Kapitel 26: Den Schritt auf die Glätte
Geweckt werde ich von einer Bewegung neben mir. Dort, wo Angels Kopf die ganze Nacht lang gelegen hatte, wird es kühl und ich kann fühlen, wie er sich aufsetzt. Ich lasse noch immer müde meine Augen geschlossen, ganz in der Hoffnung weiterschlafen zu können.
Tatsächlich werde ich nicht absichtlich von Angel geweckt, welcher den Raum verlässt - Einschlafen kann ich dennoch nicht mehr. Ich wälze mich ein wenig in seinem schön warmen Bett hin und her, öffne nach einiger Zeit meiner misserfolgten Schlafversuche dann aber doch die Augen. Es ist schön, wenn alles um einen herum hell und ordentlich ist, wenn man aufwacht. In mir hinterlässt es ein ganz anderes Gefühl, als in meinem eigenen Bett aufzuwachen, das so viel härter ist, als dieses hier. Noch immer steht das Wasser auf dem kleinen Nachttischersatz und ich nehme einen kleinen Schluck. Wenn ich ganz leise bin, kann ich Stimmen von draußen wahrnehmen, verstehen jedoch kann ich sie nicht.
Ich drehe mich noch einmal auf die Seite und döse vor mich hin, bis Angel mit dem Ellenbogen die Tür aufschiebt und mit zwei gut befüllten Tellern zurückkehrt. „Bist du wach?", flüstert er, während er alles zu den Getränken auf den kleinen Tisch stellt.
„Mhm, mehr oder weniger ...", murre ich und muss grinsen, als ich einen Blick auf unser Frühstück werfe. Da hat es aber einer gut gemeint - das kann nur vom Ömchen stammen, was mir Angel auch bestätigt: „Großmama meinte, dass du sicher Hunger hast, also ... Es ist viel, du musst nicht alles essen." Auf jedem der Teller sind zwei frische Aufbackbrötchen und diverse Beläge daneben, mit denen wir uns alles zurechtmachen können. „Ihr seid zu lieb", zaubern mir die beiden mit ihrer herzlichen Art doch jedes mal wieder ein Lächeln in mein Gesicht. „Hast du heute schon was vor?", fragt mich der Blinde, während er neben mir Platz nimmt und sich das Brötchen aufschneidet wie jeder Sehende auch. „Ach, eigentlich nicht wirklich."
„Gut, ich will auf's Eis, kommst du mit?" - „Gerne."
„Ich meine mit auf das Eis?" Wie er hartnäckig bleibt. Dabei fühle ich mich schon unwohl dabei, überhaupt die Schlittschuhe anzulegen. „Ich hab' dir gesagt, wie ich mich dabei fühle."
„Ach komm, mir zuliebe. Außerdem passe ich ja auf dich auf, da musst du dir keine Sorgen machen", beginnt er zu grinsen und ich kann im förmlich ansehen, wie er im Kopf bereits auf dem Eis herumschlittert. Verdammt, wie soll man da Nein sagen? „Wir gucken mal, ja?"
Noch mit vollem Mund fängt er an zu reden und ich verstehe zwar kein einziges Wort, aber dass er sich ziemlich darüber freut, würde sogar ein Blinder bemerken - Oh, Wortspiel!
So kommt es, dass das Angel und ich zusammen noch vor den Öffnungszeiten zur Bahn schlendern. Das alte Ömchen bleibt heute mal Zuhause, ich bin ja da, um auf Angel aufzupassen. Mit seinem Blindenstock kommt er ziemlich gut alleine zurecht, aber ich nehme ihm trotzdem den Schuhkoffer ab und ihn selbst an der Hand, da er mir sonst zu langsam ist. „Da hinten ist sie, ist keiner da", verkünde ich und spüre kurz seinen Händedruck.
„Also, welche Schuhgröße hast du?", fragt er mich, als ich seinen Koffer auf die Bank stelle und er sich daneben setzt. „Der Verleih hat einiges!"
„Der hat aber doch noch gar nicht offen. Da ist niemand."
„Na und? Per Zufall weiß ich aber, wo die Schlüssel sind ..."
Verwundert blicke ich zu ihm. Ich habe schon gehofft, dass ich doch nicht mitlaufen muss, aber er scheint seinen Plan wirklich durchziehen zu wollen.
„Schließlich bin ich hier ja so etwas wie ein Geist-Stammkunde!" Grinsend zieht Angel einen kleinen Schlüssel hervor und drückt ihn mir in die Hand. „Den habe ich eigentlich nur bekommen, damit ich meine Tasche und so was da reinlegen kann, aber heute leihen wir uns mal kostenlos was." - „Dürfen wir das überhaupt?", muss ich lachen und will mich bereits wegdrehen, da legt der den Zeigefinger auf seine Lippen. „Psst!" Du kleiner Rebell.
Der Schlüssel passt wirklich und überall stehen die ganzen Leihschuhe, von denen ich mir die besten aussuchen kann. Dennoch habe ich dabei ein mulmiges Gefühl, schließlich ist es das erste Mal seit Jahren, dass ich wieder so etwas mache. Ich werde mich einfach die ganze Zeit am Rand festhalten, da wird schon nichts passieren. „Ich dachte immer, du gehst hier heimlich auf das Eis."
„Nee, wir bezahlen das schon, nur eben nicht jeden Tag aufs Neue." Er hat seine schönen Schuhe bereits an - die, die ich mir ausgesucht habe, kommen nicht annährend daran. „Danke, dass du dich für mich überwindest, das freut mich echt total!"
Dennoch bin ich mir ziemlich unsicher und auch das Gefühl, auf ihnen zu stehen ist ziemlich seltsam. „Also, komm." Er ist schon ganz ungeduldig, so kenne ich ihn ja gar nicht. Na ja, wenn es um das Eislaufen geht kann er wohl nicht anders.
Angel macht als erstes den Schritt auf die Glätte und für mich sieht es so aus, als gäbe es für ihn keinen Unterschied zwischen dem glatten Eis und ganz normalen Boden. Ich selbst bleibe am Eingang der Bahn stehen und kralle mich bereits am Geländer fest, noch bevor ich den Fuß überhaupt anhebe. „Das schaffst du schon, so schlimm ist es gar nicht", versucht der hellblonde Junge mir Mut zuzusprechen, doch gerade er hat gut reden! Kaum berühre ich das Eis, habe ich das Gefühl auszurutschen und packe mich noch fester am Geländer, bevor ich es endlich schaffe mit beiden Beinen den fremdartigen Untergrund zu stehen. „Okay ... Ich bin drauf." Dabei ziehe ich scharf die Luft ein und es kommt mir unmöglich vor, mich vom Geländer zu trennen.
„Ich bin echt stolz auf dich." Angel wirkt so glücklich, so ehrlich. Für ihn ist es das normalste der Welt, so wie es für mich das Schreiben mit meiner rechten Hand ist - und doch scheint er das Gesagte wirklich so zu meinen. „Schaffst du es, mir deine Hände zu geben?" Er streckt seine in meine Richtung, doch ich kann das Geländer einfach nicht loslassen. Ich stehe total unsicher und ich muss zugeben, dass ich Angst habe. Es mag dämlich klingen, schließlich ist Schlittschuhlaufen echt beliebt bei den Leuten, aber ich traue mich wirklich nicht. Schon alleine, dass ich hier stehe hat mich eine Menge Mut gekostet. „Auf keinen Fall."
Er kommt näher zu mir, fährt meinen Arm entlang, bis er seine Finger auf meine Hände legen kann. „Doch, du kannst das." - „Es geht wirklich nicht, Angel."
„Vertrau mir einfach." Dabei spricht er immer leiser. „Atme einmal ausgiebig ein und wieder aus ... und dann gibst du mir deine Hände."
Verkrampft stehe ich hier und versuche mich zu beruhigen. Wie er es sagt, versuche ich kontrolliert zu atmen und mich zu fassen. „Ich halte dich, dir wird nichts passieren. Ich verspreche es", flüstert er leise und nach einigen Sekunden, die er mir seine Geduld und Zeit schenkt, lasse ich das Geländer los und seine Hände geben mir neuen Halt. Für einen Moment schweigen wir beide und das Gefühl von Angst löst sich langsam in mir, nur weil er meine Hände in seinen hält. Es kommt mir so vor, als würde er mich beschützen und mich wirklich nicht fallen lassen. Obwohl ich hier auf dem Eis stehe, wird die Umgebung immer uninteressanter und ich kann nicht anders, als ihn zu mustern. Angel wirkt ganz anders als sonst, viel bodenständiger, viel selbstbewusster. Wie jemand, der genau weiß, was zu tun ist.
„Bereit?", bricht er die Stille in diesen frühen Morgenstunden und ich gebe ein bejahendes Geräusch von mir. „Gut, bleib einfach genau so, wie du bist." Langsam setzt er einen Fuß hinter den anderen und fängt an, rückwärts zu schlittern. Dabei zieht er mich mit sich und ich kann mich immer mehr entspannen, ja, ich fange sogar zu lächeln an. „Damit meine ich übrigens nicht nur deinen Körper."
„Huh?" Ich verstehe nicht ganz, was Angel meint, da lächelt er. „Das, was so bleiben soll, wie es ist."
Noch immer tüftelt es einen Moment in meinem Kopf und in dieser Zeit denke ich schon gar nicht mehr an das gefährliche Eis, daran, dass ich stürzen könnte. Schließlich begreife ich jedoch, was Angel meint und dennoch kann ich dazu nichts erwidern. Einzig und alleine fühle ich, wie mein Herz an diesem kalten Wintermorgen erwärmt wird.
Immer kurz vor Ende der Bahn dreht Angel sich, so dass wir nicht ins Geländer knallen. Nach einer Weile kommt er zum Stehen und lässt so langsam meine Hände los, dass ich noch die Möglichkeit hätte, sie wieder festzuhalten. Aber durch die ganze Kraft, die er mir geschenkt hat, brauche ich sie nicht mehr. Ich habe das Gefühl, ich könnte das nun ganz alleine schaffen.
Der blinde Junge schlittert hinter mich und drückt mich sanft am Rücken an. „Und jetzt ein Fuß vor den anderen setzen ... Stoß dich vom Eis ab, mit Gefühl, halt dein Gleichgewicht ... Ich bin bei dir." Und wirklich bleibt er in meiner Nähe, hat ständig einen Kontakt zu mir und schenkt mir seine volle Aufmerksamkeit. Ich versuche alles umzusetzen, was er mir zu verstehen gibt und es funktioniert besser, als ich je gedacht hätte. „Ich glaub' ich kann's!", fange ich an mich zu freuen, als ich in dieselbe Richtung schlittere in die ich auch wirklich will und das ganz ohne verkrampftes Klammern und Festhalten. Meine Arme kann ich frei bewegen und ich habe ein bisschen das Gefühl zu fliegen. „Soll ich dich loslassen?", höre ich Angels Stimme hinter mir und nach kurzem Innehalten nehme ich meinen ganzen Mut zusammen. „Ja, lass mich los", gebe ich ihm das Okay und als Angels Finger mich freigeben, erfahre ich ein Erfolgserlebnis wie schon lange nicht mehr. Zwar schlittere ich anfangs ziemlich langsam über das Eis, aber dafür ganz alleine und daran, dass ich hinfallen und mich verletzen könnte, denke ich schon längst nicht mehr.
„Ich habe schon ganz vergessen, wie sich das anfühlt!", rufe ich voller Euphorie heraus und ich freue mich wirklich darüber. So viele Winter habe ich immer nur zugesehen und jetzt habe ich eine ganze Bahn für mich alleine und Angel. „Ich würde ja sagen, dass sieht schon echt gut aus! Aber du weißt ja", höre ich Angel lachen, der mir Platz macht. Auch ich muss lachen und komme, auch wenn etwas unbeholfen und alles andere als majestätisch zu ihm geschlittert. Ich ergreife seine kühlen Hände und will mit ihm zusammen fahren. „Komm, bring mir was bei!" Beim Losschlittern bin ich dann jedoch etwas zu unbedacht und ich rutsche aus. Mein Herz fühlt sich an, als würde es für den Moment aussetzen und ein kaltes, widerliches Gefühl des Schreckens kratzt mir den gesamten Oberkörper entlang. Ich erreiche aber nicht den Boden, denn Angel hält meine Hand nach oben und bringt mich so wieder in das Gleichgewicht. „Alles gut?", fragt er mich und ich brauche ein paar Sekunden, bevor ich mich wieder beruhigt habe. „Ja ... Lassen wir es besser für heute sein, oder?"
„Nein. Ich zeige dir noch etwas Kleines und dann gehen wir wieder, alles klar?" Sein Lächeln treibt mir schnell wieder meine Bedenken aus und ich stimme ihm zu. Er zeigt mir, wie ich mich effektiv in welche Richtung lenken kann, gibt mir Tipps für mein Gleichgewicht und ich muss gestehen, dass er ein sehr guter Lehrer ist. Ich bin schon beinahe traurig, als er den Unterricht beendet und das Eis verlässt. Angel reicht mir die Hand, um mir den Ausstieg zu erleichtern und gemeinsam kommen wir zurück zu den Bänken. „Hoffentlich hattest du genauso viel Spaß wie ich", scheint er ziemlich zufrieden zu sein, als wir beide unser Schuhwerk wechseln. „Auf jeden Fall. Danke, dass du mich überredet hast. Irgendwie fühle ich mich viel stärker als vorher."
„Das bist du auch. Es gehört schon einiges dazu, über seinen Schatten zu springen und seine Ängste zu überwinden." Er lächelt mir glücklich zu und dank ihm fühle ich mich wirklich gut. Trotz der Kälte ist mir warm, wenn er bei mir ist und genau in diesem Moment wird mir klar, dass ich die Wette nicht mehr machen will. Nun, das wusste ich auch zuvor schon, jetzt wo ich Angel als Menschen kennen gelernt habe. Aber wie soll ich Ray das erklären? Er würde mich auslachen! Wobei ... Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darum? Gerade gibt es etwas viel wichtigeres. Ich weiß, wie das Gefühl ist verliebt zu sein und so sehr ich es auch hasse, es zuzugeben: Angel gibt es mir. Und um herauszufinden, wie er für mich empfindet gibt es nur einen richtigen Weg.
„Du, Angi?"
„Mhm?"
„Darf ich noch mal dein Gesicht berühren?"
„Klar", lächelt er offen und legt seinen Schuhkoffer beiseite, ehe er mich anblickt. Zögerlich berühre ich seine kalten Wangen, welche sich wegen den Temperaturen bereits etwas rot verfärbt haben. Mit dem Daumen streiche ich kurzüber seine Lippen und beuge ich mich zu ihm vor, um ihm einen langsamen und liebevollen Kuss zukommen zu lassen.
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