6. Charaktere brauchen eine Psyche
Meine "HOW TO ... Schreiben und so" Serie (ebenso wie meine Romane) gibt es auch als Hörbuch auf meinem YT Autorenkanal. Den Link findet Ihr ganz unten unter meinem Profiltext.
Dieser Teil der "HOW TO" Serie ist oben auch direkt als Hörfassung anklickbar.
Im letzten Teil ging es um die Frage, ob eine Vorplanung unserer Geschichte und deren einzelner Handlungsstationen uns eventuell später zum Handicap werden könnte - denn was sollen wir tun, wenn wir plötzlich die alte Idee gar nicht mehr so gut finden oder uns während des Schreibens weitere Ideen kommen, die dann aber nicht in das vorgeplante Raster passen?
Vier Punkte hatte ich heraus gestellt - vier Glaubenssätze, denen wir manchmal anhängen, wenn wir lieber ungeplant und spontan schreiben. Meine Gedanken dazu sollen im Detail zeigen, was ich dazu aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sagen kann. Und um Missverständnissen vorzubeugen, da ich die Dinge oft sehr klar und manchmal auch hart anspreche: Dies soll nicht darstellen, wie man also vorgehen sollte, wenn man eine umfangreichere Geschichte schreiben will. Es ist nur der Versuch, eine weitere, vielleicht auch neue Perspektive auf alte Argumente anzubieten.
Es gibt einige bekannte und erfolgreiche Schriftsteller, die schreiben tatsächlich meistens ohne nennenswerten Plan, jedenfalls haben sie keinen, den sie aufwändig und vollständig schriftlich ausarbeiten mit allen Punkten und Ebenen, die eine Geschichte beinhalten könnte. Aber, und das sollten wir dabei bedenken: Diese erfolgreichen Autoren haben immens viel Erfahrung in der Entwicklung von Geschichten und deren handwerklicher Umsetzung. Das sind Profis - und was da so leicht von der Hand zu gehen scheint, während man in Interviews erwähnt, man würde meistens ohne detaillierte Planung schreiben, zeigt sich bei näherem Hinsehen als ein großes Talent und sehr viel Routine und Übung.
Die Übung und das Talent bestehen darin, die Dinge im Kopf zu entwickeln und sie gar nicht erst auf dem Papier sammeln und zueinander bringen zu müssen. Da wird nicht wirklich völlig spontan und planlos, ohne konkreter umrissene Ideen drauflos geschrieben. Was andere Autoren auf dem Zettel machen, geschieht bei diesen Schreibern nur im Kopf und sozusagen "im Flug". Sie arbeiten oft mit imaginären Rastern, Mustern, aber auch mit inhaltlichen Elementen für Szenen und Charaktere, mit denen sie bereits viel Erfahrung haben und die sie in unterschiedlichen Variationen bedienen und immer wieder umgestalten können. Da rappelt sich der Geist sehr schnell eine komplexere Geschichte und ein paar Charaktere zusammen und schreibend fällt das meiste dann sehr sicher an seinen Platz.
Als Anfänger - oder wenn wir erst seit ein paar Jahren schreiben - haben wir diese Modelle und Raster nicht im Kopf. Wir haben noch kein variables Konzept als Werkzeug und auch zu wenig Übung und Erfahrung darin, komplexe und vielschichtige Storylines und Charaktere einfach so aus dem Ärmel zu schütteln und alles virtuos im Kopf miteinander zu jonglieren, unter Berücksichtigung sämtlicher Ebenen.
Darum zählt das Argument für uns nicht - dass doch mancher erfolgreiche Schriftsteller sehr wohl locker aus der Hüfte und ohne nennenswerte Planung wunderbare Geschichten schreibt. Da wird mit einer Routine und Erfahrung gearbeitet, dazu mit einem leistungsfähigen Autorengehirn, das wir bei weitem nicht entwickelt haben, bevor wir nicht zumindest seit 10 oder mehr Jahren täglich einige Stunden schreiben. Bis dahin richten wir uns besser ein Heft für unsere Geschichte ein - darin notieren wir die einzelnen Stationen unseres Plotts und alles, was wir für unsere Charaktere festlegen wollen.
Vier Punkte hatte ich erwähnt, der zweite wurde im vergangenen Teil besprochen. Jetzt geht es um den dritten, der behauptet: Unsere Charaktere entwickeln und gestalten ihre Persönlichkeit von selbst, während sie durch die Handlung laufen. Ihr Wesen entblättert und zeigt sich weitgehend von selbst und wir müssen nur den Charakter durch die Szene bewegen. Er wird deutlich machen, wer und was er sein will und wie er sich zu seiner Geschichte verhält. Dazu gehört auch sein genereller Charakter, seine Persönlichkeit, seine Eigenheiten. Alles zeigt sich nach und nach; wir müssen den Charakter nur an den Start setzen, ihm ein grobes Äußeres und vielleicht einen oder zwei Basis-Charakterzüge geben - dann bekommt er einen Klaps auf den Po und läuft los.
Ihr seht schon, ich werde hier ein bisschen ironisch - das liegt daran, dass ich diesen Glauben absolut nicht teile. Zu Charakterbau gibt es so vieles zu sagen, ich werde darauf noch öfters zurück kommen, darum hier nun erst einmal ein paar Basis-Argumente, warum das nicht funktioniert:
Die Leser spüren - bewusst oder unbewusst - wenn der Charakter unvollständig, innerlich leer, unvernetzt oder nur zweidimensional ist. Um ein lebendiger Charakter zu sein, mit dem man mitfühlen und sich identifizieren kann, muss eine Figur Höhe, Weite und Tiefe besitzen, so wie es bei allen menschlichen Wesen der Fall ist.
Die Höhe zeigt hier die vielen Schichtungen an und wie sie aufeinander aufbauen, denn in uns liegen nicht nur Eigenschaften, Träume und Ängste, Beweggründe, Handicaps und Leidenschaften isoliert voneinander herum, sondern alles kommuniziert auch miteinander, hängt vom anderen ab, ist miteinander verknüpft, beruht aufeinander und triggert sich gegenseitig. Was dabei am Ende entsteht, ist eine persönliche innere Story, ein vielschichtiges Geflecht, das nach spezifischen Mustern funktioniert. Es prägt die äußere Geschichte - die nicht willkürlich oder zufällig sein kann und deswegen auch nicht vollständig frei und super spontan erdacht werden kann, sondern sie entwickelt sich entlang der miteinander verhakten Merkmale und Wesenspunkte des Charakters.
Es genügt also nicht, wenn wir irgendetwas, das uns spontan in den Kopf kommt, über die Hauptfigur schreiben, denn mit dem, womit wir sie füllen, gibt sie einen ungefähren Weg und ungefähres Handeln vor. Die äußere Handlung bzw. wie sich die Figur innerhalb dieser verhält und entscheidet, hängt immer sehr stark von ihrem Innenleben ab. Oder umgekehrt: Wenn wir zuerst die Handlung, die äußere Story haben, kann diese kein x-beliebiger Charakter erleben. Der Charakter muss dann Eigenschaften, Wesenszüge und Hintergründe mitbringen, die auch zur äußeren Story passen und somit glaubwürdig sind.
Wir können das gut an uns selbst und anderen Menschen feststellen: Nicht jedem von uns würde dieselbe Geschichte mit ihren Details passieren. Weil es von unseren inneren Mustern, unseren emotional geprägten Entscheidungen, unseren Haltungen und Überzeugungen abhängt, ob wir in diese oder jene Situation überhaupt hinein geraten, ob wir uns davon sogar angezogen fühlen oder sie meiden.
Die Reaktionsmuster unserer Figur z.B. orientieren sich stark an ihrer Herkunft und ihrem Aufwachsen, ihren vergangenen Erlebnissen, Erfahrungen und individuellen Ausprägungen. Wir fühlen auf Basis unserer Erlebnisse und Erfahrungen, die uns geprägt haben, zumeist in der Kindheit. Wir leben und handeln nicht frei und spontan, sondern in Aktions- und Reaktionsmustern, die man uns beigebracht hat oder die wir aufgrund dieser oder jener Erfahrung erlernt und verinnerlicht haben. Unsere emotionale Ebene ist durch vergangene emotionale Erfahrungen geprägt - und wie wir fühlen, danach handeln und reagieren wir. Wir haben also ein mitgebrachtes, komplexes Netz in unserer Psyche, das so lange die Basis unserer Reaktionsmuster darstellt, bis wir Anteile dieses Netzes entfernen oder stilllegen, was durch tiefere Lernerfahrungen und Reflexion geschehen kann.
Im Verlauf unseres Lebens wachsen wir vielleicht aus alten Haltungen, die Ergebnis vergangener Erfahrungen sind, heraus und reflektieren, dass uns die alte Einstellung keine Vorteile bringt, dass sie uns vielleicht sogar hindert, manchen Schritt im Leben zu machen. Das sind Entwicklungsthemen, die jedem von uns auf die eine oder andere Weise begegnen - aber bis wir alte Muster, die sich für uns nicht bewähren, verlassen, vergehen oft Jahre und manchmal Jahrzehnte, die wir brauchen, um zu Erkenntnissen zu gelangen und entsprechende Veränderungen zu bewirken. Bis dahin leben wir mit den alten Mustern - manche sind uns bewusst, andere nicht - aber sie wirken sich auf unser Fühlen und Handeln aus.
Je nach prägender Vorerfahrung können unsere emotionalen und Handlungsmuster uns weiterbringen und erfolgreich sein lassen, oder es sind Muster, die uns zum Handicap werden. Wenn wir also einen Charakter als sehr selbstbewusst oder sehr unsicher darstellen, dann muss der innere Zustand der Stabilität oder der Unsicherheit von irgend woher kommen, er muss eine Ursache, eine Historie haben, dazu müssen solche Wesenszüge auch triggerbar sein, denn das sind sie auch beim realen Menschen.
Wenn wir in ähnlich beängstigende Situationen geraten, wie wir sie vielleicht als Kind, als Teenager kannten oder vor ein paar Jahren als einprägsame Erfahrung durchlebt haben, dann springt unsere Angst an. Wenn ich mich selbstbewusst und stabil zeige und meine Charakterzüge überwiegend gesund und positiv sind, dann vielleicht, weil ich bei Menschen aufgewachsen bin, die mich ermuntert und bestärkt, unterstützt und bejaht haben, anstatt zu drohen und zu strafen, mich einzuschüchtern und mir Chancenlosigkeit und Unvermögen zuzuschreiben.
Die Vergangenheit des Charakters, seine emotionale und psychische Vernetzung, seine Verhaltens- und Reaktionsmuster und seine entsprechende Außengeschichte sind miteinander verknüpft. Das Innenleben, vergangen und aktuell, denn er macht ja ständig innnere Entwicklungen durch, bestimmt also weitgehend, worauf der Charakter sich einlassen und was er erleben wird - und auch, wie er mit dem umgeht, was ihm begegnet. Dabei wird er Momente der Erkenntnis und des Lernens erleben und also eine persönliche Entwicklung durchmachen, die wir auch zum Inhalt unserer Story machen können. Aber eines kann ein Buchcharakter zum Beginn seiner Story nicht sein: Leer, unvollständig und ohne ein stimmiges inneres Geflecht aus verschieden verarbeiteter Erfahrung, psychischen und emotionalen Mustern und entsprechenden Bedürfnissen und Wünschen, Unsicherheiten und Stärken.
Die werden nicht im Marionettenkatalog ausgesucht oder aus Inhalten der Utensilienkiste eines Meister Gepetto zusammengesucht. Da muss die Blaue Fee kommen und ordentlich zaubern, wir brauchen "Magick", um einen lebensechten Charakter zu kreieren - und beim Schreiben besteht die Magie aus einer realistischen und breit gefächerten Psyche, aus glaubhaften Hinter- und Untergründen sowie einer Handlung, die irgendwie mit dem zu tun hat, was unser Charakter in sich birgt, bewusst oder unbewusst, denn ihm soll die Geschichte ja geschehen. Seine persönlichen Muster müssen dabei berücksichtigt werden, sonst verknüpft er sich nicht mit der Story, sie wird nicht seine werden, sondern beliebig bleiben.
Wenn wir uns unseren Buchcharakter wie einen lebenden Menschen vorstellen, wird schnell klar, warum er all dieses Zeug nicht erst nach und nach entwickeln kann, sondern es ab der ersten Seite, dem ersten Kapitel parat haben muss. Sein komplexes, realistisch gestaltetes Wesen muss ihm vom ersten Auftritt an aus jedem Knopfloch springen. Denn nur, wenn ein Mensch gerade erst geboren ist - was unsere Romanhelden in ihrer ersten Szene in der Regel nicht sind - ist die Leinwand der persönlichen Erfahrungen noch relativ leer und unbeschrieben, es gibt noch keine Macken und Eigenheiten, jedenfalls nicht der Art, wie sie sich anhand von Erlebnissen und Reflexion heraus bilden, und es gibt noch keine dieser sehr handlungsprägenden, weil hemmenden oder antreibenden Aspekte in der Psyche, wie z.B. verschiedene Ängste und Sehnsüchte, Vorlieben, Abneigungen oder Leidenschaften. Genau diese sind es aber, die uns im Leben hierhin oder dorhin treiben, die uns verführen oder flüchten lassen, uns ängstigen oder faszinieren.
Ihr seht schon: Ein weitgehend unbeschriebenes Blatt am Start, wie ein Neugeborenes, das noch weder allein laufen und handeln noch bewusste und reflektierte Entscheidungen für sich selbst treffen kann, ist keine gute Idee für einen Hauptcharakter. Bevor unsere Charaktere ihre Bühne betreten, sollten sie im Innern gut ausgebaut und entwickelt sein und genug Komplexität mitbringen, um glaubhaft zu agieren und ihre emotionalen Verkettungen stimmig, lebendig und überzeugend an die Leser zu bringen.
Wir haben nur diesen Moment, diesen Anfang, diese erste Buchseite, dieses erste Kapitel - es muss die Leser überzeugen, dass der Charakter interessant und beeindruckend genug sein wird, um seinen Weg, seine Story über Hunderte von Seiten begleiten zu wollen. Die meisten Leser entscheiden, ob ein Buch "Topp" oder "Flopp" ist, anhand der ersten ein- bis eineinhalb Seiten. Und wenn wir professionell schreiben und unsere Geschichte an einen Verlag bringen wollen, muss unser Charakter nicht nur in seiner Vollständigkeit und lebensechten Ausstrahlung überzeugen, sondern er muss unter vielen, die ebenfalls Eindruck machen, einer der Beeindruckenderen sein.
Meine persönliche Regel ist: Meine Charaktere werden vor dem ersten Satz, der ersten Szene, dem ersten geschriebenen Wort sorgfältig und mit sämtlichen für die Geschichte wichtigen Ebenen und Charakterzügen durchdacht und ausgearbeitet. Ich gehe sogar noch weiter: Ich spiele den Charakter in allen erdenklichen Szenen und Momenten durch, während ich ihn Schicht um Schicht entwerfe. Das kann ein Prozess von Wochen sein, während ich alle möglichen Alltagssituationen nutze, um in meinen Charakter zu schlüpfen und nachzuspüren, auszuprobieren, wie er von einem Buch aufsieht oder einen Becher zum Mund hebt, wie er sitzt oder liegt, läuft oder spricht. Ich überlege, was ihn wütend macht oder zum Lachen bringt. Wo ist seine Grenze - und wenn diese überschritten wird, wie reagiert er?
Ich experimentiere mit seiner Mimik, während er spricht oder zuhört, und fühle dabei in mich hinein, um mir einzuprägen, wie es ist, er oder sie zu sein. Dazu kann ich noch mehr erzählen, denn es ist ein sehr komplexer Vorgang, mit Mitteln und Methoden, wie ich sie im Schauspielunterricht gelernt habe.
Ganz besonders intensiv habe ich das bei meinem Mehrbänder umgesetzt, den Ihr hier aktuell noch unter dem Werktitel "WELTENTANZ" finden könnt. Insbesondere die beiden Hauptcharaktere, Magnus und Valerio, habe ich über insgesamt 4 Monate und mit Hilfe von Improvisationstechniken entwickelt. Ich habe sie präpariert wie fertig spielbare Filmcharaktere - die ich am Ende so gut kannte und körperlich und emotional so sicher umsetzen konnte, dass ich mich beim Schreiben neuer Szenen mit ihnen nicht einen Moment lang fragen musste, wie sie da jetzt wohl reagieren, was sie sagen oder wie sie handeln könnten. Ich sehe ihre Mimik und Körpersprache vor mir, während ich schreibe, und es ist jederzeit abrufbar, egal, wie lange ich zwischendurch nicht am Roman arbeite.
So ist es auch mit Theaterrollen, in die man sich vor Jahren, sogar Jahrzehnten hinein gearbeitet hatte und die man seitdem nicht erneut gebraucht hat. Rollen, die intensiv und über solche Methoden präpariert wurden, brennen sich sozusagen ein, sie sind und bleiben jederzeit abrufbar, so dass man sich, wenn man sie nach fünf oder zehn Jahren wieder bräuchte, innerhalb kurzer Zeit hinein arbeiten könnte. Lange Textpassagen und auch Regieanweisungen und Interaktionen mit anderen Schauspielern bleiben im Langzeitgedächtnis, wenn über solche Methoden gearbeitet wurde - aber vor allem auch die inneren Befindlichkeiten und Haltungen, die der Charakter gezeigt hat und die seine Handlungen und Texte begleiteten. Ich bin jetzt 57 Jahre alt, und ich habe noch Textpassagen und Chraktertzüge parat aus Rollen, die ich mit 20 und 22 Jahren gespielt habe.
Beim Theater braucht man diese Form der verlässlichen Speicherung von Texten samt der zum Charakter gehörenden emotionalen Ebenen im Langzeitgedächtnis aus gutem Grund: Man erarbeitet nicht in den Proben eine Rolle innerhalb eines Stückes und führt dieses dann über einige Wochen auf, bis man an einem neuen Stück probt, sondern beides geschieht im Theaterbetrieb parallel zueinander. Morgens und oft bis in den Nachmittag hinein laufen die Proben für ein neues Stück, und am Abend steht man auf der Bühne im bereits laufenden Stück.
Oft hat man also zwei komplette Handlungen und Geschichten, dazu die eigene Rolle darin plus die Regie und zum guten Teil auch Regie und Texte der Mitspieler im Kopf. Und man muss beides innerhalb eines Tages bedienen können und dann ganz im jeweiligen Charakter sein. Darum wenden Schauspieler Methoden an, die ihnen helfen, den Charakter jederzeit und spontan parat zu haben, abrufbar auch noch Monate später. Nach der Spielzeit bleibt die Essenz des Charakters, seine Persönlichkeit, sein individueller Ausdruck, zusammen mit einigem Text, im Langzeitgedächtnis. Dort schiebt man ihn nach hinten, um seine Aufmerksamkeit neuen Charakteren zuzuwenden, aber er bleibt über lange Zeit in seinen wesentlichen Aspekten abrufbar.
Auch beim Lektorat für die Veröffentlichung des ersten Bandes meiner Romanreihe hilft mir die sogenannte "Prägung" auf die Hauptcharaktere, die bereits vor mehr als 7 Jahren geschehen und bis heute abrufbar ist: Ich kann zügig, sicher und wirkungsvoll gewisse Momente in der Szene noch verfeinern, charakterliche Merkmale und Wesenszüge stärker herausarbeiten und auf den Punkt bringen und mit Eigenheiten und feineren Nuancen der Persönlichkeit meiner Charaktere spielen. Und ich verliere meine Charaktere nicht, denn ich kenne sie innen und außen, auswendig und im Schlaf. So halte ich mich nicht mit zeitraubenden Blockaden oder Einarbeitungsphasen auf, wenn ich zwischen drei Romanen häufiger hin und her wechsle und zwei von ihnen schreibend vorwärts bringe, während ich den dritten lektoriere.
Wir können nur schreibend umsetzen, was wir tatsächlich und lebendig vor unserem inneren Auge sehen - was wir nicht sehen und spüren, weil wir uns darüber noch keine Gedanken gemacht haben und uns darauf verlassen, dass sich das später noch irgendwie von selbst und während des Schreibens ergeben wird, das fließt in diesem Moment auch nicht in unsere Darstellung des Buchcharakters ein. Ich sehe Mimik und Körpersprache von der ersten Szene an, weil ich die lebendigen Gesichter ausgearbeitet und verinnerlicht habe, lange bevor überhaupt eine detailiertere Handlung vorhanden war. Weil ich den Charakter in den lebendigen und realen Momenten meines persönlichen Alltags ausprobiert, geübt und trainiert habe, bevor er eine komplexere Story und entsprechend konkretere Szenen erhält.
So weit muss man selbstverständlich nicht gehen. Das sind Techniken, die man im Schauspiel lernt, und nicht umsonst trainiert man das über drei bis vier Jahre. Was ich daran aber zeigen möchte, ist, wie sehr es sich lohnt und wie viel intensiver unsere Charaktere ab ihrem ersten Auftritt wirken, wenn wir sie ernst nehmen, als seien sie lebendige, authentische und komplexe Menschen wie wir selbst - und keine zweidimensionalen Pappfiguren, die wir am Stab durch eine improvisierte Kulisse schieben, bis uns mehr und bessere Ideen kommen.
Es ist im Grunde sehr einfach:
Ein improvisierter Charakter ist nicht bereit für seine erste Szene.
Charaktere sind am Anfang ihrer Story bereits im Besitz einer persönlichen Erfahrungs-Historie und darauf beruhender emotionaler Ebenen inklusive Macken, Eigenheiten, Interessen und Triggerpunkte. Und diese Eigenschaften schwirren nicht isoliert voneinander im Charakter herum, sie sind miteinander lebendig und interaktiv verwoben. Es funktioniert also nicht, wenn wir dem Charakter nur ein paar grobe, spontan festgelegte Eigenschaften verpassen und diese aber keine Verknüpfung mit irgendeinem Unter- und Hintergrund, mit den emotionalen Ebenen erfahren. So funktionieren Charaktereigenschaften auch bei uns selbst nicht. Sie sind keine Kleidungsstücke, die wir uns überwerfen, sondern seit unserer Geburt gewachsene und verwachsene Attribute und Eigenschaften, die wir tief in uns tragen, sinnhaft und verbunden mit emotionalen Aspekten und unserer Prägung, unseren Lebenserfahrungen.
Und was die Leser betrifft: Sie entscheiden innerhalb weniger Leseminuten, oft auch nur Sekunden, ob ein Charakter ihre Neugierde und ihr Interesse sowie ihre Identifikationslust und ihre Emotionen triggern kann. Selbstverständlich kann ein Charakter dies auch noch auf Seite zehn oder fünfundzwanzig schaffen, bei vielen Charakteren macht es nicht so früh "klick", aber sie haben vielleicht ein Potenzial, das sich viel später entfaltet. Nur: Die meisten Leser lesen nicht so lange, um dem Charakter diese Chance zu geben. Die Wahrheit ist: Sehr viele Leser entscheiden bereits am Klappentext allein, ob sie überhaupt ins Buch hinein sehen wollen. Und wenn sie es tun, hat unser Charakter vielleicht fünf, vielleicht zehn Sätze oder eine Buchseite. Er muss also auf der ersten Seite oben mit der Überzeugungsarbeit anfangen und aus seiner vollen inneren Struktur heraus strahlen, damit der Leser vielleicht mehr davon haben will.
Es kann tatsächlich hilfreich sein, wenn Ihr Euch Eure erste Szene wie auf einer Theaterbühne vorstellt: Niemals werden wir im Theater erleben, dass da jemand erscheint, an den Bühnenrand tritt und zum Publikum sagt:
"Hey. Euch meinen Namen zu sagen, macht keinen Sinn, denn wahrscheinlich werde ich ihn noch vor dem dritten Akt zweimal geändert haben. Wer ich bin, woher ich komme und was mich geprägt hat, weiß ich noch nicht; das habe ich ausgelassen, weil ich denke, das dürfte eventuell für meine Geschichte nicht so wichtig sein. Zumindest nicht für den Anfang, da brauche ich sowas ja noch nicht, das hat Zeit.
Meine Story ... ja, was soll ich sagen: Es gibt einen Anfang, viel mehr noch nicht, aber der genügt ja, um heute Abend hier zu spielen. Es ist ja nur die Premiere des ersten Teils, da ist ja noch Zeit, im Lauf der nächsten Wochen mehr zu entwickeln. Die Geschichte wird schon irgendwie weitergehen, ich bin da ganz zuversichtlich ... Meistens spiele ich einfach drauflos und sehe, was mir da spontan einfällt. Mal dies, mal das - ich hoffe, ihr langweilt euch nicht mit mir. Ich stehe nur nicht so auf ... Proben und habe auch das Script noch nicht ganz gelesen, das ist mir immer irgendwie zu festgelegt, versteht ihr. Ich mag das nicht, ich möchte flexibel bleiben. Und ja, im Grunde ist es eher so, dass ich den Aufwand scheue, ich mag diese ganze trockene Vorbereitung nicht, ich stehe lieber auf der Bühne und mache ... irgendwas.
Ja, ich weiß, ich sollte mich mehr mit dem Story, der Handlung und auch mit meiner Rolle beschäftigen. Aber falls ihr denkt, ich lege mich da fest, seid ihr vielleicht im falschen Stück. Denn es kann gut sein dass ich mit der Geschichte nicht zufrieden bin, dass ich sie fünf mal ändere und auch, dass ich mich so verfange, dass ich sie euch nicht bis zum Ende zeige und hier alles hinschmeiße.
Warum ich dann überhaupt hier bin und was dieser Auftritt soll? Nun ... ich hatte vorhin große Lust zu spielen, da hab ich mich in ein Kostüm geworfen, das mir gefiel, und hier bin ich! Aber nun lasst mich anfangen, bevor ich keine Lust mehr habe oder etwas anderes spielen will."
So etwas kann nur dann unterhaltsam sein und funktionieren, wenn Euer Publikum glaubt, es gehört zum - gut vorbereiteten, originell durchdachten und ordentlich geprobten - Stück. Wenn es aber Euer Ernst ist und die Realität dessen, wie Ihr Euren Charakter tatsächlich Eurem Publikum anbietet, dann ist es etwas, wovon ich ernsthaft abraten würde. Natürlich ist mein Beispiel überzogen, aber es verdeutlicht, wie negativ und verunsichernd ein unentschlossener, schlecht oder kaum ausgestalteter und wenig festgelegter Charakter auf sein Publikum wirken kann.
Macht Euch die Arbeit und kreiert Charaktere, die so gut angelegt und vollständig sind, wie es Euch nur gelingen kann. Zeigt, was Ihr könnt, zeigt, dass Ihr selbst ernst nehmt, was Ihr da tut ... und begeistert und berührt Eure Leser! Macht sie neugierig, nehmt sie gefangen vom ersten Moment an und gewinnt Leser, die Eure Geschichte und Eure Charaktere so schnell nicht wieder vergessen. Denn nur, was uns berührt hat, werden wir lange erinnern - und nur dann werden wir auch mehr davon haben wollen.
Im nächsten Teil nehmen wir uns den letzten der vier Punkte vor. Da stellt sich die Frage: Weiß der Charakter, wo es für ihn lang geht - und muss wir ihm nur neugierig folgen, damit er uns seine Geschichte von selbst erzählt? Während es hier nun vor allem um die Innenausstattung unseres Charakters ging, um sein Wesen, seine Persönlichkeit, werde ich Euch im nächsten Teil zeigen, warum es so wichtig und auch wirkungsvoll ist, dass wir die selbe Aufmerksamkeit auch der Planung der äußeren Geschichte widmen. Mit einer geschickten Planung können wir kreieren, was uns bei ungeplantem und spontanem Schreiben niemals möglich wäre.
Vergesst den Stern nicht, wenn dieses Kapitel hilfreich war - denn nur, wenn Ihr dem Algorithmus signalisiert, was Euch auf Wattpad interessiert und was Ihr gebrauchen könnt, wird er Euch auch Bücher wie dieses auf Wattpad empfehlen. Was Ihr nicht mit Sternen belohnt und somit als "lesenswert" markiert, wird auf Wattpad unsichtbar für die Leser und braucht dann auch nicht weiter geschrieben zu werden. Wir schreiben für Euch - zeigt uns, dass Ihr haben wollt, was wir anbieten, denn sonst denken wir, dass für unsere Idee kein Bedarf besteht. Sterne für die Kapitel, ein Kommentar oder auch dieses Buch auf Eurer Leseliste - damit zeigt Ihr Eurer Interesse an weiteren Teilen.
Solltet Ihr Anregungen zu weiteren Themen rund um kreatives Schreiben haben - vielleicht gibt es ja Themen, die Euch als Schreibende beschäftigen, die Ihr schwierig findet und zu denen Ihr meinen Senf hören wollt - dann immer her damit! Ich lese Eure Kommentare und werde Eure Anregungen und Fragen nach und nach in den fortlaufenden Kapiteln thematisieren.
Ende Teil 6
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