit zu investieren, als es nötig war. Schon damals war ich jemand, der sich nur in Dinge reinkniete, wenn sie am Ende auch dem großen Ganzen dienten. Da ich für meinen Berufswunsch kein Abitur benötigte und meine Eltern dieses auch nicht von mir erwarteten, war ich mit dem leichteren Weg vollkommen zufrieden. Ausserdem waren Naturwissenschaften nie ein Bereich gewesen, der mich begeistern konnte.
Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Immer wieder hatte ich auf die Uhr über der Tafel geschielt und versucht, sie mit meinem Blicken dazu zu bringen, schneller zu ticken. Ich hatte sogar für eine Brandübung gebetet, die uns dazu gezwungen hätte, den Unterricht zu verlassen, um uns auf dem Sportplatz zu versammeln. Doch meine Gebete waren nicht erhört worden. So war mir nichts anderes übriggeblieben, als mitzuschreiben. Die Hexe hatte sich ein staubtrockenes Buch für die ersten Wochen ausgesucht. Ich konnte mich nur schwer darauf konzentrieren, als wir das erste Kapitel zusammenfassen sollten.
Um mich von meiner Nervosität, die allein deine Anwesenheit in mir auslöste, abzulenken, trank ich Unmengen von meinem Wasser. Das hatte zur Folge, dass ich verdammt dringend auf die Toilette musste, als es endlich zur Frühstückspause klingelte. Da war dann ich es, der unruhig von einem auf das andere Bein hin und her zappelte, während ich darauf wartete, dass du und Ben endlich eure Sachen zusammengepackt hattet.
Mein bester Freund bemerkte natürlich, dass etwas mit mir nicht stimmt und hatte mich fragend angesehen.
„Ich muss pinkeln", klagte ich ihm darauf leise mein Leid.
„Dann geh halt zum Klo, oder müssen wir dir den Weg zeigen?", hatte ich darauf verständnislos an den Kopf geknallt bekommen. Mein Kumpel war mal wieder diskret wie ein Elefant im Porzellanladen.
Du standest hinter Ben und konntest dir ein Grinsen nicht verkneifen, wie mir das kleine Grübchen in deiner rechten Wange verriet.
Mein Problem in diesem Moment: Ich wollte euch nicht allein lassen. Es sollte doch endlich meine Gelegenheit sein nicht nur wie ein Trottel vor dir zu stehen und dich anzustarren. Ich wollte mit dir Reden, aber scheiße ich musste echt pinkeln.
„Wartet ihr auf mich, bis ich fertig bin?"
Ben hatte nur ungläubig gelacht. Das wunderte mich nicht. Schließlich warteten wir nie wie kleine Mädchen auf den Anderen, wenn der aufs Klo musste.
„Okay seid ihr dann beim großen Baum?", hatte ich gefragt, obwohl ich die Antwort bereits wusste. Unser Jahrgang traf sich von Beginn an, in den warmen Monaten, genau dort in den Pausen.
Ich war damals wie heute ein verliebter Trottel.
„Alter, das weisst du doch. Was ist denn nur los mit dir?"
Mein bester Kumpel grinste mich herausfordernd und wissend zu gleich an. Ich hasste ihn in diesem Moment dafür. Doch noch mehr hasste ich mich für mein peinliches Auftreten. Und meine Blase hasste ich dafür, dass sie nicht mal in der Lage war einen Liter Wasser länger als zwanzig Minuten zu halten.
Also ging ich mit schnellen Schritten davon um zu pinkeln. Es hieß keine Zeit zu verlieren. Nachdem ich mir die Hände gewaschen, hatte prüfte ich noch einmal mein Aussehen in dem zerkratzen Spiegel auf dem Schulklo. Was war ich in diesem Moment froh, dass ich über Nacht keine fiesen Pickel bekommen hatte. In meinen Teenagerjahren eine meiner größten Ängste. Fast genauso schlimm wie die Angst, wenn meine Mutter mich allein an der Kasse im Supermarkt stehen ließ, um noch schnell was zu holen und wir gleich dran waren. Meine Haare waren damals kurz geschnitten. Eine Optimierung war also nicht möglich.
Ein weiteres Mal holte ich tief Luft. So lässig wie möglich machte ich mich mit erhobenen Schultern auf den Weg zu euch. Im Kopf: eine Art optimistische, entschlossene Marschmusik. Es hieß: Auf in den Kampf.
Obwohl es erst früher Vormittag war, war die Hitze bereits da unerträglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die letzten Stunden nur verkürzt stattfinden würden, war also genauso hoch, wie die Temperatur auf den Thermometer.
Unter dem alten Kastanienbaum hatte sich bereits ein großer Teil der Abschlussklasse getummelt, um sich angeregt, also lautstark, zu unterhalten. In der heutigen Zeit würde wohl jeder auf sein Smartphone starren und checken, ob es neue Likes und Nachrichten gibt.
Unauffällig sondierte ich die Lage und fand dich umringt von einigen Schaulustigen in einem Gespräch mit Nadine und Ben vertieft. Beide schienen sich wieder mal einen Schlagabtausch zu liefern. Ich wusste, dass Ben auf Nadine stand. Um ehrlich zu sein, jeder in unserem Jahrgang wusste es, wenn man nur genau hinschaute. Doch Nadine ließ sich in diesem Fall nicht so leicht in die Karten schauen. War sie sonst eine echte Schnattertante, blieb sie, was ihre Gefühle anging, immer sehr verschwiegen.
Mit jedem Schritt, den ich auf euch zugemacht hatte, bemerkte ich, dass der Schweiß unterhalb meines Haaransatzes mehr wurde. Hierfür war aber ganz sicher nicht die Spätsommerhitze verantwortlich. Ich strich mit dem Handrücken über meine Stirn, um verräterische Spuren zu beseitigen und machte mir ein letztes Mal in Gedanken Mut, damit ich mich trauen würde dich anzusprechen. Chakka!
Ich gesellte mich zu eurem kleinen Grüppchen. Amüsiert und weniger angespannt, als noch zu Beginn des Tages beobachtetest du die beiden, wie sie eine hitzige Diskussion über Musik führten. Nadines Geschmack umfasste Bands wie Juli, Silbermond oder auch Rosenstolz. Alles Künstler, denen ich nie besonders viel abgewinnen konnte. Ben vertrat denselben Standpunkt. Weibermukke!
Wir waren hingegen Fans von dem coolen Zeug. Linkin Park, LimpBizkit und Billy Talent zum Beispiel. Gerade als Nadine wieder mal zu einer begeisterten Rede über das aktuelle Rosenstolz-Album ansetzte, stand ich endlich neben dir. Langsam hatte ich mich immer mehr in deine Richtung manövriert. Ich lachte nur dümmlich und hoffte so, deine Aufmerksamkeit zu erlangen, was mir überraschenderweise auch gelang.
„Was ist so witzig?"
Offen und ehrlich interessiert hattest du mich abgesehen, während du einen kleinen Schluck von deinem Saft getrunken hast.
Mein Herz machte einen Luftsprung in ungeahnte Höhen, schließlich hattest du mich angesprochen. Du. Mich. Doch gleich darauf landete es mit einem lauten Platschen auf den Boden der Tatsachen.
„Mal ehrlich Rosenstolz sind echt lahm. Dieses ständige Herzschmerzgedöns in ihren Songs nervt doch nur", hatte ich darauf meine Meinung großschnäuzig kundgetan, ohne allerdings zu wissen, dass ich damit mächtig ins Fettnäpfchen treten sollte.
Dein offener Blick wich Ernüchterung und wurde fast kalt mir gegenüber, als du lediglich zu mir meintest, dass ich wohl zu cool für diese Musik sei.
Im selben Moment wurde die nächste Stunde angekündigt und Nadine nahm dich wieder unter ihre Fittiche. Alle hatten von meinem Debakel mitbekommen. Nadine nahm dies gleich zum Anlass, um eure aufkeimende Freundschaft auf eine neue Ebene zu heben. Während Ben mir nur kumpelhaft auf die Schulter klopfte und mitleidig mit dem Kopf schüttelte.
„Du bist sowas von verknallt", bemerkte er erneut und da wir ausser Hörweite der Anderen waren, brummte ich nur zustimmend.
„Und sowas von am Arsch", ergänzte Ben und sprach damit das Offensichtliche an.
Mir blieb nur, auch dieser Aussage missmutig zuzustimmen und dir geknickt hinterher zu sehen, als die Tür zur Schule hinter dir und deiner Freundin ins Schloss fiel.
Dieses Gespräch hatte ich gründlich versaut und künftig sollte ich auch erfahren warum.
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