Kapitel 25: Mein kleiner Engel
„Oh, ein Sinneswandel", grinse ich Angel entgegen, nachdem auch ich meinen Mund mit Wasser ausgespült habe und ihm zurück in sein Zimmer folge. „Ja, ich denke es war nicht richtig von mir, dich ständig nach Hause zu schicken und ja, alles was ich am Anfang eben gemacht habe ... Tut mir Leid."
„Ach, ist doch nicht schlimm! Das hier und jetzt zählt, nicht die Vergangenheit."
„Du hast Recht! Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dass du mir das nicht böse nimmst."
Ach, Angel. Wie könnte ich denn? Aber ich muss schon zugeben, dass er am Anfang wirklich unfreundlich war.
„Brauchst du was zum Schlafen? Ein langes Shirt oder so?"
„Eigentlich schlafe ich oben ohne."
Wieder zögert er und ich muss grinsen. Was er wohl gerade denkt? Und welcher Junge zieht sich verdammt noch mal etwas zum Schlafen an? „Ah, na dann", kommentiert er es jedoch nicht weiter und lässt die Finger von der Schranktür. Er bleibt vor dem Bett stehen und ich kann ihm förmlich ansehen, dass er an dem Punkt angelangt ist, an dem er nicht mehr weiß, was er nun tun soll. Deswegen übernehme ich einfach mal frech die Führung. „Na ja, dann lass uns schlafen? Sonst kippe ich noch um!" Dabei bin ich gerade gar nicht mehr so müde, sondern wäge ab, inwiefern ich die Situation am besten nutzen kann. „Äh, ja ... Klar ... Das Wasser steht neben dem Bett, wenn du die Nacht etwas trinken willst." Angel schafft es nicht, seine Unsicherheit zu verstecken, aber das ist in Ordnung. Ich ziehe mir meinen Pullover aus, das T-Shirt lasse ich ihm zuliebe heute mal an. „Was ist? Schläfst du immer voll bekleidet?", witzle ich über ihn, als er nicht einmal die Jeans auszieht, sondern nur auf mich wartet. Er weicht meinem Blick aus und wendet sein Gesicht dem Boden zu. „Mhm", murmelt er nichtssagend und ich merke, dass ich etwas Falsches gesagt habe. „Du musst dich nicht vor mir schämen, Angi", grinse ich, als ich ihm meinen persönlichen Spitznamen verpasse. „Wir haben beide dasselbe!" Er seufzt, als er zurückhaltend anfängt. seinen Knopf zu öffnen. Ich finde es etwas komisch, dass es ihm so unangenehm ist, sich vor mir auszuziehen. Er kennt mich schließlich immerhin schon ein wenig und früher hatten wir alle Sportunterricht oder andere Situationen, wo man sich dem gleichen Geschlecht mal eben in Unterwäsche präsentieren durfte – daran ist doch gar nichts falsch.
„Ja ... Ich mach's Licht aus", geht er jedoch nicht weiter auf das Thema ein und während ich es mir schön bequem mache, wartet er noch kurz. Erst, als die Decke nicht mehr raschelt, knipst er die Deckenlampe aus und wir sind in Dunkelheit gehüllt. Um ihm Platz zu machen, habe ich mich weit an die Wand gelegt und warte wie eine Spinne, die ihr Netz gesponnen hat, auf meine Beute. Die Matratze wackelt ein bisschen, als er sich setzt und es kribbelt mir regelrecht in den Fingern, doch ich weiß, dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt ist. Angel nimmt sich kaum von der Decke – eigentlich gar nichts, dabei ist es schon kühl hier im Zimmer. Nun, wenn er sich nicht traut, dann muss ich eben! So kommt es, dass ich weiter von der Wand hinter mir weg und näher zu ihm rücke, um ihn ordentlich zu zudecken. „Du fühlst dich nicht gerade wohl, oder?", frage ich leise und lege mich neben ihn auf den Rücken. Dabei lasse ich ihm Platz, den er auch nutzt.
„Es ist nur ... ein bisschen ungewohnt, das ist alles", antwortet er mir leise, mit dem Rücken zu mir gewandt. Dennoch muss ich lächeln. Heute wird das auf keinen Fall etwas, er ist viel zu verklemmt. „Also, du wolltest ja ein bisschen was über mich erfahren ...", beginne ich im Dunkeln ein neues Gespräch mit ihm. „Ich fange einfach mal ganz von vorne an! Ich heiße Yoshua, aber du kannst mich Yoshi nennen! Oder Yosh, das ist egal!" Dabei spreche ich völlig überzeugt und in einer überzogenen Tonlage von mir, dass sogar ein leises Kichern von ihm kommt. „Yosh ist viel besser ... oder einfach nur Yo."
„Nenn mich, wie es dir beliebt, mein kleiner Engel ...", führe ich meine Vorstellung ebenso überzogen weiter und fange an, Gestiken auszuüben, so sehr bin ich in meinem Element. Dabei komme ich mir gar nicht komisch vor, nachts im Dunkeln in der Luft herumzufuchteln und laut Mist zu quatschen. „24 alte Jahre bin ich alt ... und noch immer am studieren, das wird auch nichts mehr mit Geld verdienen in meinem Leben."
„Hehe ... Und was studierst du?" Angel dreht sich zu mir und ich kann fühlen, wie er mich anblickt und komme mir so vor, als würde er jede meiner Bewegungen wahrnehmen.
„Das frage ich mich allerdings auch! Manchmal komme ich mir so vor, als würde ich Mathematik studieren, manchmal komme ich mir so vor, als würde ich Psychologie studieren! Und lernen tu ich gar nichts!" Erneut kichert er und dass ich ihn so unterhalten kann motiviert mich ungemein. Müde bin ich schon längst nicht mehr. „Ich hab' eine kleine, unaufgeräumte Bude. Ein Bauernhaus gegen das Schloss hier! Sogar eure Badewanne ist größer als mein Bett!"
„Und Hobbys? Was machst du gerne?", fragt er mich weiter aus und ich muss kurz überlegen. „Also eigentlich gar nichts Besonderes. Nichts, was dich interessieren könnte ... Früher bin ich auch gerne Eis gelaufen, also als ich echt noch klein war. Inliner, Fahrrad fahren, so was eben! Ich war gerne draußen."
„Cool! Dann komm doch demnächst mal mit aufs Eis! Aber pass auf, dass wir nicht ineinander laufen. Wann hast du Zeit dafür?"
„Ja, also ehrlich gesagt ...", werde ich wieder etwas ruhiger, „ich mache so etwas nicht mehr ... Ich hab' zu sehr Angst, mich zu verletzen."
„Ach komm, das ist doch kein Grund! Ich würde mich freuen, wenn du mal mitkommen würdest."
Ich seufze und doch bringt er mich zum lächeln. Dabei weiß ich gar nicht warum. „Früher bin ich mal ganz böse auf den Kopf gefallen und musste richtig lange im Krankenhaus bleiben. Das brauche ich nicht noch mal."
„Na und? Ich bin auch schon schlimm gestürzt ... Und auf meinen Kopf gefallen."
Da meine Augen sich schon etwas an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich sehen wie Angel sich an die Schläfe tippt. „Und dann ist da drinnen etwas kaputt gegangen."
Die Selbstverständlichkeit, mit der Angel diese Worte ausspricht, hinterlässt in mir ein seltsames Gefühl. Er lächelt zögerlich und lässt seinen Kopf in das Kissen sinken, welches wir uns teilen. „Ich hatte danach sozusagen ... einen Herzinfarkt. Aber in den Augen, verstehst du? Einen Augeninfarkt." Irritiert blicke ich ihn an – davon habe ich noch nie etwas gehört. „Ja, es ist dasselbe Prinzip. Normalerweise bekommen das fast nur ältere Leute ... Im Grunde nichts anderes als akute Durchblutungsstörung ... Meistens hat man das dann nur auf einem Auge, mich hat's halt direkt richtig erwischt, ne? Es fängt an mit einem grauen Schleier und dann ist alles weg ... Zumindest bei mir. Wir haben viele Jahre versucht das zu behandeln ... Mit Lasern und Tabletten, die mein Blut verdünnen ... Aber es hat einfach nichts gebracht und heute will ich diese Torturen auch nicht mehr ... Es ist schon okay, so wie es ist."
Ich schweige und ohne länger darüber nachzudenken, ziehe ich Angel auf meine Brust. Ein einziges Mal streiche ich über sein Haar, ehe ich die Hand auf seiner Schulter ruhen lasse.
Für wenige Sekunden versteift Angel sich, doch er entspannt sich recht schnell wieder und bleibt liegen, so wie ich ihn positioniert habe. Ruhe kehrt ein und ich kann ihn leise atmen hören.
„Hat es weh getan? Dein Augenlicht zu verlieren?", brennt mir diese Frage jedoch noch auf den Lippen, da schüttelt er den Kopf. „Manchmal bin ich sogar froh deswegen. Ich hab damals viele meiner Freunde verloren und meine Etikette haben sich geändert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich musste erst blind werden, um richtig sehen zu können."
„Ich verstehe", flüstere ich leise und fahre ihm noch ein letztes Mal über das Haar.
„Dann Gute Nacht ..."
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