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//Viola//
Sie hängt wieder einmal vor dem Fenster und beobachtet den Garten. So früh am Morgen, wenn es fast noch dunkel ist, kann sie nur die Umrisse der flinken Wesen erkennen, die herumflattern und kreischen.
David öffnet die Tür.
"Paket für dich", sagt er und stellt eben dieses auf ihrem Bett ab.
"Von wem?", fragt Viola gedankenverloren. Heute ist ein guter Tag, das hat sie im Gespür. Keine Attacken, keine Müdigkeit, keine Unruhe, nur sie und David, alleine zu Hause.
"Ähm..." David wirft einen Blick auf das Postetikett. "Von Marty?"
Viola sieht auf. "Äh", macht sie und denkt nach. "Marty..." Nervös trommelt sie mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum. "Marty, Marty, Marty..."
David lächelt. "Brieffreund", sagt er und ihr geht ein Licht auf.
Natürlich, wie konnte sie das nur vergessen.
"Marty!", wiederholt sie sich ein letztes Mal, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich weiß, wer er ist. Dann springt sie auf und reißt am Panzertape, das das Paket verschlossen hält. Es ist hartnäckig, Viola zerrt so lange fluchend daran, bis David ihr grinsend eine Schere hinhält.
Endlich klappt sie den Pappkarton auf. Darin liegt eine kleine Schachtel aus poliertem Holz und ein Foto. Zögerlich hebt sie die Schachtel ans Tageslicht. Sie besteht aus dunklem Kirschholz, das in den Sonnenstrahlen, die allmählich durch das Fenster scheinen, wunderschön glänzt.
Die Schachtel wird von einem Hakenverschluss zugehalten, an dem ein kleiner runder Aufkleber prangt.
Bitte vorsichtig öffnen :)
Die schwarz geschwungenen Lettern jagen ihr einen kleinen Schauer über den Rücken, den Viola sich nicht erklären will. Sie weiß, das auch Paranoia zu ihrem Krankheitsbild zählen, will davon jedoch in diesem Augenblick überhaupt nichts hören.
Trotzdem ist da diese leise Stimme in ihrem Kopf, die mit schweren Stiefeln auf dem Großhirn herumtrampelt; dort, wo das Vertrauen sich langsam in Angst umwandelt.
Das ist eine Falle! Oder nicht? Nein, es muss eine Falle sein!
Viola schüttelt sich, in der Hoffnung, die plötzlichen Zweifel so vertreiben zu können. David legt eine Hand auf ihre Schulter, wie immer, wenn es ihr schlechter geht. Er bemerkt Situationen meist bereits vor dem Eintreten. So auch jetzt.
"Viola, Süße, mach es auf, komm", sagt er mit sanfter Stimme, die sich wie eine warme Decke über sie legt. Sie schüttelt zitternd den Kopf.
"Mörder", murmelt sie. "Nicht aufmachen!"
David sieht sie eine Weile lang aus traurigen Augen an. Ein dumpfer, melancholischer Blick, der nur so von Erschöpfung trieft. Immer wieder schüttelt Viola den Kopf und murmelt wiederholend das Wort "Mörder".
"Hast du dir gestern Nachrichten angeguckt?", fragt er schließlich und nimmt ihr beiläufig die Schachtel aus den nervös schlotternden Händen. Viola zuckt mit den Schultern. Sie hat gestern eine Zeit lang vor dem Computer gesessen. Sie hat Marty auf seine Email geantwortet.
Glaubt sie zumindest. Die Notiz an ihrem Handgelenk ist jedenfalls nicht mehr da.
"Das sollst du nicht machen, Viola!"
Wieder zuckt sie mit den Schultern, während sie den Blick gesenkt hält und an ihrem Armband spielt. Es ist ein schwarzes Silikonband mit metallener Plakette, in die Davids Handynummer und Violas Name eingraviert sind. Unter der Plakette ist ein Tracker versteckt, der von David kontrolliert wird. Wenn seine Tochter nachts das Haus verlässt, kann er sie so über eine App finden.
Viola weiß nichts von diesen Maßnahmen. David hat es ihr erklärt, aber das ist lange her. Trotzdem lautet Regel Nummer zwei in ihrem Leben wie folgt.
Dein Armband ist wichtig. Nimm es niemals ab!
Langsam nimmt ihr Vater seine Hand von ihrer Schulter.
"Darf ich es für dich aufmachen?", fragt er. Hastig schüttelt Viola ihren Kopf, sodass ihre Haare wild in alle Richtungen fliegen. Er seufzt und überspielt seinen Zweifel mit einem vorsichtigen Lächeln.
"Ich sag dir auch Bescheid, wenn ein Mörder hier drin ist."
Er schüttelt den kleinen Kasten leicht. Sie überlegt kurz. Dann nickt sie. David löst den kleinen Haken mit spitzen Fingern von seiner Befestigung. Viola rutscht ganz an die Wand und krallt ihre Hände in die bunt gemusterte Bettdecke.
Der Deckel wird mit bedachten Bewegungen aufgeklappt und sie hält für einen Moment den Atem an, so lange, bis sie sich ganz sicher ist, dass sowohl sie, als auch ihr Gegenüber wohlauf sind.
Davids Anspannung löst sich, als seine Tochter langsam auf ihn zugekrabbelt kommt, wie ein scheues Reh aus einem Wald.
"Na schau, keine Angst, das ist doch gar nicht so schlimm", lächelt er, spürbar erleichtert und reicht ihr die Schachtel.
Tatsächlich befinden sich weder Drähte, noch Dynamit darin. Stattdessen rieselt ein wenig Sand über ihre Finger. Die Schachtel ist voll von allen möglichen Dingen, die ans Meer erinnern. Muscheln, getrocknete Algenstränge und ein kleiner Knochen, den sie nicht zuordnen kann, sind auf einer kleinen Fläche aus weißem Sand ausgelegt.
Fasziniert dreht sie die Schalen in ihrer Hand.
"Das ist schön", sagt sie und David nickt abwesend.
"Das Staubsaugen kannst du übernehmen." Er deutet grinsend auf den Teppich, der bereits von glitzernden Körnern bedeckt ist. Spielerisch knufft sie ihn in die Seite.
David steht auf und geht aus dem Zimmer. "Ich muss langsam anfangen zu arbeiten, sag Bescheid, wenn irgendetwas ist."
Viola nickt, ohne ihn und seine Worte groß wahrgenommen zu haben.
Was arbeitet David eigentlich?
Sie ist sich sicher, diese Frage schon häufig gestellt zu haben. Sie sitzt oft in seinem Büro auf dem weißen Ledersofa, das gegenüber des gigantischen Wandtatoos steht. Das zeigt die Aussicht aus einem gedruckten Fenster auf ein wunderschönes Schloss aus hellem Stein, das in der Sonne glänzt.
Jedes Mal stellt Viola sich vor, wie es wohl wäre, darin zu leben. David meint, sie würde sich vermutlich ständig verlaufen und er müsse sie dann den Rest des Tages suchen.
Sie hat den Ton nicht ganz zuordnen können. Sarkasmus und Ernst bei ihrem Vater auseinanderzuhalten kann ziemlich schwer sein.
Viola schließt die Schachtel und stellt sie behutsam auf dem Schreibtisch ab, in dem Wissen, sie später suchen zu müssen.
Dann überquert sie den Flur des Einfamilienhauses und drückt die Klinke zu Davids Büro herunter. Er sitzt vor dem Computer in seinem Drehstuhl, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, hektisch auf seiner Tastatur rumtippend.
Viola setzt sich auf die Couch und lässt ihren Blick schweifen. Sie hört David gerne beim arbeiten zu. Das Klackern der Tasten hat etwas beruhigendes, das ihr hilft, sich zu konzentrieren.
Sie weiß nur nie, worauf.
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