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Helheim hatte sich all die Jahre, nein, die Jahrtausende nicht verändert. Die meterhohe Pforte, an der die Menschen mit angsterfüllten Gesichtern zu Hel kamen, erfüllt mit Angst vor dem Tod und ihrer anstehenden Prüfung, der Hel sie stets unterzog, stütze das meterdicke Gestein immer noch genauso gut wie früher.
Was würde mit ihnen geschehen? Hatten sie genug Gutes getan, um in die reichen, gut geschmückten Hallen von Niflheim zu kommen, oder mussten sie ihre Verbrechen ewiglich in Rastrand absitzen, wo Hel dem schlimmsten Abschaum der Menschheit grausamste Höllenqualen bereitete?
Nur sie, Hel, hatte sich verändert. Nach Ragnarök waren ihre Hallen leer gewesen, kaum jemand kam in ihr Reich für eine lange Zeit. Doch die Zeiten änderten sich und vor allem die neuen Menschen fingen wieder an, wie die Fliegen zu sterben. Die Zeit ohne Qual war vorbei auf der neuen Erde.
Die Menschen und Asen hatten es sich zu gut gehen lassen. Sie waren alt, fett und faul geworden und hatten den Preis für ihre Dekadenz zahlen müssen. Ihre Nachfahren waren ungebildet und wussten die Äcker und Werkzeuge nicht mehr zu schätzen oder gar zu nutzen. Diese Menschen waren ungepflegt, sie stanken, und als Hel die Seelen prüfte, sah sie ein kurzes, anstrengendes Leben voller Arbeit.
Die Jahre verstrichen und die Menschen schienen sich zu entwickeln, sie bauten und arbeiteten, aber ihr Leben blieb klein und minderwertig. Hel erkannte, dass die Zeiten der Götter, ob Wanen oder Asen, vorbei waren. Ab und zu starb ein Sprössling der nach Ragnarök übriggebliebenen Asen.
Doch viele hatten ihre wahre Herkunft vergessen und ihr Blut mit dem der Menschen vermischt. Die, die noch die alte Kultur pflegten hatten sich selber einen neuen Namen gegeben: Kinder Yggdrasils.
Denn der einst so mächtige Baum war nach Ragnarök, dem Weltuntergang, in abertausend Splitter zerborsten, kleine Setzlinge hatten sich auf der neuen Welt verteilt, letzte heilige Stätten. In ihrer Nähe konnte man noch schwach die ehemalige Macht Yggdrasils erahnen und selbst Menschen, die kein bisschen Empfindlichkeit für die Magie der alten Welt hatten, spürten die besonderen Schwingungen und bauten in der Nähe der Setzlinge ihre Kultstätten.
Über die Jahre wurden aus den Setzlingen alte, knorrige Bäume und Hel sah mit an wie Kulturen kamen und gingen, sie hatte selten Gesprächspartner, viele der Menschen oder der Kinder Yggdrasils hatten sich neuen Göttern zugewandt und konnten mit Hel nichts anfangen. Nur ab und zu erinnerte sich ein Wesen an die alten Geschichten, die seine Mutter ihm als Kind erzählt hatte und in denen Hel vorkam. Für diese unterbrach Hel ihre Arbeit, Seelen zu prüfen, und die als schlecht bewerteten zu quälen.
Und mit der Zeit wurde die Menschheit grausamer. Sie schlachteten sich gegenseitig ab und zum ersten Mal seit hunderten von Jahren wünschte sich Hel die Asen zurück, um die Menschen wieder auf ihren rechten Platz zu verweisen. Mittlerweile waren ihr die neue Welt und ihre Bewohner fremd geworden, sie sah zwar, wie die Menschen begannen, Fabriken und Dampflokomotiven zu bauen, und sie verstand, wie diese Erfindungen funktionierten, aber was die Menschen bewegte, davon hatte sie keine Vorstellung.
Alles, was ihren Tag versüßen konnte, war, die Seelen der Schlechten zu bestrafen, es gab ihr Energie. Doch diese Energie war nicht genug. Hel hatte zwei Äpfel der Idun mit sich vor der Zerstörung retten können, aber diese waren aufgebraucht, und Hel wurde alt. Mit der Macht, die sie den Seelen entnahm, indem sie sie zerstörte, erhielt sie sich am Leben, aber ihr war bewusst, dass diese Methode ihr Überleben nicht für immer sichern würde.
Heute war einer dieser Tage, an denen sie sich besonders schwach und alt fühlte. Sie saß auf ihrem Thron, der in der Mitte einer Gabelung stand. Ein Weg führte nach Rastrand, der andere in die reich geschmückten Hallen Niflheims.
Der Thron bestand aus Eisen, das trotz seines enormen Alters noch im schwachen Licht der Fackeln wie frisch poliert glänzte, gefertigt mit dem Geschick der Zwerge. Den Thron bedeckte ein grellweißes Fell, auf dem Hel kerzengerade saß.
Man konnte viel von Hel behaupten, aber eines stand fest, ihre Erscheinung war respekteinflößend. Sie war groß und hager, ihr Alter hatte ihre Gestalt nur ein wenig gebeugt und ihr Gesicht wies auch keine Spuren der Zeit auf, zumindest die linke Hälfte ihres Gesichts. Denn Hels Herkunft äußerte sich in einer ganz besonderen Weise.
Die linke Hälfte ihres Körpers hatte eine schöne, edle Blässe, sie hatte ein smaragdgrünes, ausdrucksstarkes Auge und wallendes blondes Haar.
Die rechte Hälfte ihres Körpers hingegen war furchteinflößend. Ihre Haut war blauschwarz, wie die einer verwesenden Leiche, ihre Gesichtszüge scharf geschnitten und von pechschwarzem Haar umrahmt.
Das unheimlichste jedoch war ihr rechtes Auge. Es war milchig weiß, wie das Auge einer Blinden, was aber nicht bedeutete, dass sie damit nicht sehen konnte. Vielmehr sah sie durch dieses Auge die Seelen der Lebewesen, egal ob sie bei ihr in der Unterwelt oder oben in der irdischen Welt waren.
Oh ja, Hels Aussehen war der Königin der Unterwelt würdig und heischte den Ankommenden stets gebührenden Respekt ein.
So auch dem Paar, das hintereinander eben die karge Halle betrat. Verwirrung stand in ihren Gesichtern, und als sie Hel erblickten, rückten sie näher zusammen.
Hel konnte das leise Beten der Frau noch am anderen Ende des Raums vernehmen und seufzte verächtlich. Der ganze schwachsinnige Glaube an all diese neuen Götter raubte ihr noch den letzten Nerv.
„Tretet vor!", rief sie den Neuankömmlingen zu, die unerträglich langsam auf sie zukamen. Während sie sich näherten, prüfte sie sie schon. Sie hatte keine Lust, mehr Zeit als nötig mit diesen stumpfsinnigen Bauern zu verplempern. Doch dann entdeckte sie etwas in ihren Gedanken, was sie stocken ließ.
Einen jungen Mann. Äußerlich war nichts Besonderes an ihm. Er war groß und blond, die körperliche Arbeit, die er sein ganzes Leben lang getätigt hatte, war ihm anzusehen.
Das einzig Auffallende war sein milchiges, linkes Auge.
Etwas in ihr regte sich, erinnerte sich an längst Vergangenes, eine Unterhaltung mit einem Kind Yggdrasils, eines, das die alten Kulturen noch pflegte. Denn als sie dieses nach Rastrand stecken wollte, bot es ihr einen Handel an: Informationen gegen das Paradies. Erst hatte Hel es ausgelacht, war aber zu neugierig gewesen um es gehen zu lassen, vor allem, nachdem das Kind anmerkte, dass ihre Zeit langsam, aber sicher vorbei wäre.
So erfuhr sie das erste Mal von ihren Nachfolgern. Ein Mädchen und ein Junge, mit genug Macht, um den Thron in Helheim zu übernehmen. Doch sollte sie beide zur gleichen Zeit töten, würden ihre Kräfte auf Hel übergehen. Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben.
Eine kleine Bewegung mit ihrer Hand reichte, um ihre Magie zu benutzen, dennoch spürte sie, wie viel Kraft sie diese Geste kostete. Aber sie sorgte sich nicht mehr um ihre Kräfte, bald würde sie stärker sein als je zuvor. Auf ihre Handbewegung hin loderten um das Ehepaar Flammen auf, vorerst sollte das Paar ihr Geheimnis bleiben, sie verbannte die beiden in einen finsteren Winkel Rastrands. Hel stand auf, ging an ihnen vorbei und besuchte zum ersten Mal seit einer Ewigkeit die Erde.
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