19
Viola // 16:00
Seit einer Weile sitzt sie wieder in ihrem Zimmer und sieht aus dem Fenster. Die Sonne vom Vormittag hat sich zurückgezogen, der Garten liegt in einem trüben braun vor ihr. Ungeduldig wippt ihr Knie auf und ab.
Sie hat das Gefühl, etwas Großes werde eintreten, doch es was, das kann sie sich nicht ausmalen.
"Cherie, du solltest schlafen!", sagt Marty, der mit einer dampfenden Tasse den Raum betreten hat und diese nun auf dem Fensterbrett abstellt.
"Hab ich doch schon", mault Viola und greift nach der Tasse. Marty setzt sich auf das unordentliche Bett und lässt seinen Blick über die Wände schweifen. Sie vollgeklebt mit Zeitungsartikeln, Postern und bunten Lichterketten, deren Lampions ein wenig flackern.
"Du warst wach, ich hab es genau gesehen." Er verschränkt die Arme und sieht sie mahnend an.
"Du hast mir gar nichts zu sagen, was David sagt ist richtig und du bist nicht David." Sie zeigt auf eine kleine Korkwand neben der Tür, an der mit Stecknadeln eine Liste mit Regeln angeheftet wurde.
"David ist nicht hier, also bin ich richtig."
Viola schüttelt den Kopf und sieht wieder aus dem Fenster.
"Ich kann aber nicht schlafen", murmelt sie nach einer kurzen Pause. Marty runzelt die Stirn.
"Mais, pourquoi pas?", fragt er. "Warum?"
"Immer, wenn ich schlafe, sehe ich einen fremden Mann ganz in schwarz. Er steht immer eine Weile vor dem Fenster, dann klettert er nach draußen und verschwindet...er macht mir Angst."
Schuldbewusst sieht sie auf. Marty streicht ihr leicht über den Rücken. "Das ist nicht schlimm, oui? Ich kann aufpassen."
Sie schüttelt den Kopf. "Das musst du nicht, ich bin nicht müde."
"Aber, du hast gesagt -"
"Gar nicht", protestiert Viola. Dann zuckt sie zusammen. Und nicht nur sie, auch Marty fährt hoch.
Die Dielen im Flur bewegen sich. Die Schritte sind deutlich zu hören, bedacht werden sie gesetzt, einer nach dem anderen. Fast schon schleichend nähern sie sich.
Vorsichtig stellt Viola die Tasse neben sich ab. "Wer ist das?", flüstert sie. Marty antwortet nicht. Er starrt nur mit angsterfülltem Blick auf die Tür.
Im nächsten Moment verschmälert sich der kleine Streifen Licht, der unter ihr hindurchfällt. Die Klinke wird nach unten gedrückt und ein Mann tritt ein. Erschrocken fährt Viola zurück.
Sein Gesicht ist blutverschmiert, bräunliche Krusten haben sich an seiner Stirn und den Schläfen gebildet. In seinen Augen liegt etwas Wahnsinniges und doch Gelassenes. Seine schweren Stiefel hinterlassen Abdrücke auf dem Holz.
Und er richtet eine Waffe auf sie. Viola schüttelt den Kopf, als könnte sie die Situation einfach aus ihrem Bewusstsein wirbeln.
Sein dichter Mantel umspielt die Beine des Mannes bei jedem Schritt, den er näher auf sie zukommt. "Ganz ruhig, Süße", säuselt er. Viola nickt langsam.
"Oh nein, nicht du, ich meine dich!" Er deutet mit seiner freuen Hand auf Marty, der sich langsam erhoben hat. "Setzen!"
Er tut wie ihm geheißen.
"So", beginnt er. "Ich hätte nur gern etwas Kohle von euch, paar Wertgegenstände vielleicht, dann bin ich auch gleich wieder weg. Ich meine...du wirst dich sowieso nicht an mich erinnern, nicht wahr?"
Er grinst freudlos. Violas Augen weiten sich. "Mörder", flüstert sie.
"Was? Oh nein, ich bringe dich nicht um kleines, ich will nur dein GELD!" Das letzte Wort brüllt der Mann.
"Wer sind Sie?", haucht Viola.
"Oh, Verzeihung habe ganz vergessen, dass man sich bei Überfällen ja immer vorstellt! Richtig, mein Name ist Enesco Lamarre, darf ich jetzt wohl meinen Arbeit tätigen, holde Maid?"
Viola erschrickt. Alles in ihr dreht sich, wie in einem Karussell. Bilder tauchen vor ihr auf. Bilder von einem Mann mit blonden schulterlangen Haaren und einem langen Mantel. Einem Mann, der auf ihrer Fensterbank sitzt und sich im nächsten Moment rückwärts fallen lässt.
"Mörder!"
Das Wort rauscht durch ihre Sinne und ergreift Besitz von ihr. Es knallt, Putz rieselt von der Decke und Enesco richtet seine Pistole wieder auf sie. "Sagt mal, spreche ich irgendwie undeutlich? Los jetzt! Macht schon!"
Marty steht auf und geht zu Violas Schreibtisch. Sie weiß, dass er sich nicht auskennt, weniger als sie. Er öffnet eine Schublade und kramt darin herum. Er findet Violas Laptop.
"Na das ist doch schonmal ein Anfang, aber gehts vielleicht größer?"
Da springt Viola auf. "Nein!", schreit sie. Marty kneift die Augen zusammen. "Das ist nicht der Moment", zischt er.
"Nein!", schreit Viola wieder. "Ich kenne ihn! Ich kenne dich! Du..."
Sie zögert, hat den Faden verloren, wie sooft. Aber Enesco lässt die Pistole sinken und starrt sie an. Es liegt etwas Ungewisses in seinem Blick.
"Meine Mutter...", sagt sie.
Er neigt seinen Kopf und beißt sich auf die Unterlippe, als wäre nicht schon genug Blut in seinem Gesicht.
"Oh ja", raunt er schließlich. "Ich wusste es..."
Viola kneift die Augen zusammen. Marty blickt verwirrt vom einen zur anderen. "Was ist hier los?"
Viola schnaubt, dann zeigt sie auf den bewaffneten blutverschmierten Mann. "Er hat meine Mutter umgebracht!"
******
2 Jahre zuvor
Sie sitzt in ihrem Zimmer und lauscht den Geräuschen des Abends. Die Spätsommervögel zwitschern und piepen, ein Rauschen geht durch die Bäume und ein kleines Gewitter kündigt sich durch sanftes Donnern in der Ferne an.
Vor ihr auf dem Schreibtisch liegen ihre Hausaufgaben, an denen sie seit ein paar Stunden sitzt. Denn sie schiebt immer alles auf. Es ist Sonntag, morgen ist Projekttag in der Schule. Viola freut sich darauf, besonders weil sie mit ihren besten Freunden in einer Gruppe arbeiten darf.
Wenn auch stressig, so ist dieser Abend perfekt.
Bis jetzt.
Dann hört sie laute Stimmen, die von unten zu ihr herauf dringen. Ihr Großvater scheint sich mit jemandem zu streiten. Die Tür wird aufgerissen, ihre Mutter stürmt herein und schaltet das Licht aus.
Verwundert springt Viola auf. "Mama, was-"
Ihre Mutter bedeutet ihr, zu schweigen. Sie zieht sie auf das Bett und hält sie fest in ihren Armen. Aus dem Erdgeschoss tönen Gerumpel und Gefluche. Und Viola kennt nur eine der Stimmen.
Schritte erklingen auf der Treppe. Die eine Treppenstufe, die Viola immer versucht, zu überspringen, quietscht. Die Tür zum Büro nebenan wird aufgestoßen. Es dauert eine Weile, dann geht auch ihre eigene auf und ein Lichtkegel aus dem Flur erhellt das Zimmer.
Der junge Mann der vor ihnen steht sieht heillos überfordert aus. In seiner Hand hält er eine Pistole, die er mit zittrigen Händen auf sie richtet. Er trägt einen langen Mantel, einen Rucksack auf dem Rücken und schwere Schaftstiefel.
Ihre Mutter wirft sich vor Viola. Und plötzlich beginnt ihre Sicht sich zu verlangsamen, alles passiert in einer anderen Welt, die Viola durch eine dicke Milchglasscheibe beobachten kann. Den Knall nimmt sie nur dumpf wahr. In Zeitlupe sinkt ihre Mutter zu Boden.
Schockiert sitzt Viola da, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sollte es von diesem Tag an nie wieder sein.
Der Mann steigt auf ihr Fensterbrett und wirft ihr einen letzten Blick zu. Dann stürzt er in die plötzliche Düsternis des Abends.
******
Enesco schmunzelt ein wenig. Marty starrt ihn fassungslos an.
"Genug geredet", sagt der junge Mann schließlich und entsichert die Waffe. "Ich bin auch gleich wieder weg."
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