»You see the world through your cynical eyes«
Jim blätterte ungeduldig in einem der Magazine im Wartezimmer von Doktor Lynn Meifen. Er wartete seit beinahe einer Stunde darauf, dass Sebastians erste Therapiesitzung endlich endete.
Anfangs war er noch ein wenig die Flure entlang geschlendert, doch so groß war die Praxis dann auch nicht und nachdem die Assistentin ihm misstrauische Blicke zugeworfen hatte, hatte er beschlossen, dass es besser war, sich beim ersten Besuch möglichst unauffällig zu verhalten. Nur war unauffällig auch eintönig und furchtbar langweilig.
Er stöhnte genervt und warf die Zeitung zurück in den Korb, aus dem er sie gegriffen hatte. Vermutlich hätte die Frau hinter dem Tresen ihn erneut seltsam angesehen, aber sie war vor knapp einer Minute verschwunden - vermutlich machte sie Mittagspause. Das wäre für Jim die Gelegenheit, an ihren Computer zu gehen und sich die Informationen zu beschaffen, die er noch brauchte.
Nur wusste er, dass Sebastians Sitzung sogleich zu Ende war und das Risiko somit zu hoch, denn wenn die Psychiaterin zusammen mit Sebastian das Zimmer verlassen und ihr Blick auf Jim fallen würde, der in ihren Daten herumklickte, würde das vermutlich zu einem sofortigen Anruf bei der Polizei führen.
Also beschränkte Jim sich darauf, einen unruhigen Rhythmus auf seinem Knie zu trommeln und die Tür zum Therapiezimmer anzustarren, als könnte er somit das Ende seiner Langeweile erzwingen.
Er wüsste zu gern, was Sebastian mit der Psychiaterin besprach. Verhielt er sich unauffällig, wie Jim es ihm eingebläut hatte? Ob er log oder wirklich über seine Probleme redete? Redete er vielleicht sogar über ihn? (Letzteres glaubte Jim nicht, denn eigentlich hatten sie sich darauf geeinigt, sich der Polizei und allen, die mit ihr in Verbindung treten könnten, nur als Freunde zu präsentieren - immerhin war Jim nach deren Wissen mit Severin zusammen.) (Allerdings, wer wusste schon, ob Sebastian sich auch an alle ihrer Abmachungen hielt.)
An der Wand hing ein Bild, das Jim die ersten zwanzig Minuten dieser Tortur analysiert hatte. Es war auf einer schwarzen Leinwand gemalt, mit weißen und roten Farbspritzern, die irgendein seltsames Muster ergaben. In der Mitte des Bildes war ein einzelner, gelber Farbtupfer, der Jim beinahe wahnsinnig machte, weil er nicht so recht ins Bild passen wollte. Vielleicht war das der Grund, wieso er da war. Möglicherweise hielt man den Patienten dieses Bild unter die Nase, ließ sie beschreiben, was sie darin sahen und wenn sie analysierten, dass der gelbe Punkt für einen Funken Hoffnung oder das erhellende Licht der Sonne stand, dann ließ man sie wieder gehen.
Jim würde liebend gern gehen.
Möglicherweise war es dieser Gedanke, der ihn endlich erlöste. Die Tür schwang auf und heraus trat Sebastian mit einem milden Lächeln auf den Lippen.
Er drehte sich noch einmal auf der Türschwelle um und winkte. „Vielen Dank, Doktor Meifen! Bis demnächst!"
Dann schloss er die Tür hinter sich und wandte den Blick zu Jim. Als er dessen Gesichtsausdruck sah, fing er an zu lachen. „War es so schlimm, zu warten?"
„Es war die Hölle!"
Sebastian lachte erneut. „Also ich fand es eigentlich ganz in Ordnung. Die Frau scheint etwas von ihrem Fach zu verstehen."
Jim erhob sich von dem unbequemen Plastikstuhl. „Wie schön für dich. Was habt ihr besprochen?"
Sebastian warf einen kurzen Blick zur Patientenzimmertür und dann auf den Ausgang. Jim verstand und setzte sich seufzend in Bewegung.
Als sie nach draußen in die winterliche Kälte traten, wandte Jim sich beinahe sofort wieder Sebastian zu. „Also?"
Sebastian hob nur die Schultern. „Sie hat eigentlich nicht viel gesagt, was uns weiterhilft. Sie hat mir nur Fragen gestellt, die ich beantworten konnte, wenn ich wollte. Über sich oder ihre Praxis oder über andere Patienten hat sie verständlicherweise nicht geredet."
Jim verzog unwillig das Gesicht. „Das ist nicht viel", stellte er fest, woraufhin Sebastian schnaubte.
„Das ist gar nichts, Jim. Du weißt schon, dass das ganze Unterfangen sinnlos ist, weil man einfach nicht unauffällig nach dem Straftäter fragen kann, der in drei Monaten einen Termin zur Begutachtung hat."
„Hm." Jim biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Dann wandte er sich ruckartig wieder Sebastian zu. „Wie spät ist es?"
Sebastian zuckte ahnungslos mit den Schultern. Dann kramte er sein Handy aus der Hosentasche hervor und hielt Jim den Display entgegen: „13:12 Uhr. Hattest du deinen Eltern nicht erzählt, wir wären um halb zwei wieder zurück?"
Das würden sie garantiert nicht schaffen. „Deine blöde Therapiestunden ging länger als gedacht. Was habt ihr überhaupt besprochen? Du meintest, sie hätte dir Fragen gestellt. Welche Fragen?"
Ein erneutes Schulterzucken seitens Sebastians. „Sie hat mich nach meiner Familie gefragt - wie ich zu ihr stehe. Nach Freunden, meiner Kindheit."
„Und was hast du geantwortet?" Jim setzte sich in Bewegung, damit nicht zu viele Leute auf die zwei Teenager-Jungen aufmerksam wurden, die vor dem Eingang zum Psychotherapeuten verharrten. Sebastian folgte ihm eilends.
„Naja, zum größten Teil die Wahrheit. Manche Sachen habe ich ausgelassen."
Wie zum Beispiel, dass dein Zwilling von dem Typen ins Koma geprügelt wurde, der zufällig auch einen Termin haben wird, welcher über das Strafausmaß entscheiden würde?, dachte Jim, hielt jedoch den Mund, weil er inzwischen wusste, dass nicht alles laut ausgesprochen werden sollte.
„Welche Rolle spiele ich in der ganzen Sache?", hakte Jim nach. Sebastian begann neben ihm, einen Kieselstein vor sich her zu kicken.
„Du bist mein bester Freund seit Kindheitstagen und hast mir geraten, mir helfen zu lassen, nachdem du bemerkt hast, dass es mir immer schlechter geht."
Jim nickte nachdenklich. Soweit hatte Sebastian sich also wirklich an den Plan gehalten. „Gut. Das nächste Mal wird deine Therapiestunde etwas später beginnen, damit ich freien Zugang auf die Computer habe, während die anderen Mitarbeiter hoffentlich Mittagspause machen. Ich glaube, für die Informationsbeschaffung sorge ich lieber selbst - du hast Recht, es ist zu auffällig, wenn du etwas nachfragst. Also bist du mein Ablenkungsmanöver."
Jim erhielt auf diesen Vorschlag, nein, vielmehr auf diesen Befehl, keine Antwort und als er von der Seite zu Sebastian sah, wirkte der nicht sonderlich zufrieden. Er hatte die Brauen zusammengezogen und die Lippen fest aufeinander gepresst. „Ist alles in Ordnung?"
Sebastian versuchte, seine Gesichtsmuskeln ein wenig zu lockern, was in einer seltsamen Grimasse endete. „Ich- ja, alles gut. Ich finde nur, naja, ich weiß nicht, ob ich noch einmal an so einer Sitzung teilnehmen möchte."
Jim blieb ruckartig stehen. „Wie bitte?"
Sebastian lief noch ein Stück weiter, ehe auch er zum Stehen kam und sich langsam zu Jim umdrehte. „Ich weiß, dass wir das so abgemacht haben, aber es ist komisch. Ich weiß nicht, ob ich das möchte."
„Ich verstehe nicht, wieso du auf einmal dagegen bist. Eben meintest du noch, dass du es ganz in Ordnung fandest und hast dich sogar bei Doktor Meifen verabschiedet!"
Sebastian verzog das Gesicht. „Das habe ich doch nur gesagt, weil die Tür ziemlich schalldurchlässig ist und ich den Plan nicht gefährden wollte. Aber ich möchte, dass wir den Plan ändern. Ich will nicht mit dieser Frau über meine Probleme reden."
„Dann rede nicht über deine Probleme, sondern denk dir was aus." Jim verschränkte die Arme, während Sebastian den Kopf schüttelte.
„Ich bin ein schlechter Lügner. Sie würde mich sofort durchschauen."
„Dann bring ich dir eben bei, wie man lügt." Jim blieb bei seinem Standpunkt. Sebastian konnte wirklich nicht erwarten, dass sie den ganzen Plan noch einmal wegen ihm umkrempelten. Nachdem es schon lang genug gedauert hatte, ehe überhaupt Bewegung in das Ganze gekommen war.
„Jim..."
„Es ist ganz leicht Sebastian. Du musst nur-"
„Jim."
„-so tun, als würdest du das, was du sagst, selbst glauben. Vergiss Details, halt es grob, aber nicht zu grob und-"
„Jim!", unterbrach Sebastian ihn diesmal lauter und heftiger. Jim schloss den Mund und blickte ihn böse an. „Ich will das wirklich nicht. Ich komm mir so ausgeliefert vor."
Daraufhin wusste Jim nichts zu erwidern, obwohl er lange Zeit überlegte. Dennoch konnte er Sebastian nicht einfach so aus ihrem Deal entlassen. „Weißt du, was ich glaube?" Jim fing wieder zu laufen an, überholte Sebastian schnell, der immer noch einige Meter von ihm entfernt gestanden hatte. „Ich glaube, dass es dir wirklich helfen könnte. Weil du mir nicht alles erzählst, das weiß ich, und diese Frau dazu ausgebildet wurde, die Dinge in dir zu lesen, die du selbst nicht aussprechen möchtest." Dass Jim dies zum Teil ebenfalls beherrschte, ließ er außer Acht. „Und ich glaube, dass du Angst davor hast, was sie in dir sehen könnte. Was du unter Verschluss hältst. Ich kann das verstehen, wirklich. Aber du musst verstehen, dass das sein muss. Es muss sein, wenn du Severin wirklich rächen willst."
Mit jedem Wort, das Jim sagte, wurde Sebastians Gesichtsausdruck verschlossener - Jim konnte es beobachten wie im Zeitraffer. Und er wusste, dass das bedeutete, dass er richtig lag.
„Ich will nicht unbedingt wissen, was genau falsch mit mir ist", gab Sebastian zähneknirschend zu, ohne auch nur in Jims Richtung zu sehen. „Ich will nicht in irgendeine Krankheits-Definition eingeordnet und mit anderen Menschen in eine Schublade gesteckt werden."
Jim fühlte ein tiefes Verständnis für das, was Sebastian da sagte, und dennoch durften Sebastians Empfindungen seinen Plan nicht gefährden. „Ich weiß. Und das kannst du sicher auch gar nicht. Lass mich dir sagen, dass du einzigartig bist, Sebastian. Aber du darfst das alles nicht so wichtig nehmen. Stell es dir als Undercover-Mission vor."
Diesmal war es Sebastian, der nicht antwortete, sondern beim Gehen nur nachdenklich auf seine Schuhspitzen blickte.
Jims Blick fiel auf ein kleines Restaurant, das britische Spezialitäten anpries und er zupfte Sebastian am Ärmel und deutete mit einem Nicken hinüber. „Lass uns etwas essen gehen."
Sebastian seufzte leise. „Ja, gut."
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Die Ferien waren schneller vorbei, als Jim lieb war. Als er und Sebastian an einem Samstag ihr Zimmer im Internat wieder betraten, lag es kalt und leer da und wirkte alles andere als einladend, aber Jim ließ sich zufrieden auf sein Bett fallen. „Das habe ich vermisst. Die Ruhe und das Alleinsein."
Sebastian schmunzelte amüsiert. „Naja, hier sind zwar dennoch weitere hundertfünfzig Schüler, aber ich denke, ich weiß, was du meinst."
Mit einem Ächzen stellte er seine und Jims Tasche (die er genommen hatte, weil Jim sich die meiste Zeit darüber beschwert hatte, dass sie so schwer war) auf sein Bett und setzte sich dann neben Jim auf dessen Bett. „Es ist komisch, wieder hier zu sein. Irgendwie habe ich verdrängt, dass ich in diesem Leben auch noch zur Schule gehe."
Jim verstand dieses Gefühl ziemlich gut. Es kam ihm plötzlich so sinnlos vor, hier zu sein, wo die Welt so viel mehr für sie bereithielt.
Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Alles war von einer feinen Staubschicht bedeckt, obwohl die Ferien gar nicht so lang gewesen waren. Als sie hereingekommen waren, war keine einzige Falte in dem Bettbezug gewesen und irgendwer hatte den Papierkorb zwischen den zwei Schreibtischen ausgeleert.
Irgendwas löste der leere Mülleimer aus und er versuchte fieberhaft, zu erkennen, was sein Unterbewusstsein ihm mit diesem vagen Gefühl sagen wollte, als auch schon eine Frage aus ihm herausplatzte: „Von was für einer Nachricht, die du ignoriert hast, hatte Filip gesprochen?"
Für einen Moment runzelte Sebastian nur die Stirn. Dann schien er sich wieder zu erinnern und seine Miene verfinsterte sich. „Er hat sie mir während der Zeit zukommen lassen, als du nicht mit mir geredet hast. Eigentlich ziemlich genau an meinem Geburtstag. Er wollte ein erneutes Treffen, damit wir uns aussprechen und Dinge klären könnten. Ich wollte ihn aber nicht sehen und hab die Nachricht ignoriert. Ich habe sie eine Weile in einem Comic aufbewahrt, weil mich immer wieder die Zweifel überkommen haben. Aber als ich Isaac seine Comics zurückgegeben habe, habe ich die Nachricht endgültig weggeschmissen." Sebastian stützte seine Stirn auf seine Handflächen ab, während Jim sich undeutlich an diesen Moment erinnerte, in dem Sebastian einen Zettel, den er Jim nicht gezeigt hatte, in den Papierkorb geworfen hatte. Neben ihm seufzte Sebastian leicht. „Ich wünschte wirklich, ich hätte es nicht getan. Ich wünschte, ich wäre einfach hingegangen - und wenn es nur gewesen wäre, damit Filip mich wieder beschimpfen kann. Aber jetzt ist es zu spät. Und Severin musste für meinen Fehler bezahlen."
Jim verzog leicht das Gesicht - das hatte er nicht erreichen wollen. Dass Sebastian wieder zu den Vorwürfen und dem Selbsthass überging. „Es ist nicht deine Schuld. Der Typ ist nicht ganz dicht."
Sebastian rieb sich über das Gesicht, als versuchte er, etwas fortzuwischen. „Ich weiß. Er ist ein verdammtes Arschloch. Und ein Monster."
„Und Monster besiegt man."
Nach einer Milisekunde des Zögerns, rutschte Jim zu seinem Freund, schlang vorsichtig seine Arme um ihn. Er konnte hören, wie Sebastians Atem sich für einen kurzen Augenblick verschnellerte und seine Mundwinkel zuckten, weil Sebastian bei jeder kleinsten Geste der Zuneigung noch immer aufgeregt war. Jim legte sein Kinn auf Sebastians Schulter ab und gemeinsam schwiegen sie.
Jim wusste nicht, woran Sebastian dachte, doch seine eigenen Gedanken rasten. Er spürte, dass es bald zum Endkampf kommen würde. In dem sie das »Monster« besiegen würden.
Sie müssten sich nur eine Strategie überlegen. Irgendetwas Todsicheres. Immerhin sollte Filips Tod sicher sein.
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Hallo :)
Ja, es gibt endlich wieder ein Kapitel. Tut mir echt leid, dass ihr so lang warten musstet und dass dieses Kapitel nicht einmal sonderlich lang ist. Ich werde versuchen, ab jetzt wieder jede Woche einmal (!) zu updaten, kann aber nichts versprechen, da mein Schreibprozess noch immer ungeheuer langsam ist. Dafür näher wir uns eindeutig dem Ende. Es ist praktisch schon zum Greifen nah.
Das macht mich irgendwie traurig, aber gleichzeitig bin ich auch erleichtert, weil es gerade jetzt zum Ende wirklich müßig geworden ist und obwohl ich diese Geschichte wirklich liebe, wird es Zeit für etwas Neues.
Was dieses Neue wird, werden wir sehen.
Ich hoffe jedenfalls, es hat euch dennoch gefallen und ihr habt weiterhin Freude an dieser Geschichte. Wie immer ist Kritik, als auch Kommentare und Votes sehr gern gesehen.
Wir lesen uns!
Eure
Tatze.
PS: Auch hier noch einmal vielen, vielen Dank für über 5000 Reads - ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen diese Geschichte lesen. Das bedeutet mir ungeheuer viel! ❤
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