Tief versunken in mein Ökonomiebuch bemerkte ich das Treiben um mich herum zunächst garnicht.
Eigentlich hatte ich nicht mal hier sein wollen, immerhin hatten die Vorlesungen noch nicht begonnen und alle anderen waren auf den Erstipartys. Doch nach dem letzten Gespräch mit Dad wollte ich frühzeitig meinen Abschluss machen. Ich würde dieses Semester noch ein paar extra Seminare auf meinen Stundenplan packen, um das zu erreichen. So saß ich hier mit meinen Lernsachen und nicht mit meinen Freunden bei einer Runde Darts.
Ich war fast der einzige hier, doch kam ich nicht daran vorbei zu bemerken wie die beiden Studenten an den anderen Tischen aufsprangen, alles liegen ließen und weg gingen. Nicht gingen, rannten.
Ich schob mir die Kopfhörer von den Ohren und die klassische Musik verstummte. Bevor ich mich wundern konnte was vor sich ging, ertönte zuerst ein Schussgeräusch, dann folgten angstdurchtränkte Schreie. Mein Herz begann zu rasen und die Haare auf meinem gesamten Körper stellten sich auf als wäre ein Blitz eingeschlagen.
Dann fielen meine Augen auf eine Gestalt mitten im Raum. Ich sah nur eine große Silhouette, der Rücken zu mir gerichtet. Die Person rührte sich nicht. Anstatt wie die anderen zu rennen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das Buch und alles andere ließ ich an dem Platz liegen. Nur mein Smartphone steckte ich ein.
Ich wusste nicht wirklich was ich tun sollte. Weglaufen oder verstecken? Doch ich konnte die Person da nicht so stehen lassen. Aus irgendeinem Grund zog es mich zu dem Mann. Es war eindeutig ein Mann mit den breiten Schultern und den kurzen Haaren. Aber warum bewegte er sich nicht?
Langsam ging ich zu ihm.
"Hallo?" Flüsterte ich.
Nichts.
"Bist du okay? Wir müssen hier weg."
Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter.
Er zuckte erschrocken zusammen und fuhr zu mir herum.
"Jasper!? Was zur Hölle machst du hier?" Fragte ich ihn.
"Was wohl!? Das ist eine Bibliothek." Antwortete er spitz. Eben noch starr vor Angst, eine Sekunde später wieder das Arschloch von nebenan. So typisch.
*Peng!*
Wir zuckten beide heftig zusammen.
"Wir müssen hier weg. Schnell." Meinte ich.
"No shit, Sherlock. Aber wenn da draußen gerade The Purge stattfindet geh ich bestimmt nicht raus." Antwortete er sarkastisch. Ich hätte ihn erwürgen können. Aber seine Stimme wackelte verdächtig. Auch Mr. Ich-bin-so-cool konnte seine Unsicherheit hinter dem bissigen Kommentar nicht verbergen.
„Du machst nicht grade ernsthaft Witze." Fauchte ich ihn an.
"Okay, aber hast du einen besseren Vorschlag? Du scheinst doch immer alles besser zu wissen." Gab er ebenso sarkastisch zurück.
"Mach deine Taschenlampe an." Befahl er mir daraufhin. Gerade wollte ich ihn ankeifen, dass er mir gar nichts zu sagen hatte, da nahm er mir das Handy aus der Hand. Danach schaltete er die anderen Lampen aus, sodass uns nur noch meine Handytaschenlampe sehen ließ.
"Komm. Wir verstecken uns. Dann rufen wir die Polizei." Sagte er mit tiefer Stimme und ich spürte seine Hand an meinem Arm. „Fass mich nicht an." Fuhr ich ihn an. Ich streifte seine Hand sofort ab, woraufhin er mich nur komisch ansah.
Nie hätte ich mir ein Szenario ausgemalt in dem ich sterben könnte und die letzte Person die ich sah, Jasper sein könnte. Ein Szenario in welchem ich die letzte Person war, die er je sah dagegen schon. Diese Tagträume beruhigten mich immer, wenn ich ernsthaft darüber nachdachte ihn unter die Erde zu bringen. Vorgestern war auf jeden Fall einer dieser Tage.
Ich konnte garnicht so schnell darüber nachdenken, da zog er mich in die Dunkelheit. Zwischen den Regalen entlang zum hinteren Ende der Bib, wo wir schließlich stehen blieben. Im dumpfen Licht der Taschenlampe sah Jasper sich um und anscheinend kam ihm eine Idee. Ich dagegen fühlte mich nutzlos und zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen.
„Hier. Der Tisch in der Ecke." Flüsterte Jasper und zog mich auf den Boden, um unter den Tisch zu krabbeln.
*Rumms!*
„Die Tü.." Weiter kam ich nicht, weil Jasper seine flache Hand auf meinen Mund presste, um mich zum Schweigen zu bringen.
Rasch entwand ich mich seiner Berührung und wischte mir mit dem Ärmel über die Lippen. Im nächsten Moment packte er mich allerdings wieder am Arm und wir verschwanden unter dem Tisch. Er schaltete das Handylicht aus. Ich hoffte inständig, dass man uns nicht gehört hatte. Und auch, dass der Eindringling schnell wieder gehen würde, sobald er merkte, dass hier niemand mehr war.
Es war beinahe stockdunkel. Nur noch das Straßenlicht von draußen schien durch die Fenster und ließen einzelne Umrisse erahnen. Jasper und ich hatten uns an die kalte Wand gedrückt und unsere Beine so nah wie möglich an uns heran gezogen.
Plötzlich erhellte sich der Raum wieder und es war klar, dass der Eindringling nicht vor hatte sofort wieder zugehen.
„Ich weiß, dass du hier bist." Rief eine raue männliche Stimme.
„Komm einfach raus und wir erledigen das draußen!" Fuhr diese fort.
Ich zitterte wie bei -20 Grad. Meine Zähne klapperten regelrecht. Die Angst stieg in mir auf wie Wasser bei Flut. Ich wollte nicht ertrinken, nicht hier, nicht jetzt.
Schwere Schritte liefen durch die Tischreihen. Sie wurden immer lauter und kamen definitiv auf uns zu.
„Komm schon raus!"
Ich biss mir auf die Lippe, um still zu bleiben. Es tat weh, doch der Schmerz lenkte mich ab. Wenige Sekunden später schmeckte ich allerdings etwas metallisches auf meiner Zunge. Blut. Ich musste wirklich versuchen mich zu beruhigen. Zwanghaft versuchte ich daher flacher und gleichmäßiger zu atmen. Jetzt erst nahm ich auch Jasper neben mir wieder war. Er zitterte am ganzen Körper und sein Knie begann unwillkürlich auf und ab zu wippen. Dieser wirkte abwesend und schien das nicht zu bemerken. Ohne nachzudenken wanderte meine Hand auf sein Knie und ich drückte es sanft hinunter. Jaspers aufgeregter Blick huschte zu mir, dann zu seinem Knie und wieder zu mir. Für einen kleinen Augenblick dachte ich, er würde meine Hand wegstoßen. Warum hatte ich das nur getan? Ich war so dumm. Ich dachte er würde mir bestimmt eine knallen, stattdessen sah ich aber nur in das angstgeprägte Gesicht meines Zimmernachbarn. Er fürchtete sich genauso wie ich.
Die Schritte schienen mit jeder Sekunde lauter zu werden.
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