»Darling, I just can't find my honest face, it's all over the place«
„Wenn du nicht vorhast, in dem Bett zu schlafen, hätte ich es dir nicht überlassen müssen“, begrüßte Moriarty ihn, als Sebastian um kurz nach sieben Uhr aus dem Zimmer trat, weil er es als angemessene Zeit sah, das Ende seines vorgetäuschten Schlafes einzuläuten.
Er verharrte in dem kurzen. Flur auf der Stelle und starrte stumpfsinnig geradeaus – ihm war etwas schwindlig – bis sein Blick sich auf Moriarty fokussierte, der in einer Decke gewickelt auf der Couch lag und schon wieder seinen Laptop auf seinem Schoß balancierte. Er sah gleichermaßen aus, als wäre er soeben erst aufgewacht und als hätte er ebenso gar nicht erst geschlafen wie Sebastian.
Sebastian blinzelte und musste sich räuspern, ehe er seine Stimme wiederfand, als wäre sie ihm in der Dunkelheit seines Zimmers verloren gegangen. „Ich habe dich nicht darum gebeten, es mir zu überlassen.“
„Undankbar“, erwiderte Moriarty daraufhin mit sarkastischem Unterton, der verriet, dass es ihn nicht wirklich interessierte. „Vielleicht sollte ich dich wieder im Auto schlafen lassen, damit du brauchbar bist.“
Sebastian hielt es für am besten, darauf nichts zu erwidern. Er schlürfte in die winzige Küche am Ende des Flures und füllte sich ein Glas mit Leitungswasser. Dabei knurrte sein Magen laut – die letzten Tage hatte er feste Mahlzeiten eher weniger eingehalten, sondern sich sporadisch von Kleinigkeiten ernährt. Theoretisch könnte er wohl zusammen mit Hilda und Willard essen oder sich selbst etwas kochen, aber er wollte sich nicht einfach dazusetzen und ihre beiden Gastgeber noch weiter ausnutzen und hatte noch nie sonderlich gut kochen können.
Moriarty hatte sich kein Stück gerührt, als Sebastian schließlich mit seinem Wasserglas zurück in das Wohnzimmer kehrte. „Irgendwelche interessanten Berichte?“, fragte Sebastian ihn und eigentlich wollte er ironisch darauf anspielen, dass Moriarty quasi nur vor seinem Bildschirm hing, aber da drehte Moriarty seinen Laptop so, dass Sebastian die Eilmeldung sah, die darauf zu lesen war:
New IRA* bekennt sich zu Anschlag auf Ceann Comhairle Augustus Moran
Sebastian verschluckte sich beinahe an seinem Wasser. Er warf Moriarty einen Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte, und stellte sein Glas auf dem niedrigen Tisch vor der Couch ab. „Habe ich etwas verpasst? Waren sie es, die dich angeheuert haben?“
„Angeheuert“, wiederholte Moriarty mit einem Naserümpfen. „Ich bin doch kein Pirat. Man heuert mich nicht an, man macht Geschäfte mit mir.“
Es war wirklich, wirklich schwer für Sebastian, nicht allzu genervt zu sein. „Dann hast du eben Geschäfte mit ihnen gemacht?“
„Nein. Ich schätze, sie wollten einfach die Publicity.“ Moriarty scrollte etwas in dem Artikel und Sebastian versuchte, so schnell wie möglich, mitzulesen. Die Terrormiliz New IRA, die sich vor Jahren aus den Überbleibseln der IRA, die im Bürgerkrieg in Irland aktiv gewesen war, geformt hatte, hatte am Morgen, zwei Tage nach dem Anschlag, ein Schreiben an eine der Zeitungen in Dublin geschickt, in denen sie sich für den Tod Augustus Morans bekannten. Als Grund gäben sie dessen fehlende Integrität und seine angebliche Arbeit gegen ein geeinigtes Irland an.
„Klasse“, murmelte Sebastian. „Jetzt mache ich schon die schmutzige Arbeit für Terrormilizen.“
„So schnell kann es gehen“, sagte Moriarty daraufhin nur fröhlich und drehte seinen Laptop zurück zu sich. „Es gibt Zweifel an der Schuld der NIRA, da Autobomben mehr ihrem Stil entsprechen, aber die Bevölkerung wird glücklich sein, eine solche Gruppierung verantwortlich machen zu können.“
„Stört dich das nicht? Wenn andere die Lorbeeren für deine Taten ernten?“ Sebastian ließ sich auf dem Sessel schräg gegenüber von Moriarty nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich hatte er Moriarty heute aus dem Weg gehen wollen nach ihrem … Streit gestern Abend. Aber er war zu müde, als dass es ihn wirklich kümmern würde, wie nachtragend er hatte sein wollen, und er glaubte sowieso nicht, dass Moriarty es verstehen würde. In seinen Augen hatte er sicher nichts falsch gemacht. Himmel, Sebastian konnte sich selbst nicht erklären, wieso Moriartys Worte ihn so wütend gemacht hatten. Es war nur ... Vielleicht hatte Moriarty Recht. Er hatte nicht hören wollen, was Moriarty über ihn zu wissen glaubte. Er wollte nicht wissen, was das über ihn aussagen würde.
Er hatte die ganze Nacht Zeit gehabt, sich Moriartys Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden war es ihm schwergefallen, weitere Argumente zu finden, wieso Moriarty falsch lag. Irgendwann hatte er nur noch versucht, die Wahrheit in seinen Worten zu verkennen und nicht daran zu denken, wie sehr er sein Leben selbst manipulierte – und das nicht erst seit er für Moriarty arbeitete.
„Wieso sollte es mich stören?“ Moriarty schob die Decke etwas von sich und Sebastians Gedanken kamen kurzzeitig ins Stocken, als er bemerkte, dass sein Boss tatsächlich mit Hemd geschlafen (oder auch nicht geschlafen) hatte. Gleichzeitig ging ihm auf, dass er selbst nur Boxershorts trug, nachdem ihm in der Nacht zu heiß geworden war und er sein T-Shirt ausgezogen hatte und es am Morgen in seinem Nebel aus Müdigkeit im Bett vergessen hatte. Er versuchte, deshalb nicht zu sehr in Panik zu verfallen (immerhin war Moriarty nicht der erste Mann, der ihn ohne Shirt sah) und lenkte sich damit ab, dass er an dem großen Pflaster an seiner Schulter herumzupfte, unter dem sich die genähte Schusswunde verbarg, die ihn glücklicherweise kaum noch einschränkte. „Wenn überhaupt, ist es für unsere Sache vom Vorteil. Es bedeutet Ablenkung von uns. Stört es denn dich?“
Sebastian fühlte sich etwas überrumpelt von der Frage. Störte es ihn? Wenn eine fremde Organisation behauptete, den Mord an seinem Vater begangen zu haben, wenn er es gewesen war? Störte es ihn, dass die Welt nicht wusste, dass Augustus‘ ungeliebter Sohn für seinen Tod verantwortlich war?
Vielleicht sollte es ihn stören. Vielleicht sollte er all die Anerkennung des Mordes für sich verlangen, vielleicht sollte er wollen, dass die Welt von ihm wusste und ihn nicht im Schatten seines Vaters vergaß.
Aber so kaputt war er noch nicht. Oder vielleicht war er gerade so kaputt: Es war ihm egal. Wenn es nach ihm ging, könnte jeder aus seinem Vater und den Umständen seines Todes machen, was er wollte. Wenn es nach ihm ging, konnte die Welt die völlig falschen Gründe in diesen Anschlag hineininterpretieren. Sein Vater war tot und er würde es bleiben. Und hatte das vorher nichts in ihm ausgelöst, bemerkte er jetzt, dass da doch etwas in ihm war: etwas wie Erleichterung vielleicht, wenn auch flüchtiger. Freiheit traf es schon eher.
Also hob Sebastian nur die Schultern, ließ endlich von dem Pflaster ab. „Es könnte mir nicht gleicher sein.“
Moriarty nickte langsam und musterte ihn auf eine Weise, die Sebastian sich doch sein Shirt zurückwünschen ließ – als würde er jede Seite seiner Geschichte lesen. „Wie hat es sich angefühlt?“ Plötzlich lehnte Moriarty sich vor in seine Richtung und Sebastian wich instinktiv weiter in seinem Sessel zurück. Wenn Moriarty es bemerkte, schien es ihn nicht zu kümmern. „Als du deinen Vater erschossen hast, meine ich.“
Sebastians Augenbrauen hoben sich wie von selbst. Gerade da er ansetzen wollte, zu antworten – wie sollte er diese Frage überhaupt beantworten? – klopfte es an der Tür. Er zuckte zusammen.
Er erhob sich, um zur Tür zu gehen, aber Moriarty hielt ihn mit einem Räuspern zurück. Sebastians Blick wanderte zu ihm und sein Boss deutete auf seine eigene linke Schulter. „Du möchtest dir vielleicht etwas überziehen.“
Sebastian strich über das Pflaster, das sicher Fragen aufwerfen würde und nickte. „Richtig.“
Während er in sein Zimmer eilte, hörte er im Wohnzimmer die Decke rascheln, als Moriarty an seiner Stelle aufstand und zur Tür ging. Er hörte das leise Gemurmel einer Konversation und meinte, Willards Stimme zu erkennen.
Gerade, da er in eine Jeans sprang, rief Moriarty ihm von der Tür zu: „Willard fragt, ob wir zum Frühstück zu ihnen kommen wollen!“
Sebastian stolperte kurz über das Wort „wir“ und in Folge daraus trat er auf sein Hosenbein und stolperte tatsächlich. Er verzog das Gesicht und hoffte, Moriarty hatte das Poltern nicht gehört, während er sich und seine Würde wieder vom Teppich kratzte. „Ja, gerne“, erwiderte er lauter, als nötig gewesen wäre und strich sich seufzend über sein Gesicht. Seine Lider waren so schwer und er so müde.
Kurz darauf lehnte Moriarty sich in den Türrahmen zu seinem Zimmer und blickte skeptisch zu ihm. „Ringst du hier drin mit jemandem?“ Also hatte er seinen Sturz doch gehört. Sebastian versuchte, nicht rot anzulaufen, aber er war sich nicht sicher, ob es gelang. Er winkte ab. Moriarty ging nicht weiter darauf ein. „Willard und Hilda erwarten uns in einer Viertelstunde zum Essen. Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, wenn ich euch Gesellschaft leiste.“
Zur Antwort nickte Sebastian. Eigentlich glaubte er nicht, dass es Moriarty wirklich interessierte, was in Ordnung für ihn war und was nicht. Gleichzeitig fragte er sich, ob Moriarty möglicherweise einen Hintergedanken hatte, nachdem er Willard und Hilda bisher nach ihrem ersten Treffen so aus dem Weg gegangen war, jetzt mit ihnen zu frühstücken. Vielleicht hatte Moriarty das Gefühl, sich nach ihrer gestrigen Konversation ein Bild von der Lage machen zu müssen, um zu entscheiden, wie wahrscheinlich es war, dass Sebastian diese Familie behalten wollte. Vielleicht war der Hintergedanke aber auch nur, dass es Frühstück gab und Moriarty hatte genauso Hunger wie er.
„Du solltest vielleicht die Zeit nutzen, um etwas weniger wie ein lebender Toter auszusehen“, riet Moriarty ihm mit einem Blick auf sein Gesicht, das die Spuren der letzten schlaflosen Nächte tragen musste. Sebastian brummte etwas, das Zustimmung oder eine Beleidigung sein könnte und Moriarty wandte sich ab. Im Weggehen sagte er noch über seine Schulter: „Ich hoffe, du weißt, dass du mir nur fit von Nutzen bist. Du bekommst deine Schlafprobleme also besser unter Kontrolle.“
Als könnte Sebastian seine Albträume einfach so unterdrücken.
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Hilda war ein Wasserfall an Worten, während Sebastian und Willard sich etwas reservierter zeigten und sich eher auf das Essen konzentrierten. Moriarty antwortete höflich auf Fragen, stellte Gegenfragen und wirkte in seinem Anzug völlig fehl am Platz.
„Ich bin neugierig“, sagte Hilda irgendwann. „Du bist so jung, aber dennoch leitest du schon ein Unternehmen, wie Sebastian sagt. Wie schafft man so etwas?“
Moriarty warf Sebastian einen kurzen Blick zu, der nur seine Schultern ein winziges Bisschen hob – irgendetwas hatte er ihnen ja erzählen müssen. „Es war nicht einfach“, antwortete Moriarty dann und bestrich sich eine zweite Brötchenhälfte, während Sebastian bereits das dritte Brötchen verschlungen hatte. Offenbar aß Moriarty nicht viel mehr als vor zwanzig Jahren. Sebastian hingegen hatte nie aufgehört, wie ein ausgehungerter Teenager zu essen. „Doch ich habe schon kurz nach meinem Schulabschluss und während meines Studiums daran gearbeitet, alles aufzubauen. Es hat Jahre gedauert, aber ich bin mittlerweile endlich dort angekommen, wo ich sein möchte.“
Sebastian fragte sich, ob Moriarty sich dies nur ausdachte, oder ob es tatsächlich der Wahrheit entsprach – er tendierte zur letzteren Möglichkeit, denn Moriarty hatte ihm selbst gesagt, dass es beim Lügen am einfachsten war, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Und es würde Sinn machen, denn egal, wie wenig Sebastian von Moriartys Netzwerk verstand, er wusste, es war gigantisch. Und es musste wirklich Ewigkeiten gedauert haben, all diese Kontakte zu knüpfen, so viele Menschen zu engagieren und anzustellen – und das alles ohne Behörden auf sich aufmerksam zu machen und sein Gesicht all diesen gefährlichen Menschen, die für einen arbeiteten, zu präsentieren.
„Was genau ist das überhaupt für ein Unternehmen?“, schaltete Willard sich ein, der, anders als Sebastian, mittlerweile gesättigt war und an seinem Kaffee nippte. Als die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf ihn richtete, fügte er an: „Wenn ich fragen darf.“
„Natürlich.“ Moriarty faltete die Hände übereinander auf dem Tisch. Seine beschmierte Brötchenhälfte lag weiterhin unangerührt auf seinem Teller. „Im Allgemeinen beraten wir Menschen und Firmen.“
„Ah ja? Inwiefern?“ Hilda beugte sich interessiert vor. Sebastian wusste nicht, ob sie überhaupt schon etwas von dem Jogurt, der vor ihrer Nase stand, gegessen hatte. Er hielt es für unwahrscheinlich, in Anbetracht der Tatsache, dass sie so viel redete.
„Wir haben … Spezialisten für die unterschiedlichsten Bereiche. Finanzen, Rechtliches, Soziales.“ Steuerhinterziehung, Erpressung, Mord. „Wir schränken uns nicht wirklich ein und versuchen, immer weiter zu expandieren. Es funktioniert gut, weil es kein anderes Unternehmen wie dieses gibt.“ Sebastian hatte in dem Jahr, das er nun für Moriarty arbeitete, von vielen Konkurrenten gehört, die geglaubt hatten, es mit Moriarty aufnehmen zu können: Gangsterbosse, die sich etwas zu wichtig genommen hatten, Abzweigungen verschiedener Mafias, Kriminelle mit einer Vision. Sie waren nie weit gekommen. Entweder hatte Moriartys Netzwerk sie geschluckt und sie arbeiteten nun ebenfalls unter ihm, oder er hatte sie in so kleine Stücke zerfetzt, dass jeder, der Ähnliches gewagt hätte, sich wieder in die Schatten zurückgezogen hatte, aus denen er gekommen war.
Nach seiner Entlassung aus dem SAS und der British Army hatte Sebastian sich viel in der Unterwelt herumgetrieben, hatte Jobs angenommen und sich so irgendwie durchgeschlagen. Aber er hatte nie auch nur von Moriarty und seinem Netzwerk gehört, was ihn erst an dem Ruf Moriartys als unangefochtener König der Unterwelt hatte zweifeln lassen. Im Nachhinein verstand er, von wie viel Macht es sprach, so vieles zu kontrollieren und sich dennoch bedeckt halten zu können. Sebastian war nie bedeutend genug gewesen, hatte nicht in den richtigen Kreisen verkehrt, um die Ehre zu erfahren, vor Moriarty gewarnt zu werden. Stattdessen hatte der ihn überrumpelt, ehe Gerüchte auch nur ansatzweise zu ihm hätten durchdringen können. Denn während Moriarty sich darauf verstand, seinen Ruf bedrohlich, aber geheimzuhalten, hatte Sebastian, in dem Glaube, das wäre die richtige Art und Weise, immerzu versucht, sich einen Namen zu machen. Jetzt wusste er, dass er ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit gezündet hatte und es Moriarty mehr als nur leicht gemacht hatte, ihn zu finden, selbst getarnt als Schatten, den Sebastian nicht gesehen hatte.
„Das klingt wirklich interessant“, befand Hilda und nahm nun doch einen Löffel Joghurt. Diesen richtete sie im nächsten Moment auf Sebastian: „Und was genau ist deine Aufgabe, Sebastian?“
Eigentlich hätte Sebastian die Frage kommen sehen müssen – immerhin wollten Hilda und Willard natürlich wissen, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, wo er die Army verlassen hatte. Leider hatte Sebastian sich trotzdem noch keine Gedanken über eine Ausrede gemacht und es dauerte eine Sekunde zu lang, ehe er antwortete und die Tatsache, dass er für Geld Menschen erschoss, damit verschwieg: „Ich bin gewissermaßen … in der Security zuständig. Ich verhandle mit Konkurrenten. Derzeit springe ich außerdem für eine Kollegin ein, was den privaten Sicherheitsschutz des Unternehmens betrifft.“
„Das ist ja spannend“, sagte Hilda, die sich offenbar verpflichtet fühlte, den ständigen Gesprächsfluss am Laufen zu halten. Was Sebastian möglicherweise auch getan hätte, wäre er etwas weniger erschöpft.
Er warf einen kurzen Seitenblick auf Moriarty und glaubte nicht, dass es Einbildung war, dass dessen Mundwinkel amüsiert zuckten. Auch er fand es lächerlich, seine eigentlichen Tätigkeiten so zu verschleiern, aber egal, wie viel Willard ihm bedeutete und dass es andersherum vielleicht genauso aussah, die Wahrheit könnte Sebastian nie auch nur andeuten. Es war zu gefährlich und außerdem würde Willard ihn verachten. Und vermutlich verhaften lassen.
Das Gespräch verlief weiter, ohne dass Sebastian ihm noch folgte. Er verlor sich in seinen Überlegungen und darin, was Moriarty in der letzten Nacht zu ihm gesagt hatte: Dass er vielleicht nicht verstanden werden wollte.
Er glaubte noch immer nicht, dass es stimmte. Nicht ganz. Es war vielmehr, dass er nicht verstanden werden konnte, allein aus der Tatsache heraus, dass all die Menschen, von denen er sich Verständnis gewünscht hätte, ihn verurteilen würden. Sebastian war kein guter Mensch, aber er erhoffte sich immer wieder Nähe zu Menschen, die es waren: gut. Das war der Fehler in seinem Denken, das erkannte er jetzt. Und in dieser Hinsicht lag Moriarty wohl richtig: Er wollte nicht, dass die Menschen, die er wollte, ihn verstanden, weil das heißen würde, dass sie genauso verdorben wären wie er.
Willard würde niemals nachvollziehen können, wie sehr Sebastian den Nervenkitzel eines Gefechts liebte oder dass er sich lieber hunderte Male anschießen lassen oder mit einer Waffe in der Hand sterben würde, als ein normales, langweiliges Leben zu führen. Und Charlie … Charlie hatte immer geglaubt, der Krieg würde Sebastian in seinen Träumen heimsuchen, er hatte geglaubt, Sebastian würde vom Tod träumen und sich fürchten. Sebastian hatte ihm nie ganz erklären können, dass es nicht der Krieg war, der ihn schweißgebadet aufwachen ließ, sondern das Gefühl der Nutzlosigkeit. Das Gefühl, jedes Gefecht gewinnen zu können, aber angekettet zu sein. Das Gefühl, das verschwand, wenn er eine Waffe trug, weil er wusste, dass er etwas zu tun hatte, eine Aufgabe hatte – selbst wenn diese Aufgabe so simpel war, wie einen Mann zu erschießen.
Andere Menschen würden ihn verurteilen, aber Sebastian kam zu dem Schluss, dass er für Blut und Gewalt und Tod und Verbrechen geboren sein musste. Nichts anderes ließ ihn sich lebendiger oder mehr wie er selbst fühlen. Nichts anderes wollte er, das andere in ihm sahen – und da das unmöglich war, würde er sich immer wie ein Fremder bei anderen fühlen.
Sein Blick wanderte wie von selbst zu Moriarty, der gerade damit beschäftigt war, Hilda die Unterschiede des Kapitalismus' in Amerika und in Europa zu erklären. Er wusste nicht, wie sie auf das Thema gekommen waren und er hätte auch nicht zugehört, wäre er weniger in seinen eigenen Gedanken gefangen gewesen.
Stattdessen fragte er sich, was aus ihm geworden wäre, hätte Moriarty ihn nicht gefunden. Vermutlich wäre er mittlerweile tot. Oder im Gefängnis. Oder tot im Gefängnis. Denn während der Zeit, in der er Aufträge in der Unterwelt angenommen hatte, hatte er vielleicht immerzu seine Waffe gebraucht, aber letztlich hatte er alles nur getan, um sich über Wasser zu halten. Und das war ihm noch immer so … nutzlos vorgekommen. Als müsste etwas Größeres auf ihn warten. Zur Hölle, beim SAS hatte er Terroristen ausgeschaltet und dann plötzlich betrügende Ehemänner. Alles war ihm so nichtig vorgekommen.
Und es war nicht so, als wäre seine Arbeit für Moriarty sehr anders. Aber bei ihm konnte er zumindest das … große Ganze sehen. Er war ein Teil von etwas, er half, ein Reich aufrechtzuerhalten. Selbst, wenn dieses ein Verbrecherimperium war. Oder gerade deshalb.
Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass Moriarty diesen Aspekt in ihm erkannt hatte, noch bevor er ihn selbst entdeckt hatte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass Sebastian sich jetzt, wo er darüber nachgedacht hatte, doch verstanden fühlte. Von Moriarty.
Vielleicht bemerkte Moriarty, wie Sebastian ihn unverwandt ansah, oder vielleicht war es Zufall, aber ihre Blicke trafen sich, gerade, da er diesen Gedanken fasste. Um Moriartys Lippen spielte ein höfliches Lächeln, aber seine Augen waren so tief und finster, wie Sebastian sie schon immer gekannt hatte. Zum ersten Mal glaubte er jedoch, in dieser Dunkelheit etwas von dem zu sehen, was auch in ihm selbst schlummerte. Eine Art Tatendrang. (Sebastian wollte die Welt retten oder sie zerstören, es sollte nur groß genug sein.)
Wenn Moriarty ihn tatsächlich so gut verstand, dann bedeutete das, dass er vielleicht auch Recht damit hatte, was sein Sehnen nach einer Familie anging: Dass er nicht dafür gemacht war. Und unwillkürlich musste er sich fragen, ob er es tatsächlich wollte, oder ob er vielmehr einer Vergangenheit hinterhertrauerte, in der er es noch haben hatte können. In der er noch nicht der gewesen war, der er heute war.
Moriarty hob eine Augenbraue und Sebastian bemerkte, dass er noch immer starrte, also blinzelte er und griff nach seinem Kaffee, um sich stattdessen darauf zu konzentrieren.
Vielleicht war es nur der Schlafmangel, der ihn so denken ließ. Oder Moriarty hatte Sebastian tatsächlich geholfen, sich selbst etwas besser zu verstehen.
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*An dieser Stelle fühle ich mich verpflichtet anzumerken, dass die Geschehnisse dieser Geschichte natürlich frei erfunden sind. Zwar hat die New IRA einige schreckliche Anschläge veranstaltet, ein solcher wie hier beschrieben, gehört jedoch nicht dazu.
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Hey, guys!
Leider habe ich keine Zeit, dieses Kapitel Korrektur zu lesen, da ich auf dem Weg zur Buchmesse in Leipzig bin und den ganzen Tag dort verbringen werde (endlich, nachdem es wegen Corona etc so lang nicht geklappt hat :D), aaaber dieses Kapitel muss dennoch das Licht der Welt erblicken, denn heute ist der Geburtstag eines ganz besonderen und großartigen Menschen.
Alles Gute, dir, freyaYdarja, ich hoffe du hast den besten aller Tage!
Much love to all of you,
Tatze.
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