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Nachdem vor vier Jahren das Haus seiner Kindheit gemeinsam mit seinen Zieheltern zu Asche zerfallen war, hatte sich Jacob nach London aufgemacht, wo er sich ein besseres Leben und eine gute Arbeit erhoffte.
Zuerst hatte es auch wirklich so ausgesehen, er hatte als Kutscher für einen der besseren Bürger Londons gearbeitet, der ihn auch recht gut bezahlte, da Jacob zum einen die Pferde lenkte wie kein anderer, und zum anderen sich auch beim Reparieren der Wagen geschickt anstellte.
Aber leider war Fortuna ihm nicht wohlgesonnen gewesen.
Schon wenige Monate nach Jacobs Ankunft in der stinkenden Metropole Englands verstarb sein Arbeitgeber bei einem Reitunfall, für den man Jacob verantwortlich machte, der daraufhin fliehen musste und plötzlich wieder ohne ein Dach über dem Kopf dastand.
Seither hatte er sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser gehalten, ein Geschäft, worauf er sich erstaunlicherweise exzellent verstand. Die wenigsten Leute bemerkten es, wenn er ihnen ihre Besitztümer entwendete, sie sahen durch ihn hindurch, für sie war er geradezu unsichtbar.
Diese Fähigkeit machte er sich zunutze, und so war er zwar obdachlos, besaß aber ein Pferd und seiner Garderobe war auch nicht zu verachten. Das einzige, was ihn bedrückte, war die stetige Einsamkeit, der er ausgesetzt war.
In seiner Kindheit hatte er seine Eltern gehabt, auf die er sich immer verlassen konnte, doch in dieser großen Stadt hatte er keine Freunde. Gewiss hatte er versucht, sich mit dem einen oder anderen anzufreunden, doch die meisten Leute mieden ihn und so war sein einziger Begleiter sein Schatten. Jacob konnte nur raten, womit diese Angst, die andere vor ihm hatten, zusammenhing, aber er hatte eine Vermutung.
Es musste sein blindes Auge sein, das ihm von einer Krähe verpasst worden war.
Aus irgendeinem Grund tauchten immer dort Krähen auf, wo Jacob ein Unglück zustieß: beim ersten Mal war ihm das Auge zerkratzt worden, beim zweiten Mal brach sich sein Pferd im Ritt das Vorderbein, beim dritten Mal verbrannte sein Elternhaus, und als der Mann starb, für den er gearbeitet hatte, hatte ihn den ganzen Tag lang eine übergroße, pechschwarze Krähe verfolgt.
Und so war ihm verständlicherweise unbehaglich zumute, als ihn, während er die Börse durchsah, die er vor wenigen Minuten einer hübschen Arbeiterin aus der Waffenfabrik am Hafen geklaut hatte, vom Dach eines Schuppens ein großer, schwarzer Vogel beobachtete.
Spärlich war der Inhalt des Beutels nicht gerade. Würde er sparsam damit umgehen, könnte Jacob mit dem Geld anderthalb Monate über die Runden kommen.
Er grinste in sich hinein, stur die Krähe ignorierend, und stand auf, um sich wieder an die Arbeit oder zum Feierabend in irgendeine Kneipe zu begeben. Aber eine gebeugte Gestalt versperrte den Zugang zur Hauptstraße, und Jacob wollte die Frau, die in einen bodenlangen Umhang gehüllt war, zuerst zur Seite schieben, doch dann sagte sie etwas, was ihn stutzen ließ: „Schöner Abend, was, Jacob?"
Er blickte zu ihr hinunter, aber alles, was er unter dem Schatten der Kapuze erkennen konnte, waren strahlend grüne Augen. „Es gehört sich ganz und gar nicht, junge Damen zu bestehlen!"
Ertappt schielte Jacob zu ihr hinab. Ein unangenehmes Gefühl stieg in ihm hoch, er wusste, dass die Schwarzhaarige, die er bestohlen hatte, einen Revolver bei sich trug, und hatte sie schon mal beim Schießen gesehen. Ihr Können hätte die Gendarmerie in Verlegenheit bringen können.
Er wollte etwas erwidern, doch ein Kloß steckte in seinem Hals. Bedächtig hoben sich die Hände seines Gegenübers und zogen die Kapuze zurück. Alle Anspannung fiel von Jacob ab, als er erkannte, dass die Frau, mit der er sprach, eine andere war. Sie hatte blondes Haar und war deutlich älter, sie lächelte verschmitzt.
Obwohl er nicht mehr in akuter Gefahr schwebte, zum Dieb degradiert zu werden, blieb Jacob immer noch aufmerksam. Immerhin wusste die Frau, was er getan hatte, und wieder vor der Polizei, so unterbesetzt und unfähig diese auch sein mochte, auf der Flucht zu sein, darauf hatte Jacob so gar keine Lust. Im Kopf ging er alle Möglichkeiten durch die er hatte, wenn er wegrannte, würde er wochenlang nach der Frau Ausschau halten müssen, sie niederzuschlagen brächte nur die gleichen Scherereien mit sich.
Möglicherweise konnte er sie bestechen? Ohne den Blick von ihr zu lösen, tastete er nach dem Geldbeutel, den er in die rechte Tasche seines Ledermantels gesteckt hatte.
„ Ich will kein Geld, du sollst mir nur kurz zuhören", zischte die Blondine mit einer schroffen Stimme, die viel zu alt für sie klang.
Jacob antwortete nicht, denn obwohl nichts Unheimliches am Aussehen der Frau war, schrie alles in ihm danach, kehrt zu machen und soweit wegzurennen wie nur möglich.
Die Frau trat noch näher zu ihm, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und redete noch leiser als zuvor: „Du hast keine Arbeit, du hast keine Bleibe. Deine Sicherheit hängt nur davon ab, ob ich jetzt losschreie. Willst du, dass sich das ändert? Hör mir zu!" Die letzten Dinge hatte sie so gebieterisch gesagt, dass Jacob nur in der Lage war eingeschüchtert zu nicken. „Ich kann dir geben was du dir wünschst, einen Ort wo du hingehörst, wo man dich akzeptiert, wo du Macht hast. Du bist zu Größerem bestimmt." Der gebieterische Tonfall in ihrer Stimme wurde noch stärker. „Du bist dazu bestimmt, mein Nachfolger zu werden. Du wirst über Leben und Tod herrschen, das mächtigste Wesen auf dieser Welt werden, du hast die Möglichkeit, meinen Platz in Helheim einzunehmen!"
Jacob fühlte Panik in sich, vielleicht war diese Frau einfach wahnsinnig, aber ihre Stimme, ihr Ausdruck, ihre ganze Ausstrahlung belehrte ihn eines Besseren. Alles in ihm wollte weg, nur weit weg von ihr. Wer war dieses Weib nur? Sagte sie womöglich die Wahrheit?
„Ich weiß, was in dir vorgeht. Und ja, ich bin die Herrscherin über die Unterwelt, über die Hölle und das Paradies, ich bin Hel. Vergiss alles, was dir gelehrt worden ist. Es gibt keinen Gott. Es gibt nur mich. Ich bin das mächtigste Wesen auf der ganzen Welt und vor mir zu fliehen würde dir gar nichts bringen."
Sie stellte sich wieder gerade vor ihm hin, aber nun sah sie anders aus. Die eine Hälfte ihres Gesichts hatte sich schwarz gefärbt und das blinde Auge jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Panik überkam ihn, seine Füße setzten sich endlich in Bewegung und sprinteten los.
Aber er kam nicht weit. Rauchschwaden stiegen vor ihm auf, fingen an, Form anzunehmen. Er hörte Schreie. Das Bild wurde klarer und er konnte seine Eltern sehen. Sie wandten sich in einem Flammenmeer und schienen endlose Schmerzen aushalten zu müssen.
Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte die blonde Frau, Hel, seinen Arm gepackt und zischte: „Du siehst meine Macht, willst du deinen Eltern diese Qualen ersparen? Dann mach, was ich dir sage und werde mein Nachfolger! Ich verspreche, ich werde ihnen jegliche weitere Qual ersparen, wenn du einwilligst. Lerne die Macht in dir zu beherrschen, bevor es die andere tut."
Jacob war erstarrt, er konnte sich nur auf das Bild seiner Eltern konzentrieren. „Du wirst sie freilassen, wenn ich einwillige?"
„Ja hast du mir etwa nicht zugehört?", erwiderte Hel etwas genervt. Sie machte eine kurze Handbewegung und Jacobs Eltern lösten sich in kleine Rauchfäden auf, die mit dem Nebel, der wie so oft vom Fluss her angekrochen kam und ganz London einhüllte, verschmolzen.
Jacob blinzelte, als wachte er eben aus einem Traum auf, dann wandte er sich an Hel, deren Mundwinkel sich triumphierend kräuselten. „Wer ist die andere?", fragte er. „Du hast gesagt, ich soll lernen, die Macht in mir zu beherrschen, bevor die andere es tut. Wer ist das?"
„Ihr Name ist Evie. Die, der du vorhin das Portemonnaie gestohlen hast."
Jacob versuchte ich nicht anmerken zu lassen, was er davon hielt, aber er hätte sich jemand weniger Schroffen als Konkurrenten gewünscht, hätte er eine Wahl gehabt. „Hast du es ihr schon gesagt?"
„Was denn?" Die Frau lächelte, sie wusste genau, was er meinte.
„ Das von wegen Herrschaft über die Hölle."
„Ich bin nicht dazu gekommen. Ich habe sie vorhin in einer Bar darauf angesprochen, aber sie wollte mir nicht zuhören. Zu dumm. Ihr hättet nicht unbedingt Konkurrenten sein müssen, ich denke, dass ich ein gutes Königspaar abgegeben hättet." Hel musste sich das Lächeln verkneifen, als sie sah, wie Jacobs Augen für einen Moment aufleuchteten.
„Also, ich würde sagen, wir treffen uns in zwei Tagen", schloss Hel ab. „Gleicher Ort, um Mitternacht?"
Als Jacob die Stirn runzelte, kicherte sie nur. „Ein bisschen muss ich doch das Klischee des Bösen erfüllen."
Somit vereinbarten sie ihr nächstes Treffen und Hel verschwand, ohne ein Geräusch zu machen, im Nebel. Nach ein paar Minuten hatte auch Jacob sich gefasst und richtete seine Schritte Richtung Innenstadt, wo er sich ein Nachtlager suchen würde.
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