22
Viola
Es ist dieser Augenblick, als sie beschließt, den Rest ihres Lebens kein Fleisch mehr zu essen.
Die Angst, die das unbetäubte Tier haben muss, spürt Viola just in diesem Moment in ihrem ganzen Körper. Der Schmerz in ihrem Gesicht wird unerträglich und die Spitze des Messers glänzt im schummerigen Licht der Barlampe, die auf dem Kühlschrank steht und als Notbeleuchtung dienen soll.
Dann lässt Enesco das Messer fallen. Scheppernd landet es auf den schwarzen Fliesen. Im nächsten Moment liegt er selbst daneben. Augenblicklich springt Viola von der Herdplatte und dreht die Temperatur runter.
Marty steht vor ihr, den nun leeren Messerblock in der Hand. Die übrigen Bestecke liegen auf dem Boden verstreut, Viola hat ihre Aufpralle kaum wahrgenommen. Sie starrt ihn fassungslos an. Dann fällt sie ihm um den Hals.
Es ist weniger die Dankbarkeit, als die vollkommene Erschöpfung in ihr, die sie dazu zwingt.
"Ma Chérie, wir können nicht bleiben, allée!", flüstert Marty und nimmt ihre Hand, um sie über Scherben und Messer aus dem Haus zu geleiten. Ein plötzlicher Schub der Energie ergreift Besitz von ihr, sie lässt von ihm ab und stolpert ihm vorweg auf die Terrasse zu.
Auf dem Küchenboden regt sich etwas. Stöhnend richtet Enesco sich auf, gestützt auf die Theke mit einem Ausdruck der vollkommenen Leere in den Augen, soweit Viola sie in der plötzlichen Dunkelheit erkennen kann.
Die Barlampe über dem Kühlschrank scheint zerbrochen zu sein. Nun scheint der Mond silbrig funkelnd durch die Verglasung und verleiht Enesco ein geisterhaftes Aussehen. Seine Haare sind voller Scherben und glitzern im Licht, wie eine Perücke aus einem Karnevalsshop.
Marty zerrt sie ohne weiteres Zögern hinter sich her. Sie stolpern durch die aufgebrochene Schiebetür, deren Kindersicherung Viola so oft diese Freiheit genommen hat. Doch jetzt rennt sie, sprintet auf Socken die nassen Treppenstufen hinab. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit überkommt sie, als sie das regengetränkte Gras betritt.
Das Foto.
Es fällt ihr wieder ein. Ihre Hand zuckt zu ihrer Hosentasche, wo sie das quadratisch genormte Bild ertastet. Und vor ihr im hellen Beginn der Nacht liegt Hollywood Hills.
In Hollywood Hills ist ein Stück deines Lebens noch nicht verloren.
Sie wirft einen Blick über die Schulter, wo Marty ihr hastig zuwinkt. "Komm schon!", zischt er. Auf der Terrasse ertönen Schritte.
"Baby", hört sie Enesco gedehnt sagen. "Komm raus, komm raus, lass es mich zu Ende bringen." Er spuckt auf den Boden, ein schleimiger Faden aus Blut und Speichel hängt von seiner Lippe und zieht sich über Kinn und Hals.
Viola zuckt bei diesem Anblick zusammen. In ihrem Kopf dreht sich alles und sie kennt dieses Gefühl. Wenn sie sich richtig entsinnt, so passiert das jedes Mal, wenn sie eine Attacke jeglicher Art bekommt.
"Nicht jetzt", murmelt sie und schlägt sich gegen die Schläfe, hoffend, ihr verdrecktes Gehirn so vorübergehend reinwaschen zu können. Es scheint zu funktionieren, zumindest sieht sie wieder klar. Enesco läuft die Treppe runter, seine Schritte bringen die Stufen zum Beben.
Dreck rieselt auf sie hinab, als sie unter die Terrasse kriecht. Sie trifft Martys Blick, der heftig den Kopf schüttelt. Der Kontakt wird jäh durch die Silhouette des weiterhin bewaffneten Mannes gebrochen, der sich über sie beugt.
Dann verschwindet er so schnell, wie er gekommen ist. Verwundert wagt Viola einen Blick aus ihrem notdürftigen Versteck auf der kalten Erde. Enesco bewegt sich schnellen Schrittes auf den Weg hinter dem Haus zu.
Dort, wo noch vor Sekunden Marty stand.
Sollte sie ihm helfen? Vermutlich, doch sie musst das Foto um jeden Preis dorthin bringen, wo die Erinnerungen auf ewig verbleiben. Viola rappelt sich auf und rennt auf die alte Kiefer zu, von der die Strickleiter hängt. Äste und Steine bohren sich in ihre Füße, doch dies ist nicht der Moment, um weinerlich aufzugeben, so wie sie es schlussendlich immer tut.
Sie ergreift die unterste Sprosse und beginnt zu klettern.
Es ist eine einfache Tätigkeit, die sie sich leicht einprägen kann. Es ist einfach und doch verkrampfen sich ihre Finger in der Kälte.
Als sie endlich oben ankommt ist sie vollkommen ausgelaugt. Eilig stopft sie das Foto in die geöffnete Schreibtischschublade und knallt sie zu. Dann verweilt sie einen Moment. An der Wand hängt ein Bild, von dem sie sich sicher ist, es nicht dort angebracht zu haben. Es zeigt Marty, breit lächelnd an einem Strand.
Oder hat sie es doch hergebracht? Aber woher stammt es? Aus dem Paket?
Sie wird unsicher. "Hab ich sogar meine Tätigkeiten in Hollywood Hills vergessen?", zweifelt sie an sich. Dann ertönt ein Schuss und ein heiserer Schrei. Erschrocken fährt sie hoch.
Keine Zeit für Selbstzweifel. Eilig macht sie sich auf den Rückweg. Sie rennt zur Straße, wo der Mondschein sich auf dem nassen Asphalt spiegelt. Von Marty und Enesco keine Spur.
Ein weiterer Schuss löst sich in den kalten Abendhimmel. Zumindest ist es das, was Viola hofft. Sie hechtet in die Richtung, aus der die Laute gekommen sind. Die Straße entlang, bis zur Kreuzung, durch die verlassene Einkaufsgasse, wo die eingeschlagenen Fensterscheiben und zertretenen Türen bedrohlich ihre Augen aufreißen, ihr folgen, bei jedem Schritt.
Wohin wollte sie eigentlich so unbedacht? Sie bleibt stehen und sieht sich um. Ein kalter Windstoß jagt ihr einen Schauer über den Rücken.
"Vioooola", flötet eine Stimme. Erschrocken fährt sie herum. Hinter dem leeren Fensterrahmen eines Friseurgeschäfts steht Enesco, entlädt seine Pistole und drückt ab.
Geistesgegenwärtig wirft sie sich auf den Boden und hört hinter sich das Ächzen eines Baumes, an dem der Schuss abprallt. Enesco seufzt. Den Moment der Ablenkung nutzt sie sogleich und rennt weiter. Die Treppen am Straßenrand nach unten, auf den kleinen Friedhof am Wald.
Bäuchlings rutscht sie auf den schmalen Trampelpfad am Fuß der Stufen zu. Dort angekommen rappelt sie sich wieder auf und rennt hinter die Bäume. Gleich darauf hört sie zum vierten Mal an diesem Abend die Schritte auf den Stufen näher kommen. Rückwärts weicht sie auf das offene Feld zurück.
Die Grabsteine stehen schief im Boden, moos - und unkrautbewachsen, ungeliebt zurückgelassen, von denen, die den Tod vergessen wollten. Schwer atmend, das höllische Seitenstechen ignorierend, hastet Viola durch die Reihengräber, bis sie am Ende des Schotterweges, auf dem sie ins Schlittern gerät, den rettenden Eingang zum Kolumbarium des Friedhofes erblickt, dessen eingestaubte Wände der einzige Schutz sind, den sie findet.
Sie zerrt die klemmende Tür hinter sich zu, gerade noch rechtzeitig, denn Enesco hat sie bereits entdeckt.
"Ach Viola", seufzt er, seine Stimme durch die Tür dumpf verzerrt. "Warum sträubst du dich nur so, ich hab doch auch bald keine Lust mehr."
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