Drei
Harry trat auf seinen kleinen Balkon und stützte die Unterarme auf das Geländer. Er atmete die kühle Abendluft ein und starrte in den Himmel. Er sollte dunkel sein und nicht von den Lichtern Londons erhellt werden. Oder von Großstädten generell.
„Verfolgst du mich?", fragte eine kratzige Stimme.
Verwirrt drehte Harry seinen Kopf und entdeckte auf dem benachbarten Balkon Chris Marshall. Der Ältere hatte Kopfhörer um den Hals hängen und die Füße auf dem Geländer.
„Nein, ich lebe hier", antwortete Harry und merkte sogleich, wie bescheuert das klang.
Chris schnaubte verächtlich. „Leben? Hier soll man leben können? Hier sterben fast tagtäglich Menschen, viele an beschissenen Krankheiten, wie willst du zwischen alle dem Tod leben? Außerdem werden wir alle hier in naher Zukunft verrecken, du könntest jederzeit der nächste sein!"
Harry spannte seine Kiefermuskeln an, sagte aber nichts.
„Irgendwann wird der Tag kommen, an dem man deinen Tod verkündet. Sie werden trauern, weil du ziemlich viele Connections hast, aber schlussendlich sterben auch sie und dann gibt es keinen mehr, der sich an dich erinnert."
„Halt die Fresse!" Harry klang aggressiver, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Der Lockenkopf gab es nicht zu, aber er hatte panische Angst davor, vergessen zu werden. Und er wusste, dass das irgendwann passieren würde. In hundert Jahren würde sich keiner mehr an Harold Edward Styles erinnern. Er wäre nur noch ein Name auf einem Grabstein, der langsam verwitterte. Das einzige, was ihm einen winzigen Hoffnungsschimmer gab, war das Malen. Die Portraits überlebten ihn, vielleicht wurden sie später wertvoll und man würde sich an ihn erinnern.
Chris grinste leicht. „Sieh es ein, Harold. Wir werden sterben und wir werden vergessen. Und wer sagt, dass deine Bilder nach deinem Tod noch hier bleiben? Was ist, wenn man sie nur dir zu liebe hängen lässt? Und selbst wenn sie hängen bleiben und berühmt werden, man wird sich nur an deinen Namen und nicht an deine Persönlichkeit erinnern."
„Ich sagte: Halt die Fresse!"
„Wieso? Erträgst du die Realität nicht?"
Die beiden jungen Männer starrten sich gegenseitig in die Augen, ehe Harry den Blick abwandte und in sein Zimmer flüchtete. Die Glastür schlug er fester als nötig zu, um Chris' hämische Antwort: „Keine Antwort ist auch eine Antwort!" nicht hören zu müssen. Aber es schien, als hätten sich seine Worte in sein Gedächtnis eingebrannt, er konnte nicht aufhören, an sie zu denken.
In dieser Nacht hatte er einen Rückfall.
Während Lola am nächsten Tag zu ihrem Bruder fuhr, konnte sie nur an den seltsamen Jungen auf der Treppe denken. Er kam ihr so vor, als ob er trotz seiner Krankheit noch Spaß am Leben hatte. Für sie war ja schon allein die Vorstellung schrecklich, unheilbar krank zu sein, wie schaffte er es, aus seinem restlichen Leben das Beste herauszuholen?
Sie würde eher in Selbstmitleid und Depressionen versinken.
Als sie einparkte und aus dem Auto stieg, fühlte sie eine merkwürdige Schwere in sich. Vielleicht hatten Cat und sie gestern noch zu viel Rotwein getrunken. Auch wenn sie wusste, dass das nicht sein konnte, gab sich Lola mit der Vermutung zufrieden und spazierte in die Eingangshalle. Gerade als sie in den Aufzug steigen wollte, entdeckte sie ihren Bruder am Ende des kleinen Cafés. Mal wieder hatte er seine Kopfhörer auf und eine Kaffeetasse stand vor ihm auf dem Tisch. Lola lief näher und erkannte, als sie direkt vor ihm stand, dass er schlief.
"Hör auf zu starren", murmelte er.
"Ich starre nicht", erwiderte seine Schwester und setzte sich neben ihn.
"Warum bist du eigentlich hier?", wechselte er das Thema, immer noch mit geschlossenen Augen.
"Ich wollte dich sehen."
Ein spöttisches Grinsen legte sich auf sein Gesicht. "Hast du mich so vermisst?"
Lola verdrehte die Augen. "Ja", sagte sie, obwohl das nicht die ganze Wahrheit war.
Aber Chris schien zu ahnen, dass sie nicht ehrlich war. "Und was ist der andere Grund?"
Lola verfluchte ihren Bruder im Stillen. Vor ihm konnte sie keine Geheimnisse haben, das war schon immer so gewesen.
"Gestern Abend hat jemand bei mir angerufen", seufzte sie.
"Wer? Wenn es dein Ex war, bring ich ihn um.
"UnsereElternhabenangerufenundsiewollendichmorgenbesuchenkommen", ratterte sie schnell herunter.
Chris hob eine Augenbraue. "Du weißt schon, dass ich nach 'Unsere Eltern' abgeschaltet habe?"
"Sie kommen morgen zu Besuch."
Er atmete geräuschvoll aus und zerdrückte fast die Kaffeetasse. "Kein Interesse. Sie können wieder in ihr Strandhaus zu ihrer Assistentin verschwinden. Ich will deren Dreier ja nicht stören."
Lola verzog das Gesicht. "Sie sind immer noch unsere Eltern, Chrissie."
"Hör auf mich so zu nennen, das klingt wie ein Mädchenname, Lollie", meckerte ihr Bruder.
"Hör auf mich so zu nennen, Schnuckiputz."
"Touché", lachte Chris und Lola stieg mit ein. Sie hatte es vermisst, gemeinsam mit ihrem Bruder zu lachen. Das tat er seit der Diagnose kaum noch.
Er setzte seine Kopfhörer ab und legte sie auf den Tisch. "Aber um wieder auf das Anfangsthema zurückzukommen."
Lolas Lächeln verschwand. Sie wusste, dass Chris ihre Eltern nicht mochte (vielleicht sogar hasste), aber es war nie ein gutes Zeichen, wenn er freiwillig mit ihnen anfing.
"Sie sind miese Wichser."
"Das hast du jetzt zum tausendsten Mal gesagt."
"Und ich werde es auch immer wieder sagen."
"Warum streitet ihr euch eigentlich immer? Immer wenn ich frage, sagen sie, dass es eine Sache zwischen euch ist."
Chris leierte genau das hinunter, was er auf diese Frage immer antwortete: "Sie sollen es dir selbst erzählen."
Frustriert stöhnte Lola auf. "Ich werde es nie erfahren, oder?"
"Wenn sie sich querstellen... Nein, wahrscheinlich nicht."
"Aber warum? Ich bin ihre Tochter und deine Schwester, ich will wissen, was in meiner Familie schief läuft?"
Chris schnaubte. "Was schief läuft? Alles läuft schief, verdammt nochmal! Du bist zu blind, um es selbst zu merken! Es läuft nicht immer alles so einfach wie du es haben willst, du lässt dich zu leicht abwimmeln, wenn es drauf an kommt!"
"Wenn ihr nicht immer so ein riesen Geheimnis draus machen würdet!", fauchte Lola.
"Ich will nur nicht derjenige sein, der dein Bild von einer wunderbaren Familie zerstört!"
Lola blinzelte. Sie hatte nie wahrhaben wollen, dass ihre Familie eben nicht mehr aus dem Bilderbuch stammte, obwohl sie bemerkt hatte, dass langsam alles auseinander bröckelte. Die glückliche Fassade ihrer Eltern löste sich stetig auf. Chris' Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.
Im gleichen Moment schien Chris zu realisieren, was er da genau gesagt hatte. Er konnte an Lolas Gesicht erkennen, dass sie geschockt war, und ihm wurde bewusst, dass er mit diesen Worten ihre bunte Welt zerschlagen hatte.
"Anscheinend hast du Recht, mein einziges Talent ist es wohl, Sachen zu ignorieren." Ihre Stimme war kalt und abweisend.
"Lollie..."
"Nichts Lollie, Chris. Lass mich einfach in Ruhe." Sie stand auf und lief fluchtartig auf den Ausgang zu. Sie konnte einfach nicht länger bleiben, die junge Frau musste ihre Gedanken und Gefühle ordnen und das ging nun mal nicht, wenn Chris neben ihr saß und mit ein paar Wörtern alles zunichte machte.
Zurück blieb Chris, der seiner kleinen Schwester nachschaute und sich fragte, was er mal wieder falsch gemacht hatte.
~~~
Boom, neues Kapitel.
Fancover für Gummiwatte .
Ich weiß, es ist nichts Besonderes, aber mehr lassen meine Coverkünste (noch) nicht zu 😂
Luna.
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