9 | Tränen
Cassandra biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Sie hatte vergessen, dass die sorgsam angelegten, verschlungenen Wege durch den riesigen Garten der Blancs aus Kieselsteinen bestanden. Peggy mochte an das Tragen von Schuhen mit Absatz gewöhnt sein, doch Cassandra merkte, dass sie keine Ahnung hatte, wie man auf so ebenem Untergrund am besten Schritte setzte.
Ebony neben ihr schien keine solche Probleme zu haben. Obwohl auch sie Schuhe mit mindestens drei Zentimeter Absatz trug, schlenderte sie vergnügt neben ihr her und plapperte ohne Unterbrechung. Nach dem gemeinsamen Tee war die schwarzhaarige Frau endgültig aufgetaut und hatte freudestrahlend die Einladung angenommen, eine Runde durch den Garten zu drehen.
»Manchmal frage ich mich natürlich, wo ich eigentlich herkomme und wer ich wirklich bin«, erklärte Ebony, deren fröhliche Stimme kaum zu den gesprochenen Worten passte. »Aber ich habe es hier so gut, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass mein Leben vorher besser war. Die meisten Tage verbringe ich damit, Blumen zu sammeln und zu Sträußen zu binden, die ich dann auf der Straße verkaufe. Kann es ein besseres Leben geben? Ich bin immer von der Schönheit der Natur umgeben und alle freuen sich, wenn sie Blumen kaufen!«
Innerlich konnte Cassandra nur den Kopf schütteln. Eine der weniger bedeutenden Werwolf-Familien hatte Ebony bei sich aufgenommen, um ihr die Eingliederung ins Rudel zu erleichtern. Aber soweit sie sich an die Geschichte erinnerte, hatte die Familie selbst Geldsorgen und die Hauptperson deswegen ermuntert, sich eine bezahlte Arbeit zu beschaffen. Sie wusste, dass die Familie spätestens in einem Monat damit beginnen würde, Ebony zum Auszug zu drängen.
Und als Blumenverkäuferin auf der Straße verdiente sie kaum genug Geld, um sich ein eigenes Haus oder gar Lebensmittel selbst leisten zu können. Es war eigentlich eine tragische Geschichte – die junge Frau, die plötzlich von einem Werwolf gebissen wurde und sich dann mittellos in einer fremden Gesellschaft wiederfand. Nur die Großzügigkeit ihrer Gastfamilie und später die bedingungslose Hingabe des Alphas bewahrten sie vor einem Leben in Armut.
»Ooooh, Lady Blanc! Die Rosenbüsche in Ihrem Garten sind prachtvoll!« Ebony klatschte begeistert in die Hände, als sie die vielen Rosen erspähte, die die Fontaine in der Mitte des Gartens säumten.
Cassandra lächelte nachsichtig. Ebonys Äußeres hatte sie beim Lesen immer an ihre eigene Jugend in der Goth-Szene erinnert, aber ihr Gemüt war so sonnig und positiv, dass sie nicht weiter davon entfernt sein könnte. Sie beschloss, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, den nächsten Schritt zu gehen?
Immer noch lächelnd stellte sie sich neben die schwarzhaarige Frau und folgte ihrem Blick auf die Rosen. »Wollen wir uns nicht duzen?«
Kurz schien Ebony neben ihr zu erstarren, dann quietsche sie begeistert auf. »Wirklich? Können wir das tun? Ist das in Ordnung?«
Cassandra nickte eindringlich. »Haben wir heute nicht einen Tag verbracht, wie Freunde es tun? Und sollten Freunde sich nicht duzen? Ebony?«
»Natürlich! Da haben Sie ... da hast du absolut recht, Margarete!«
Schwungvoll schlang Ebony ihre Arme um Cassandra und drückte sie an sich. Unsicher erwiderte Cassandra die Umarmung, während sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu halten. Obwohl Ebony einen Kopf kleiner war als sie, hatte sie sich mit so viel Kraft in ihre Arme geworfen, dass sie auf dem unebenen Boden den Halt verlor.
Sie hörte das Knirschen der Kieselsteine und spürte, wie ihr linker Fuß unter ihr wegrutschte, während ihr rechter zitternd unter der Last umknickte. Die Arme immer noch um Ebonys schmale Schultern gelegt kippte Cassandra nach hinten und zog die kleinere Frau dadurch mit sich.
Mit einem Aufschrei löste Ebony ihre Hände von Cassandra, die ebenfalls mit den Armen rudernd die Umarmung aufgab. Kurz dachte sie, dass sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, doch dann rollten erneut kleine Kiesel unter ihrem Fuß weg und gaben ihr den Rest. Sie versuchte, ihren Sturz zu bremsen, die Arme nach hinten gestreckt, einen Fuß in der Luft.
Doch sie machte es damit nur schlimmer. Ihr ganzes Gewicht landete auf ihrer rechten Hand, die mit Gewalt in die spitzen Kieselsteine gedrückt wurde und wegrutschte. Schmerzverzerrt stöhnte sie auf, während sie gleichzeitig der Länge nach hinfiel und gerade so verhindern konnte, dass ihr Kopf mit Schwung auf dem Boden aufschlug.
»Fuck!«, kam es ihr gequält über die Lippen. Für einige Herzschläge konnte sie keinen Muskel rühren. Die Luft schien ihr aus den Lungen gepresst worden zu sein, ihr rechtes Handgelenk pochte schmerzhaft und sie spürte, dass die Kieselsteine ihr die unbedeckten Arme aufgeschürft hatten.
Im nächsten Moment war Ebony bei ihr und beugte sich mit vor Entsetzen verzogenem Gesicht über sie. »Bei der Mondgöttin, Lady Blanc, es tut mir so leid! Das ist alles meine Schuld! Geht es Ihnen gut?«
Schwerfällig richtete Cassandra sich in eine sitzende Position auf. »Ich glaube, ich bin mit leichten Verletzungen davon gekommen. Und hatten wir uns nicht gerade geeignet, uns zu duzen?«
Tränen traten in die aufgerissenen Augen der schwarzhaarigen Frau. »Lady Blanc ... Margarete. Du bist viel zu gut zu mir. Ich habe deinen Sturz verursacht und du bist trotzdem noch nett zu mir! Das habe ich nicht verdient. Oh, es tut mir so leid.«
Cassandra nickte grimmig, während sie sich die Verletzungen an ihren Armen anschaute. In der Geschichte hatten Werwölfe übernatürliche Heilfähigkeiten, insofern dürften die oberflächlichen Wunden schnell abheilen. Was ihr mehr Sorgen bereitete, war ihr Handgelenk, das vermutlich verstaucht war. Selbst wenn sie schneller heilte, durfte sie sich wohl auf mindestens eine Woche voller Schmerzen freuen.
»Ebony, magst du so gut sein, und Minnie finden? Sie ist die Magd, die dich zu mir geführt hat. Ich glaube, ich brauche Hilfe, um zurück zum Haus zu kommen.«
Eifrig nickte Ebony und sprang unverzüglich auf. Mit langen Schritten eilte sie über den Kieselsteinweg zurück. Cassandra blieb auf dem Boden sitzen und presse ihren Arm an ihre Brust. In ihrem echten Leben war sie nicht sonderlich abenteuerlustig, entsprechend hatte sie nie Dinge getan, bei denen man sich verletzen konnte. Der Schmerz in ihrem Handgelenk war mehr, als sie je zuvor gespürt hatte. Ihr war nach Weinen zumute.
Es dauerte nur wenige Minuten, dann kam Ebony mit Minnie und dem Butler Louis im Gefolge zurück. Ihre Magd riss entsetzt die Augen auf, als sie die Abschürfungen auf ihren Armen sah. »My Lady! Geht es Euch gut?«
Cassandra nickte gequält, während der Butler ihr auf die Füße half. »Vielen Dank, Minnie, es geht soweit. Und danke, dass du Louis gleich mitgebracht hast. Könnt ihr mir zum Haus zurück helfen?«
»Sehr wohl, my Lady. Bitte, stützt Euch auf mich.« Die melodische Stimme des Butlers klang routiniert und sicher, während er sie mit festem Griff hielt.
»Ebony, ich fürchte, wir müssen unseren Spaziergang heute verfrüht abbrechen. Bitte sei dir sicher, dass ich dir keinen Vorwurf mache, also hast du dir nichts vorzuwerfen, okay? Ich meine das ehrlich.«
Schluchzend nickte ihre neue Freundin. »Danke, Margarete! Es tut mir so leid, aber ich werde versuchen, deinen Worten Folge zu leisten. Ich komme auf jeden Fall morgen vorbei, um mich nach deiner Gesundheit zu erkundigen.«
»Das wäre sehr lieb von dir, Ebony. Auf ein Wiedersehen morgen also.«
Tränen strömten noch immer über Ebonys Gesicht, als sie sich zum Gehen wandte und mit schnellen Schritten entfernte. Seufzend stützte sich Cassandra auf Louis und ließ sich von ihm zum Haus führen. Ihr Fuß, der umgeknickt war, tat bei Belastung auch weh, doch wesentlich weniger schlimm als ihre rechte Hand. Sie bezweifelte, dass er verstaucht oder gar gebrochen war, aber es war sicherer, zu viel Belastung zu vermeiden.
Es dauerte länger, als ihr lieb war, aber schließlich schafften sie es zum Haus zurück. Cassandra ließ sich von Louis auf ein Sofa im großen Kaminzimmer im Erdgeschoss helfen, ehe sie ihn losschickte, um einen Arzt zu holen. Minnie machte sich derweil auf den Weg in die Küche, um Tee und ein feuchtes Handtuch zum Kühlen zu holen.
Kam war die Tür zur Empfangshalle hinter Minnie zugeschlagen, flog sie auch schon wieder auf. Überrascht schaute Cassandra zu dem unerwarteten Besucher auf. »Hunter?«
Sein Gesicht war vor Wut verzogen, während er mit langen Schritten zu ihr kam und sich vor ihr aufbaute, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich kann nicht glauben, wie tief du noch sinken kannst!«
Verwirrt und mehr als nur ein bisschen genervt erwiderte sie seinen harten Blick. »Wovon sprichst du?«
Ruckartig beugte er sich vor und stemmte seine Hände links und rechts von ihrem Kopf auf die Rückenlehne des Sofas. »Ebony. Als ich gehört habe, dass du sie zum Tee eingeladen hast, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Und dann komme ich hier an und sehe, wie sie weinend vom Gelände flieht? Und mir nicht einmal sagen will, was geschehen ist? Ist Eifersucht alles, was du noch kennst? Was hast du mit ihr gemacht, mh? Hast du sie extra herbestellt, um sie zu drangsalieren?«
Mit offenem Mund starrte Cassandra zu ihm hoch. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. »Fick dich, Hunter! Du bist der, der blind ist vor Liebe!«
Er beugte sich zu ihr runter, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war. »Ich warne dich. Pass auf, wie du mit mir sprichst. Und jetzt sag mir, was du mit Ebony gemacht hast. Ich will die Wahrheit hören. Wehe dir, wenn ich auch nur eine Lüge in deinen Worten erkennen kann.«
Cassandra schluckte. Wieder hatte sie versucht, einen anderen Weg als in der Geschichte zu gehen, und wieder fand sie sich in exakt derselben Situation mit Hunter wieder, der exakt dieselben Worte gegen sie richtete.
Wie sollte sie es nur anstellen, vom Original abzuweichen, wenn alle Wege immer wieder zum Plot zurückführten?
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