»And I'd never dreamed that I'd lose somebody like you«
Zu sagen, Sebastian wäre an dem Tod seines Bruders zerbrochen, wäre eine Untertreibung gewesen. Sebastian fiel auseinander, verkümmerte, gab alles und jeden auf. Und Jim konnte nichts dagegen tun.
Sebastian fuhr sogar für einen Monat zurück zum Haus seines Vaters. Jim wusste nicht, ob sie sich wieder vertragen hatten, er wusste nicht einmal, was Sebastian während dieser Zeit tat, doch als sein Freund wieder zurückkam, war er außergewöhnlich schweigsam, seine Statur deutlich schmaler und seine Augen matt. Eine halb verheilte Narbe teilte seine linke Augenbraue - „Ich bin die Treppen runtergefallen", murmelte Sebastian ausweichend, als Jim ihn danach fragte. Daher kämen auch seine verstauchte Hand und die aufgeplatzten Handknöchel.
Jim glaubte ihm kein Wort.
Doch wann immer Jim versuchte, die Wahrheit herauszufinden, stieß Sebastian ihn fort und das wortwörtlich und dann brauchte Jim seine ganze Beherrschung, um ihm nicht die Kehle zu zerfetzen.
Es verlangte Jim wirklich viel ab. Denn im einen Moment starrte Sebastian betrübt vor sich hin, fixierte die Leere vor sich und sprach kaum ein Wort und dann entflammte sein Zorn plötzlich wegen Kleinigkeiten und er fauchte Jim an, der das nicht auf sich sitzen ließ und zurückfeuerte, wodurch ein Streit entbrannte, der damit endete, dass einer von ihnen aus dem Zimmer stürmte oder etwas sagte, das den anderen verstummen ließ. Und abends oder am nächsten Tag war alles wieder normal - jedoch wurde nie ein Wort der Verzeihung geäußert.
Am Schlimmsten für Sebastian war sicherlich, dass er selbst mehrmals ins Krankenhaus musste. Er musste erneut durch die Tür, die er verlassen hatte, nachdem sein Bruder vor seinen Augen verstorben war.
Der Grund dafür war ebenfalls Severin - er hatte einen angeborenen Herzfehler besessen, der unentdeckt geblieben war, bis er sein Herz zum Stehen gebracht hatte. Es war unglaublich ironisch: Severin hatte wegen schwerster Kopfverletzungen im Koma gelegen und dann war er gestorben wegen etwas, das bereits vor Jahren hätte entdeckt werden können - und gerade weil es nicht entdeckt worden war, hatte Augustus Moran, nach Sebastians Aussage, Klage gegen das Krankenhaus erhoben (Jim war sich nicht sicher, ob er diesen Streit gewinnen konnte).
Da Sebastian und Severin Zwillinge waren und Herzfehler oft vererbt wurden, musste also nun Sebastian Untersuchungen und Tests über sich ergehen lassen und das in dem Krankenhaus, in dem er so viel verloren hatte.
Jim hatte angeboten, Sebastian zu begleiten, doch der hatte abgelehnt. Jim wollte nicht noch mehr mit Sebastian diskutieren, also nahm er es hin. Wenn auch mit Widerwillen.
„Wo ist Sebastian?", fragte Richard, der Jim aufspürte, obwohl der sich absichtlich abseits jeglicher Schülergruppen in den Schulpark gesetzt hatte - inzwischen war es zwar noch immer recht kühl, doch wenigstens regnete es nicht und es herrschte lediglich eine leise Brise. Jim genoss diese Art von Wetter. Es gab nichts, das ihn ablenken, stören oder aus der Konzentration bringen konnte - normalerweise nicht. Denn sein Bruder zerstörte die damit verbundene Ruhe.
„Nicht hier", antwortete Jim genervt auf die Frage seines Bruders, nicht gewillt, seine Augen zu öffnen, um diesen anzusehen.
„Das habe ich selbst gesehen."
„Und wieso fragst du dann?"
„Ich-" Richard unterbrach sich. „Wie auch immer. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht, Brüderchen. Es ist ein Wunder, dass ich dich heute erwischt habe - wir haben uns lang nicht mehr gesehen."
Jim brummte zustimmend, öffnete seine Augen doch noch und sah seinen Bruder unter halb geöffneten Lidern genervt an. „Stimmt. Das war Absicht."
Richard öffnete empört den Mund, schloss ihn dann wieder und sah geradeaus. „Ja, wie auch immer." Er verschränkte die Arme. Dann schwieg er kurz und blickte ins Leere, als dächte er über etwas nach. „Und was ist mit Sebastian? Wie... geht es ihm?" Seine letzte Frage stieß er zögerlich aus, als wüsste er nicht so recht, ob er die richtige Formulierung gefunden hatte.
Jim schnaubte. „Keine Ahnung. Wie soll es ihm schon gehen."
Erneut ein kurzes Zögern seitens Richard. Schließlich setzte er sich langsam neben Jim auf die Bank und blickte ihn aufmerksam an. „Es ist doch alles in Ordnung mit euch, oder? Ich meine eure, du weißt schon... Beziehung."
Jim knirschte mit den Zähnen, dachte an die Auseinandersetzungen, die Ausschreitungen, das Schweigen und Schreien und daran, dass Sebastian verschlossen war und Jim selbst nicht wusste, was er noch tun sollte, damit es wieder so wurde wie vorher, denn so, wie es jetzt war, ließ es Jims Zorn wachsen, ebenso die Dunkelheit und er wusste, dass Sebastian dies früher oder später bemerken würde. Und dann konnte er die Folgen nicht mehr absehen, was Jim störte und ihm manchmal schlaflose Nächte verursachte. Immerhin war er jemand, der Probleme analysierte. Das dauerte seine Zeit - und dann musste er noch immer eine Lösung finden, was schwerer war als früher, denn dies waren auch andere Arten von Probleme als früher.
„Jim?", hakte Rich nach, als Jim eine ganze Weile nicht reagierte und sich nur nachdenklich auf die Unterlippe biss.
Jim blinzelte sich aus dem Gedanken-Wirr-Warr und nickte. „Ja, alles gut", murmelte er dann ein wenig abwesend.
Richard musterte ihn wenig überzeugt. „Okay." Erneut breitete sich Stille zwischen ihnen aus, was Jim nicht weiter störte, doch natürlich zerriss Richard sie erneut, diesmal mit einem Räuspern: „Übrigens wollen Mum und Dad in den Sommerferien für drei Wochen mit uns nach London."
Jim legte den Kopf in den Nacken und auf die Lehne der Bank. „Was soll ich denn da?" Er hatte bereits andere Pläne für die Sommerferien. Diese Pläne nahmen die andere Hälfte seiner Nächte ein - aber Lösungen für diese zu finden, war deutlich einfacher.
Rich hob die Schultern. „Vielleicht ist es ganz schön dort. Vielleicht wird es dir gefallen."
„Sicher", sagte Jim ironisch.
„Es wird dir guttun, mal ein wenig von hier wegzukommen."
„Sicher", wiederholte Jim.
<>
Wider Erwarten fand Jim Sebastian tatsächlich rauchend draußen vor, als der Blonde einmal mehr in der Nacht nicht im Zimmer auftauchte. Jim hatte beschlossen, herauszufinden, wohin Sebastian immer verschwand und wieso er so lang brauchte. Und so war er Sebastian in die kühle Frühlingsnacht gefolgt, hatte ihn kurz in der Dunkelheit aus den Augen verloren und dann einige Minuten später auf einer Bank sitzend entdeckt.
Er war allein, was Jim beinahe noch mehr überraschte. Erst da ging Jim auf, dass er wirklich erwartet hatte, dass Sebastian irgendwelche krummen Spiele trieb. Dass es nicht sein konnte, dass Sebastian einfach draußen saß, rauchte, telefonierte, nachdachte und die Zeit vergaß. Aber natürlich war Sebastian nicht Jim. Er war nicht einmal wie Jim. Wenn Sebastian etwas sagte, dann meinte er es meistens auch so - keine Lügen, keine Rätsel, einfach die blanke Wahrheit. Das war etwas, das Jim immer an Sebastian geschätzt hatte - er trug seine Geheimnisse auf der Zunge, versteckte sie nicht, und dennoch war er unmöglich zu knacken. Vermutlich war gerade der Versuch, nichts zu verbergen, der Grund dafür, dass Sebastian alles so gut verbarg.
Jim stand einige Meter entfernt und beobachtete Sebastian einfach nur. In Jims Augen war Sebastian schon immer attraktiv gewesen, aber in diesem Moment hatte seine Erscheinung etwas ganz Besonderes: Sanftes Mondlicht, in dem er badete, der Zigarettenrauch wie Nebel um ihn herum, die Wangenknochen hervorstehend, wann immer er einen weiteren Zug nahm, und sein Kiefer angespannt bei jedem ausgestoßenen Atem. Sebastian schaffte es wirklich, elegant beim Rauchen zu wirken.
Jim war so auf Sebastians Züge konzentriert, dass er erst nach einigen Momenten bemerkte, dass sein Freund auf einen Stapel Papiere starrte, der auf seinen angewinkelten Knien lag und nervös mit einem Kugelschreiber in seiner freien Hand klickte.
Verwirrt runzelte Jim die Stirn. Was hatte Sebastian dort? Unterlagen aus dem Krankenhaus? Aber das machte keinen Sinn, die Untersuchungen hatten keine Fehler an seinem Herzen erkennen können. Vielleicht hatte Sebastian sich freiwillig für eine dieser Umfragen oder Studien gemeldet und... er hatte tagsüber dazu keine Zeit gefunden.
Jim schnaubte leise. Wem machte er eigentlich etwas vor? Es gab keinen Grund für Sebastian, sich etwas in beinahe absoluter Dunkelheit anzuschauen, es sei denn, er verbarg etwas. Vielleicht war Sebastian doch nicht immer so ehrlich.
In dem Moment, in dem Jim diese Erkenntnis traf, seufzte Sebastian schwer und begann sich die Nasenwurzel zu massieren. Er murmelte leise etwas, wie um sich etwas zu merken und begann dann unbeholfen auf dem Stapel Papier auf seinem Schoß zu schreiben.
Jim näherte sich ihm entschlossen. „Was tust du da?"
Sebastian zuckte heftig zusammen, rutschte mit dem Stift ab und hinterließ einen Strich quer über dem Blatt. Als er Jim erkannte, sprang er auf und blickte ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. „Jim! Ich- Was-? Du..."
„So überrascht, dass ich dir auf die Schliche gekommen bin?", fragte Jim spöttisch und verschränkte die Arme. Er richtete seinen Blick auf die Blätter, die aufgrund Sebastians schnellem Aufstehen zur Hälfte auf der Bank und dem Boden verteilt waren. „Was ist das, Sebastian?"
„Ich-" Sebastian hielt inne. Dann begann er wortlos, die Blätter aufzusammeln. Irgendwann richtete er sich wieder auf und behauptete: „Das ist privat. Ich will dir das jetzt nicht erklären müssen."
Jim formte die Augen zu Schlitzen. Sebastian dachte doch nicht wirklich, dass er nach seiner Reaktion einfach locker lassen würde. Kannte er Jim mittlerweile überhaupt nicht?
„Ich denke aber, das musst du doch", erklärte er sanft und nachdrücklich. „Immerhin musst du einsehen, dass dein Verhalten wirklich verdächtig ist. Du schleichst dich so oft raus, um dir ein paar Papiere anzusehen, obwohl es so viel einfacher wäre, das bei Tag und Licht zu machen. Du zuckst zusammen, als hätte ich dich beim Fremdgehen erwischt und du gibst mir keine Antworten, sondern nur fadenscheinige Ausreden, obwohl du wissen solltest, dass Privatsphäre für mich nicht unbedingt ein Hindernis darstellt." Jim legte den Kopf schief, sah Sebastian aufmerksam an, der beinahe ebenso aufmerksam die Leere neben Jims Kopf studierte. „Also, Seb, was hast du da?"
Sebastian atmete tief durch. „Aufnahmeformulare."
Jim blinzelte. Damit hatte er nicht gerechnet. Für was sollte Sebastian sich denn bewerben - nein, wo hatte er sich bereits beworben, dass er dort nun aufgenommen werden konnte? „Für was?", fragte Jim laut und vermutlich hörte man ihm die Verwirrung an.
Sebastian antwortete nicht sofort. Er biss sich auf die Lippe und blickte auf den unordentlichen Stapel Papiere in seinen Händen. Je länger Sebastian mit seiner Erwiderung zögerte, umso sicherer wurde Jim, dass sie ihm nicht gefallen würde.
„Sebastian!", fauchte er, als der einfach nicht mit der Sprache herausrückte.
„Für eine andere Schule, okay?", rief Sebastian gereizt. „Eine Militärakademie... in England."
Jim glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?"
„Eine Militärakademie in England!", wiederholte Sebastian genervt. „Mein Vater hat dort Kontake und nächstes Jahr werde ich dort anfangen."
Wie er es sagte, klang es, als wäre alles bereits festgelegt und als gäbe es keinerlei Zweifel, dass Sebastian nach England auf eine Militärschule gehen würde. Als wäre die Sache abgeschlossen. Jim war aber ganz und gar nicht fertig mit dem Thema. „Du gehst nach England?", fragte er ungläubig, spürte den alten Zorn in sich aufwallen. „Wieso hast du mir nichts davon gesagt? Wieso hast du mich nicht gefragt? Du kannst nicht einfach nach England gehen!"
Sebastian richtete seinen stählernen Blick auf ihn. Er wirkte plötzlich so ruhig. Als wäre er auf einmal nicht mehr nervös, jetzt, wo er Jim die Wahrheit gesagt hatte. „Doch, ich kann. Und ich habe dich nicht gefragt, weil es meine Entscheidung ist, Jim. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich glaube, dass es das Richtige ist und ich hätte dir früher oder später davon erzählt."
„Wann denn, wenn du bereits auf dem Weg zu dieser tollen Schule bist?", brauste Jim auf, der einfach nicht glauben wollte, was er da hörte. Sebastian gab gerade alles auf, was Jim sich mit ihm aufgebaut hatte, denn er hatte auf Sebastian gebaut und jetzt wollte der ihm sagen, dass er lieber vierhundert Kilometer entfernt auf eine bescheuerte Schule für Möchtegern-Soldaten gehen wollte? Jim meinte, explodieren zu müssen. „Du kannst nicht einfach so abhauen" beharrte Jim, „Du... Du musst hierbleiben. Bei mir. Ich will nicht, dass du gehst. Du musst hierbleiben!"
Plötzlich veränderte sich etwas in Sebastians Zügen. Seine Kiefermuskulatur spannte sich noch weiter an, er straffte die Schultern, blickte kühl auf Jim herunter. „Noch einmal, Jim: Es ist nicht deine Entscheidung. Ich bin nicht dazu verpflichtet, dir aufs Wort zu gehorchen. Es tut mir leid, dass du es erst jetzt erfährst und dass du nicht verstehen willst, dass es wichtig für mich ist-"
„Dass es wichtig für dich ist?", unterbrach Jim ihn, ballte die Fäuste, so fest, dass es wehtat. „Du bist so selbstsüchtig, Sebastian. Denk doch einmal an jemand Anderes, außer an dich!"
Sebastian lachte auf und das ließ Jims Wut nur noch mehr aufwallen. „Ich soll der Selbstsüchtige von uns Beiden sein? Sieh dich doch einmal an! Du drehst beinahe durch, weil etwas mal nicht so läuft, wie es dir passt. Weil jemand nicht auf Kommando das tut, was du verlangst. Du musst endlich lernen, dass du nichts Besseres bist und dass wir Anderen dir nicht untergeben sind. Ich habe es satt, dass du über mich bestimmen willst. Lass mich einfach in Ruhe, Jim!"
„Ach, ich soll dich in Ruhe lassen?" Jims Stimme war gefährlich leise, doch das schien Sebastian nicht zu bemerken, als er sich schnaubend von Jim abwenden wollte. Das konnte Jim jedoch nicht zulassen, denn er war noch nicht fertig mit dieser Konversation und Sebastian würde nicht wieder einfach so davonkommen. Er hatte ihn schon viel zu oft einfach davonkommen lassen. Weil Sebastian eine 'Ausnahme' war, weil er etwas Besonderes für ihn war. Vielleicht war er das auch gewesen. Aber gerade war er eine Enttäuschung, eine falsch angelegte Investition, ein Verbündeter, der Jim ein Messer in den Rücken rammte. Und Jim ließ Verräter nicht einfach so davonkommen.
Mit der Kraft seiner Wut zerrte er Sebastian herum, ballte die Faust und schlug blind zu. Er vernahm Sebastians Aufjaulen, dann lag er selbst plötzlich auf dem staubigen Boden und kleine Steinchen bohrten sich in seinen Rücken. Sebastian saß keuchend auf ihm, sein linkes Auge war rot und geschwollen - es schien sich schon jetzt ein Bluterguss zu bilden.
„Sag mal, spinnst du?", fauchte Sebastian fassungslos. Jim versuchte vergeblich, sich aus dem Griff des Größeren zu befreien, doch der presste seine Handgelenke auf die kalte Erde und saß so auf seiner Hüfte, dass Jims Beine zu ertauben schienen.
„Du kannst mich mal!", spuckte Jim zurück. „Du bist so ein elendiger Lügner! Du hast gesagt, du liebst mich!"
„Tue ich ja auch!", brüllte Sebastian zurück, wütend und irgendwie verzweifelt und so laut, als könnte er Jim nur so diese Wort einbläuen. Doch der hörte schon lang nicht mehr zu.
„Und warum gehst du dann? Du lässt mich allein! Du hast mich verraten!" Jim versuchte erneut, sich loszureißen, ließ seinen Kopf irgendwann jedoch nachgiebig auf die Erde fallen, woraufhin der Schmerz sich durch seine Kopfhaut und direkt in sein Gehirn zu fressen schien. Dieses Gefühl war besser als das, welches gerade versuchte, seine Brust zu zerreißen. „Ich hasse dich, Sebastian! Ich hasse dich!"
Er hatte sich auf die Zunge gebissen und schmeckte Blut. Plötzlich erinnerte selbst der widerliche metallene Geschmack ihn daran, wie Sebastian seine Lippen auf die seinen gelegt hatte und der Knoten in seinem Magen sich plötzlich aufgelöst hatte. Jetzt war der Knoten so groß, dass er sich Jims Kehle hinaufzwängte, sein Herz zerquetschte, seine Lungen und seine Rippen. Plötzlich wusste Jim nicht mehr, wie er atmen sollte, wie er den Schmerz verdrängen konnte, wie er sein sollte, wenn jede Fiber seines Körpers sich dagegen zu wehren schien.
Er knallte seinen Kopf noch einmal auf den Boden, nur, damit etwas von diesem Schmerz ablenken konnte.
„Beruhige dich, Jim!" Sebastian Stimme ertönte wie von weit entfernt. „Es tut mir leid, okay? Aber ich kann es nicht mehr ändern - ich will es nicht mehr ändern. Du musst das akzeptieren."
Jim schaffte es, einen Arm loszureißen. Er griff Sebastian um den Hals, schaffte es irgendwie, ihn von sich zu stoßen, und so umzuwerfen, dass plötzlich Sebastian es war, der auf der Erde lag. Jim saß auf ihm, zitterte vor Zorn am ganzen Körper, sah nur noch Rot und Sebastian und er wollte alles zerstören, was Sebastian so besonders machte. Er schlug erneut zu, nur halb so stark, wie beabsichtigt, denn irgendwie konnte er sich nicht dazu bringen, seine Wut vollends an Sebastian auszulassen.
Sebastian packte Jims Unterarme, von seiner Lippe lief Blut. „Hör auf damit!" Jim riss sich los, legte seine Hände auf Sebastians Brust und drückte ihn erneut mit aller Kraft nach unten, nachdem Sebastian sich schon halb aufgerichtet hatte.
„Ich hasse dich!"
„Hör auf!", wiederholte Sebastian eindringlicher und beinahe hätte Jim wirklich innegehalten, denn es war immer noch Sebastian und Sebastian war eine Ausnahme. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass Sebastian ihn hintergangen hatte. Wie wütend ihn das machte und dass Sebastian für diesen Schmerz verantwortlich war.
Er packte Sebastians blonden Schopf, riss ihn daran hoch und ließ ihn wieder fallen, woraufhin Sebastians Kopf heftig auf dem Boden aufschlug. Sebastian gab ein Stöhnen von sich und Jim fühlte sich plötzlich, als wäre er es gewesen, der erneut auf dem harten Boden aufgeschlagen war. Wie noch gerade eben, wie, als Carl Powers ihn verprügelt hatte.
Er hielt in der Bewegung inne, gerade, als er Sebastian erneut in die Erde drücken wollte. Sebastian nutzte Jims kurzes Zögern, rammte ihm seinen Ellbogen in die Magengrube, rollte sich mit Jim auf sich herum und fixierte dann Jim, der wieder auf dem Rücken auf der Erde lag, mit dem Unterarm am Hals. „Ich habe gesagt, hör auf!", knurrte Sebastian. Auf einmal war er jemand Anderes. Nicht mehr Sebastian, sein Freund, sondern Sebastian, der Soldat. Der entschieden hatte, sich von Jim loszusagen. Ihn allein zu lassen. Der Sebastian dazu gebracht hatte, für sich selbst einzustehen. Ihn dazu gebracht hatte, zu realisieren, wer Jim wirklich war.
Jim japste nach Luft, in der Hoffnung, Sebastian würde ihn dann loslassen, doch der hielt Jim weiterhin am Boden, starrte ihn mit feurigem Blick nieder und war nicht mehr der Sebastian, den er kennengelernt hatte; Jims Sebastian.
„Das war's, Jim." Jim schloss die Augen, um sich nicht mehr Sebastians Zorn und seiner Enttäuschung gegenüberzusehen. „Es reicht. Ich habe genug. Ich weiß nicht, was du von mir willst, ich weiß nicht, was du möchtest, dass ich tue-" Ich will, dass du bei mir bleibst und mich nicht allein lässt, dachte Jim, doch er biss sich auf die Zunge, „-aber ich kann das nicht mehr. Ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Glaub mir, das wird mir schwerer fallen als dir. Aber ich will das hier beenden. Diesen ganzen Wahnsinn, deinen Wahnsinn."
Jim öffnete die Augen wieder, als Sebastians Gewicht sich von ihm erhob, er plötzlich wieder freier atmen konnte - oder gekonnt hätte, würde sein Zorn und dieses andere Gefühl nicht seine Brust zu sprengen versuchen.
„Es tut mir leid, Jim." Jim rappelte sich auf, spuckte Blut aus und beobachtete Sebastian dabei, wie er begann, die überall verstreut liegenden Blätter aufzusammeln. Jim war versucht, sie ihm aus der Hand zu reißen und alle zu zerfetzen, doch das würde nichts bringen, außer, dass Sebastian ihn noch mehr verachten und die Blätter einfach neu ausdrucken würde.
Sebastian verachtete ihn. Er verachtete ihn. Und... Jim erstarrte, als er es realisierte. Sebastian hatte Schluss gemacht. Mit ihm. Er ließ ihn allein. Es war vorbei. Nach alledem war das jetzt das Ende. Das durfte nicht sein.
Aber anstatt Sebastian anzuflehen, wuchs Jims Wut nur erneut auf die Größe eines Tsunamis heran. Er überflutete alles, spülte alles für den Moment fort - Jims Gedanken, den Schmerz in seiner Brust und in seinem Kopf, das Wissen, dass er sich bemühen sollte, wenn er sich und Sebastian retten wollte. Vor allem, wenn er sich retten wollte.
Doch das tat er nicht. Er stieß hervor: „Schön!" Er schwankte beim Stehen und Sebastian warf nur einen kurzen Blick in seine Richtung, ehe er das letzte Blatt vom Boden aufhob. Wenigstens wirkte auch Sebastian ganz und gar nicht glücklich mit der Situation. „Dann geh doch auf deine blöde Militärschule! Ich brauche dich nicht! Geh doch! Es ist mit egal!"
Jim bebte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, sein ganzer Körper schien zu verkrampfen und Sebastian stand einfach nur da, richtete seinen Blick wieder auf Jim und musterte ihn von oben bis unten, ehe er sich kopfschüttelnd abwandte.
„Ich wollte nicht, dass es so kommt. Du bedeutest mir so viel, Jim", murmelte er. Und es fühlte sich einmal mehr an, als würden sich abertausende winzige Pfeile in Jims Brust bohren - er verblutete der schieren Masse wegen.
„Ist mir egal!", knurrte Jim, wiederholte sich; mehr Pfeile, mehr Schmerz, mehr Blut.
Sebastian ging nicht auf ihn ein. Er marschierte los, wie der Soldat, zu dem er werden sollte - zu dem er bestimmt war.
Jim blieb zurück, nicht in der Lage, seinen Zorn länger noch weiter zurückzuhalten. Er explodierte wie eine Supernova. Ließ seiner Wut, seinem Hass, seiner Angst freien Lauf. Und eigentlich sollte es alles auf dem Weg zerstören.
Doch es zerstörte nur Jim. Zerriss ihn von innen, ließ ihn sich krümmen unter dem Gewicht derer Gefühle, die er jahrelang so erfolgreich zurückgehalten hatte.
Es war ihm nicht egal.
Es war zu viel. Zu viel auf einmal. Zu viel Bürde. Einfach zu viel.
Er wusste, würde Sebastian ihn jetzt verlassen, würde seine Kraft nicht mehr reichen. Er würde alle Seile kappen müssen, die ihn hielten, um nicht von seinen Emotionen erdrückt zu werden. Und er würde tief fallen, ohne Halt und ohne Zurück.
Es war ihm egal. Es war ihm nicht egal.
Da war nur dieses einzige Empfinden, welches ihn zu zerreißen schien:
Jim fühlte sich ausgebrannt und... und leer. Und er hasste es. Das alles war so unvertraut und schmerzhaft und er wollte, dass es aufhörte, gleichzeitig fühlte er nichts und alles war ihm gleichgültig. Er fiel und fiel, ohne Halt, wurde von der Leere in seinem Inneren verschlungen, krümmte sich in Schmerzen, spürte nicht das Geringste, rief nach einem Seil, nach Rettung, ohne, dass ein Wort seine Lippen verließ oder er wirklich gerettet werden wollte.
Dann war da die Dunkelheit, die zögerlich am Rande seines Verstandes leckte. Jim war nur zu bereit, sich ihr zu ergeben. Alles, was ihn hielt, war fort. Also fiel er noch weiter. Er fiel tief und noch tiefer und vielleicht würde er niemals aufschlagen oder vielleicht erst sehr viel später und dann würde es ihn vermutlich zerstören. Doch so lang genoss er das Gefühl, als würde er fliegen - denn Sebastian hatte recht gehabt: Fallen war wie Fliegen. Nur wusste Jim genau, wo er zersplittern würde - ganz unten.
Aber das war okay. Alles war okay. Weil es ihm nichts mehr ausmachte. Weil er frei war.
Er war am Leben und frei und er fiel so tief und er war allein, doch wenigstens hatte er die Dunkelheit. Sie würde ihn begleiten.
Vielleicht würde sie ihm nicht zeigen, wie genau er am Leben blieb, doch sie würde ihn am Leben halten - solange bis er auf dem Grund zerschellen würde.
Und dann würde sie ihn verschlingen.
»«
Liebe Leser...
Das war das letzte Kapitel. Jetzt folgt nur noch der Epilog und dann... war es das.
Ihr solltet vielleicht wissen, dass ich das hier schon am 30. Oktober geschrieben habe und ich male mir gerade aus, wie eure Reaktionen sind und ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst.
Habt ihr das erwartet? Was haltet ihr von dem Ende?
Meinungen und konstruktive Kritik sind immer gern gesehen :)
Naja, gleich kommt (hoffentlich) der Epilog und dann schreibe ich irgendwann noch ein Nachwort.
Eure
Tatze.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro