Five🚊
«Welche Linie müssen wir nehmen?», wollte Mingyu wissen.
Seungcheol öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Jeonghan stiess ihm in die Seite. «Halt die Klappe!», zischte er, «niemand darf hören, dass du eigentlich ein Typ bist, sonst fliegen wir sofort auf!» An Mingyu gewandt sagte er: «Linie 1, sie fährt in zehn Minuten.»
Vollbepackt mit ihren Koffern eilten die vier zur genannten Haltestelle. Kurze Zeit später erreichte die U-Bahn die Station und sie stiegen ein. Vorsichtshalber wählten sie einen Platz direkt an der Tür, damit sie im schlimmsten Fall besser abhauen konnten.
Nervös holte Seungcheol Luft. Sein Herz klopfte und seine Hände waren schweissnass. Was, wenn die mich erwischen?, dachte er unruhig, ich will nicht in den Knast!
Soonyoung, der ihm gegenüber sass, bekam von seiner Unsicherheit mit und nahm Seungcheols Hände in seine. «Es wird alles gut gehen», flüsterte er, «hab keine Angst!» Seungcheol nickte und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu behalten.
Jetzt erklang die Durchsage, welche die Passagiere begrüsste und ihnen mitteilte, wohin die U-Bahn fuhr. Dann setzte sie sich endlich in Bewegung und verliess den Hauptbahnhof von Seoul.
Nun etwas entspannter tippte Jeonghan den anderen eine Nachricht, dass sie gut abgefahren seien. Dann sassen alle vier stumm auf ihren Sitzen und hingen ihren Gedanken nach. Wenig später erschien die Fahrscheinkontrolle. Mingyu hielt ihnen die gewollten Papiere hin und atmete erleichtert aus, als die zwei Frauen weiterzogen.
«Nächster Halt, Namyeong Station», riss die Durchsage sie aus ihren Gedanken. Sowohl Seungcheol als auch Mingyu zuckten erschrocken zusammen.
«Versucht, euch zu entspannen!», raunte ihnen Jeonghan zu, «hört Musik oder sowas. Sonst seid ihr zu auffällig.» Er nickte ihnen ermunternd zu. Die beiden Männer (oder für die anderen Passagiere: Die hübsche junge Frau und der hübsche junge Mann) kramten gehorsam ihre Kopfhörer hervor und lehnten sich zurück.
«Nächster Halt, Gaebong Station.» Geräuschlos fuhr die U-Bahn in die besagte Haltestelle ein. Wie jedes Mal blickten Soonyoung und Jeonghan angespannt nach draussen und suchten einen Hinweis auf mögliche Polizisten. Wie bereits zuvor sahen sie aber nichts Verdächtiges. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Gerade, als die Bahn wieder losfuhr, erhielt Jeonghan auf KakaoTalk aufgeregte Nachrichten von Chan.
Dino🦖: HYUNG, GERADE WAREN DREI POLIZISTEN BEI UNS UND HABEN UNS AUSGEFRAGT!!! ICH GLAUBE, SIE VERMUTEN, DASS IHR MIT DER U-BAHN AUF DER FLUCHT SEID!!!!
Dino🦖: Sie haben andauernd nach Seungcheol und Mingyu gefragt! Keine Ahnung, woher sie von Mingyu wissen, aber sie haben sogar ein Bild von ihm!
Dino🦖: Mingyu ist nicht so gut verkleidet, man könnte ihn erkennen!!!
Dino🦖: Bitte, tut etwas!!
Dino🦖: Wir kommen alle um vor Sorge!
Dino🦖: Seungkwan nimmt das ganze Haus auseinander und Seokmin heult sich die Augen aus!
Dino🦖: Bitte melde dich und sage, dass es euch gutgeht!
OneAndOnlyJeonghan: Uns geht's gut
OneAndOnlyJeonghan: Danke für die Info❤️
OneAndOnlyJeonghan: Ich werde dafür sorgen, dass man Mingyu nicht erkennt
OneAndOnlyJeonghan: Versucht nicht die Nerven zu verlieren! Wir schaffen das.
Jeonghan hatte Angst. Als er mir diese Geschichte hier erzählte, betonte er zwar immer wieder, er sei nur besorgt gewesen, aber ich bin mir sicher, dass er sich beinahe in die Hose gemacht hatte. Wie auch immer: Er stand jetzt vor der schweren Aufgabe, die schlechte Neuigkeit an die drei anderen weiterzugeben, ohne, dass sie in Panik gerieten.
Spoiler Alert: Es gelang ihm nicht.
Mingyu brach beinahe in Tränen aus, Seungcheol wurde leichenblass und fiel beinahe in Ohnmacht und Soonyoung begann – ganz Lady-Unlike – auf seinem Sitz hin und her zu wippen. Die anderen Passagiere blickten verstört zu ihnen hinüber und Jeonghan versuchte, eine aufkommende Panikattacke zu unterdrücken und die drei zu beruhigen. Schliesslich rammte er Soonyoung den Ellenbogen in die Seite und zischte ihm zu, er solle sich gefälligst zusammenreissen und Siwon (Seungcheol) trösten – sie (er) sei schliesslich ihre (seine) Freundin.
Dann packte er Mingyu an der Hand, zog ihn in die Höhe und legte ihm einen Arm um die Schulter. «Machen Sie sich keine Sorgen, die beiden haben leider eine Sozialphobie», sagte Jeonghan in die Runde und deutete mit dem Kinn auf Seungcheol und Mingyu. «Suji hier kümmert sich um Siwon und ich mich um Jungkook.» Er lächelte gezwungen. «Es ist alles okay.» Mit diesen Worten führte er Mingyu aus dem Waggon, zur Toilette. Dort drückte er ihn hinein, stellte sich vor die offene Tür und schirmte Mingyu so vor neugierigen Augen ab.
«Mingyu, bitte versuche dich zu entspannen», flüsterte er und nahm seine Hand, «wir schaffen das, die Polizei ist nicht so schnell und hat keine Ahnung, in welcher Bahn wir sind. Bald kommen wir in Incheon an und bringen uns im Ferienhaus deiner Babysitterin in Sicherheit.»
«Ehemalige Babysitterin», murmelte Mingyu und atmete tief ein und aus. Jeonghan liess ihm Zeit und schwieg. Schliesslich richtete sich Mingyu etwas auf. «Ich hab mich beruhigt», wisperte er, «es geht wieder.»
«Okay», erwiderte Jeonghan erlöst, «das ist gut. Hör mal, du musst dich ein Bisschen besser verhüllen. Falls die Bullen trotzdem kommen. Wir gehen jetzt zurück und du ziehst meine Schlafmaske über. Die Leute werden denken, du brauchst das, damit du keine weitere Panikattacke bekommst, ja? Versuch, etwas zu schlafen, ich wecke dich, sobald wir in Incheon ankommen.» Mingyu nickte und erhob sich mit zitternden Knien.
Dann führte Jeonghan ihn wieder in den Waggon. Die Menschen blickten ihnen neugierig entgegen. Erleichtert registrierte Jeonghan, dass Seungcheol wieder etwas Farbe im Gesicht hatte. Soonyoung sass nun neben ihm und raunte ihm immer wieder irgendwelche Worte ins Ohr.
Mingyu setzte sich auf seinen Platz und Jeonghan ging zu seiner Tasche und kramte die Schlafmaske heraus, mit der er immer schlief. Dabei lächelte er die Leute um ihn herum charmant an. «Sie haben ihre Panikattacken überstanden, herzlichen Dank, dass sie so still geblieben sind und die beiden in Ruhe gelassen haben», sagte er und verbeugte sich tief. Alle erwiderten sein Lächeln und widmeten sich wieder ihren Gesprächen.
«Nächster Halt, Bugae Station», teilte ihnen die Bahndurchsage mit.
«Gott sei Dank, nur noch vier Stationen», dachte Soonyoung erleichtert und warf einen Blick zu Jeonghan, der das Gleiche zu denken schien. Mingyu schlief mit Jeonghans Schlafmaske und Seungcheol hörte mit geschlossenen Augen Musik.
Wie immer behielt Soonyoung die Haltestelle der U-Bahn im Blick, als sie einfuhren. Beinahe hätte er es übersehen, aber mit Schrecken sah er plötzlich einige muskulösen Männer, an deren Gürtel er Waffen erkennen konnte. Sein Herz setzte für ein paar Schläge aus, um gleich danach noch schneller weiterzuschlagen.
«Leute, wir müssen hier aussteigen!», rief er mit hoher Stimme, «scheisse, ich habe verpennt!» Jeonghan und Seungcheol zuckten zusammen und wurden blass. Sie kapierten sofort, was das bedeutete. Soonyoung sprang auf und rüttelte Mingyu wach. «Nehmt eure Koffer!» Panisch sammelten alle ihre Sachen ein und rannten, um den Ausgang noch rechtzeitig zu erreichen.
Sie kamen zu spät, obwohl ihnen ein geistesgegenwärtiger Mitreisender noch die Türe aufzuhalten versuchte.
Bleib cool, Soonyoung, du schaffst das!, feuerte er sich innerlich an, du hast heute bereits einmal fast die Nerven verloren, das geschieht dir nicht noch einmal!
Er blieb kurz stehen und beruhigte seinen hektischen Atem. «Kein Problem, wir steigen einfach an einem anderen Ort aus und kommen so nach... Incheo... Äh, Bugae», sagte er in die Runde, sodass auch die anderen Passagiere ihn hörten.
Alle setzten sich wieder hin, doch Soonyoung erkannte, dass jetzt selbst Jeonghan nahe einer Panikattacke war. Möglichst entspannt legte er ihm eine Hand auf den Arm und streichelte ihn. «Die kriegen uns nicht», flüsterte er, «das verspreche ich dir!»
Dann kümmerte er sich um Seungcheol und Mingyu. «Steck die Kopfhörer wieder in die Ohren, Seung... Äh, Siwon», wisperte er und wandte sich an Mingyu. «Versuch, nochmals zu schlafen, ich suche uns eine neue Verbindung raus.» Das sagte er etwas lauter, mit hoher Stimme, denn er war ja schliesslich eine Frau, und zog Mingyu wieder die Schlafmaske an.
Er nahm sein Smartphone hervor und tat so, als würde er nach einem neuen Weg suchen. Seine Hände zitterten, doch er versuchte es zu unterdrücken. Bleib cool, Soonyoung, bleib cool!, wiederholte er immer wieder in Gedanken, bleib cool, Soonyoung, bleib cool! Ihm war speiübel.
Trotzdem vergass er beinahe zu atmen, als er die Waggontür hörte, die sich öffnete und wieder schloss. Waren das jetzt die Bullen? Nach aussen möglichst entspannt rührte er sich nicht und tippte weiter auf seinem Handy herum.
Nichts geschah. Es war wohl jemand anderes gewesen.
Zum zweiten Mal öffnete sich die Waggontür. Erneut schnürte es ihm den Hals zu, als er sich in Gedanken anfeuerte, ruhig zu bleiben.
Nichts geschah. Es war wohl wieder jemand anderes gewesen.
Kalter Schweiss tropfte ihm von der Stirn und landete auf dem Handybildschirm. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, er hatte sich wohl vor Angst auf die Zunge gebissen. Fest presste er die Lippen zusammen und wagte einen Blick nach oben. Jeonghan, Seungcheol und Mingyu sassen wie eingefroren auf ihren Plätzen.
Unsicher räusperte er sich. «Wir. Wir steigen in Incheon aus», krächzte er und versuchte mit aller Kraft, die hohe Stimme beizubehalten, «wir kommen trotzdem noch rechtzeitig beim Hotel an.» Blinzelnd sah er wieder auf sein Handy und versank in seinen Gedanken.
Das Geräusch der Waggontür brachte ihn wieder in die Realität zurück. Er spürte: Dieses Mal waren es die Polizisten. Tatsächlich erhob ein Mann die Stimme. Sie klang tief und furchteinflössend. Soonyoung rutschte das Herz in die Hose. Jetzt wurde es ernst. Die nächsten Minuten entschieden über das Schicksal von Jeonghan, Mingyu und ihm, aber besonders über das Schicksal von Seungcheol. Vielleicht würde dieser in kurzer Zeit abgeführt werden, verhaftet für etwas, an dem er keine Schuld trug.
«Hier ist die Polizei. Bitte, bleiben Sie auf Ihren Plätzen sitzen. Wir suchen zwei Jugendliche, Mitte sechzehn. Sie müssen sich keine Sorgen machen, wir sind gleich wieder weg!»
Unruhiges Gemurmel wurde laut. Die Passagiere tuschelten miteinander und sahen immer wieder zu Jeonghan und Mingyu hinüber, denn diese waren die einzigen Jugendlichen Mitte sechzehn in diesem Wagen.
Die schweren Schritte der Polizisten kamen näher und Soonyoung setzte ein freundliches Gesicht auf. Mingyu regte sich noch immer keinen Millimeter und Jeonghan griff nach Soonyoungs Hand. Sie war schweissnass.
«Haben wir euch!», brüllte ein Polizist, «denkt ihr, wir fallen auf eine solch lächerliche Verkleidung rein?» Wie auf Kommando stürzten sich die Beamten auf die vier Freunde, warfen sie auf den Boden und fesselten sie mit Handschellen.
«Aufstehen!», bellte derjenige, der Mingyu festhielt. «Ihr seid verhaftet! Alles, was ihr sagt, kann und wird vor Gericht gegen euch verwendet werden... Macht euch auf eine lange Zeit im Gefängnis gefasst!»
Machtlos liessen sich die vier abführen. Sie hatten verloren.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro