Kapitel 6 - Wartezeit
Sie legte das Handy wieder auf ihren Schreibtisch und ging zu dem Wandspiegel, der so groß war, wie sie selbst. Dort schaute sie sich von oben bis unten an. Die gelben Schlafshorts und das weiße Top hatte sie immer noch an. Ihr Gesicht war so blass. Scheu trat sie einen Schritt näher an den Spiegel heran und musterte ihr Gesicht. Gerötete Augen, die Lider waren leicht angeschwollen. Mit dem Zeigefinger fuhr Conny vorsichtig die feinen Äderchen entlang, die sich um ihre Augen herum abzeichneten.
Bei dem Anblick würden ihre Eltern sofort wissen, dass etwas passiert war. Dazu würde Conny gar nichts mehr sagen müssen. Sie würde auch nichts leugnen können. So verheult, wie sie aussah, musste etwas vorgefallen sein. Und zwar nicht nur irgendetwas, sondern etwas Schlimmes. So aufgedunsen sah man doch nicht aus, wenn man schlecht geträumt hatte. So sah man nur aus, wenn man die ganze Nacht geheult hatte.
Was, wenn die Puppe ein Mensch gewesen wäre? Die Frage war ihr immer wieder in fetten Druckbuchstaben und in verschnörkelter Schrift, in Groß- und Kleinbuchstaben, in kursiv und unterstrichen und vorwärts und rückwärts durch den Sinn gegangen. Was, wenn es ein Mensch gewesen wäre? Aber nicht genug damit. Wer war es gewesen? Wer? War es ein gezielter Angriff? Musste Conny sich sorgen? Dumme Frage, natürlich! Natürlich musste jemand im Gebüsch gewartet haben. Auf sie. Auf ihn. Auf beide?
Leise öffnete Conny ihre Zimmertür und horchte, ob jemand im ersten Stock unterwegs war. Hier war nur ihr Zimmer, ein Badezimmer und ein Abstellraum. Alles war ruhig. Sie ging in das Badezimmer, das ihrem Zimmer direkt gegenüber lag und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Nachdem sie sich mit dem rosa Frotteehandtuch abgetrocknet hatte, sah sie schon eine Spur besser aus. Ihre Augen sahen frischer aus. Sie würde noch ein bisschen warten, dann wären sie auch nicht mehr so gerötet.
Aus dem beleuchteten Wandschränkchen nahm Conny ihren Concealer heraus und verteilte ihn großzügig unter den Augen. Das deckte zumindest die Rötung ab. Dann tuschte sie sich noch die Wimpern und musterte schließlich ihr Spiegelbild. Sie zwang sich zu einem Lächeln und fand, dass sie jetzt wieder fast wie immer aussah. So konnte sie sich sehen lassen.
Unten in der Küche saß Connys Vater. Er war gerade dabei, sich den letzten Bissen seines Toasts einzuverleiben.
"Morgen, Papa", sagte Conny.
"Morgen, Conny", entgegnete er und trank seine Kaffeetasse leer.
"Tut mir leid, dass ich dir keine Gesellschaft leisten kann, aber ich muss los", entschuldigte er sich und tippte auf seine Armbanduhr.
"Klar. Dann bis heute Abend", gab Conny zurück. Als ihr Vater aus der Küche gerauscht war, nahm sie sich die Packung mit Cornflakes und eine Schüssel und schüttete eine lächerlich kleine Menge hinein. Ihr hatte es den Magen umgedreht, wie sie so auf gut Wetter machen musste. Ihr Vater, dieser kleine Mann mit dem schütteren Haar und dem liebevollen Lächeln, gehörte zu der Sorte Menschen, bei denen es sich wie ein Kapitaldelikt anfühlte, wenn man sie auch nur anlog. Er tat alles für Conny und sie konnte ihm auch alles erzählen.
Außer die Sache von gestern Abend. Die durfte sie niemandem erzählen. Sam hatte ihr einen Maulkorb verpasst. Nun ja, er hatte sie darum gebeten, es nicht zu sagen. Was Conny schlussendlich tat, blieb immer noch ihr überlassen. Sie könnte es ihren Eltern jederzeit erzählen. Aber ja, Sam hatte recht. Sie würden dann natürlich mit ihr zur Polizei gehen wollen. Klar würden sie das.
Doch das war nicht alles. Connys Eltern waren nicht die größten Fans von ihrem Schwiegersohn in spe. Sie hassten ihn nicht, aber so richtig ins Herz schließen konnten sie ihn auch nicht. Wenn sie von dem Vorfall erfahren würden, dann stellte das Sam in ein noch schlechteres Licht und sie würden in ihrer Annahme, dass er nicht der richtige Umgang für Conny war, bestätigt werden.
Conny würgte die Cornflakes mit einem Schluck Milch herunter und ging dann wieder nach oben. Ihre Mutter musste auch schon außer Haus sein, denn es war alles still. Wahrscheinlich würde Conny heute wieder alleine zu Mittag essen. Das Haus bezahlte sich nicht von alleine. Der Preis war die fehlende Zeit zusammen. Jeder frühstückte alleine, jeder aß alleine zu Mittag. Manchmal ergab es sich, dass alle beim Abendessen da waren, aber auch das war nicht gerade alltäglich.
Doch so, wie Conny gerade drauf war, würde sie sowieso nichts essen können. Sie hatte gerade so mit Mühe und Not die Paar Löffel Cornflakes herunter bekommen. Und selbst das reichte, um ihr im Magen zu liegen wie Blei. Da wollte sie an das Mittagessen gar nicht erst denken. Irgendwie würde sie sich den Vormittag vertreiben, bis sie sich endlich mit Sam treffen würde. Er war der einzige Mensch, mit dem sie über das Problem sprechen konnte. Und gleichzeitig war er der Grund dafür, dass es überhaupt erst existierte.
Und genau weil er der einzige war, musste sie allein mit dieser Warnung des Universums fertig werden. Damit, dass ihr Freund die ganze Zeit über so nahe daran gewesen war, einen echten Menschen zu überfahren. Der vergangene Abend hatte es ihr nur allzu plastisch vor Augen geführt. Sie daran erinnert. Was, wenn es nächstes Mal keine Puppe sein würde? Die Frage lastete schwer auf Conny.
Doch wem sollte sie sich anvertrauen? Nur mit Sam konnte sie darüber reden. Vielleicht hatte er ja doch recht. Vielleicht würde wirklich nichts passieren. Wenn Conny nichts sagen würde, er auch nicht, dann würde nichts passieren. Nächstes Jahr würde Conny ihr Kunststudium beginnen und dann würde sie den Vorfall sicher schon wieder vergessen haben.
Der Vormittag zog sich zäh dahin. Er verging so langsam, dass Conny das Gefühl hatte, die Uhr würde rückwärts laufen. Niemand war zuhause, nur sie. Die Ruhe erdrückte sie. Rastlos wanderte Conny durch das ganze Haus, setzte sich ins Wohnzimmer auf die weiche, weinrote Couch, setzte sich nach draußen auf die Terrasse, setzte sich oben in ihrem Zimmer auf ihr Bett, aber nirgendwo konnte sie es längere Zeit aushalten. Es war, als würde sie vor ihrem Geheimnis davonlaufen, würde es aber trotzdem immer hinter sich her ziehen. Als würde es an ihr fest gekettet sein.
Als die Uhr endlich halb eins anzeigte, zog sich Conny um. Sie hatte bis zu dem Zeitpunkt immer noch ihre Schlafshorts und das Top getragen. Jetzt warf sie sich ihr rotes Kleid über und zog sich dazu weiße Leinenschuhe an. Sie betrachtete sich im Spiegel. Das war ihr absolutes Lieblingskleid, aber heute fand Conny, dass sie trotzdem nicht gut darin aussah.
Eilig verließ sie das Haus und lief die Straße entlang. Um zum Feldweg zu gelangen, musste sie nicht sehr weit laufen. Das beste war aber, dass sie nicht in die Straße einbiegen musste, auf der sich der Vorfall mit der Schaufensterpuppe ereignet hatte. Sie hätte es nicht ertragen können. Sicherlich wäre sie ins Gebüsch geklettert, um zu schauen, ob die Puppe noch dort lag. Und wie sagte man? Ein Verbrecher kommt immer an den Ort des Geschehens zurück ...?
Der Feldweg begann wenige Meter von der letzten Bushaltestelle des Ortes entfernt. Er war die ersten hundert Meter mit Obstbäumen gesäumt, dahinter lagen Maisfelder. An manchen Stellen waren auch Bänke aufgestellt worden. An sonnigen Tagen konnte man hier wunderbar sitzen und die Ruhe genießen. Auf diesem Feldweg waren hauptsächlich Spaziergänger und Fahrradfahrer unterwegs. In der Erntezeit fuhren die Bauern auf ihren Traktoren den Weg entlang. Autos fuhren hier keine.
Conny positionierte sich direkt am Anfang des Weges, damit Sam sie gut sehen konnte. Sie hielt Ausschau nach ihm, aber er war noch nicht da. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Es waren noch fünf Minuten bis ein Uhr. Sie war etwas früh da und würde auf ihn warten müssen. Um sich abzulenken, schaute sie durch die Gegend. Ein Zitronenfalter tanzte einmal um sie herum. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, aber er flog davon, als habe er dringend etwas zu erledigen.
Die Minuten vergingen und Sam ließ sich nicht blicken. Das war ungewöhnlich, denn Conny kannte ihn nicht als Zuspätkommer. Sam hatte zwar seine Macken, aber er kam immer pünktlich, wenn sie sich verabredeten. Die Uhr auf ihrem Handy verriet Conny, dass es mittlerweile schon fünf Minuten nach eins war.
Gut, fünf Minuten kann man sich schon mal verspäten, dachte sie und sah sich nochmal um. Aber weit und breit war kein Sam zu sehen. Conny wurde unruhig. Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Warum verspätete er sich? Womöglich hatte es einen ganz banalen Grund und genauso wie bei der Sache mit der Puppe steigerte sich Conny nur wieder unnötig hinein. Er würde ganz bestimmt in den nächsten Minuten angelaufen kommen, würde sich entschuldigen, dass er Conny so lange hatte warten lassen und würde ihr den Grund dafür erklären. Dann würden sie gemeinsam über den Feldweg laufen und den Vorfall von gestern Abend verarbeiten.
Zwanzig nach eins, sagte die Uhr. Das war eindeutig zu lange. So lange hatte Sam sie noch nie warten lassen. Und vor allen Dingen hätte er sie doch angerufen, wenn ihm etwas dazwischen gekommen wäre. Nein, er hätte sie niemals so lange dumm in der Gegend herum stehen lassen. So war er nicht. In Conny wurde die Vermutung, dass etwas passiert war, zur Gewissheit.
Mit zittrigen Händen nahm sie ihr Handy und tippte auf Sams Nummer. Biep ... biep ... biep ... keiner ging ran. Conny legte auf und starrte das Display an. Es ging aus und in der schwarzen Oberfläche spiegelte sich nun ihr schreckverzerrtes Gesicht. Wie eine Halloweenmaske schaute ihr eigenes Abbild sie aus der Spiegelung im Bildschirm an.
Was sollte sie jetzt tun? Nicht genug mit dem Schaufensterpuppen-Unfall, nein, jetzt war Sam auch noch etwas passiert. Dabei sollte es Conny doch am wenigsten verwundern. Bestimmt war er wieder mit seinem verdammten Auto unterwegs gewesen. Und sicherlich musste irgendwann einmal doch etwas passieren. Es konnte ja nicht ewig gut gehen, so zu rasen, wie Sam es tat. Irgendwann passierte immer etwas.
Das schien heute der Fall zu sein. Warum sonst hatte er Conny versetzt und ging nicht einmal an sein Handy? In Connys Vorstellung blitzte das Bild von Sam in einem Krankenhausbett auf. Wie er da lag, mit einer Halskrause, einem Gips um den Arm.
"Bitte nicht", flüsterte Conny. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Was konnte sie denn jetzt unternehmen? Ihr erster Gedanke war Sams Mutter. Wenn Sam einen Unfall gehabt haben sollte, dann musste seine Mutter ganz sicher als erste benachrichtigt worden sein. Wenn Conny sie erreichen könnte, dann hätte sie wenigstens Gewissheit.
Ob sie gerade zuhause war? Sollte Conny anrufen oder vorbeikommen? Da sie sowieso unterwegs war und das Haus, in dem Sam wohnte, nicht weit weg von hier war, entschied sie sich dafür, dort zu klingeln. Wenn sie Glück hatte, war seine Mutter zuhause. Wenn nicht, dann würde Conny nach Hause gehen und die Nummer im Telefonbuch heraus suchen. Dann konnte sie heute Abend immer noch anrufen.
Im Laufschritt eilte Conny durch das Wohngebiet auf das Haus mit der hellgrauen Fassade zu. Sie wusste, Sam hatte sein Zimmer im ersten Stock. Die Jalousien waren oben, als sei alles ganz normal. In das Zimmer hinein sehen konnte sie allerdings nicht, weil die dicken dunkelgrauen Gardinen zugezogen waren.
Sie drückte auf die Klingel und wartete. Nichts passierte. Sie drückte noch einmal und dieses Mal wurde der Türsummer betätigt. Conny eilte die Treppen nach oben. In der Tür stand Sams Mutter. Allzu oft hatte Conny noch nicht die Ehre mit ihr gehabt. Die beiden pflegten ein gutes, wenn auch etwas distanziertes Verhältnis. Vielleicht war das Verhältnis eben durch die Distanz ein gutes.
"Conny, was machst du denn hier?", fragte Sams Mutter niedergeschlagen. Durch die weißen Haare sah sie wesentlich älter aus, als sie eigentlich war, aber heute sah sie noch viel mitgenommener aus. Auf ihrer Stirn zog sich eine Sorgenfalte, ihre Schultern hingen kraftlos herab.
"Hallo, Irene. Ich wollte fragen, ob du weißt, wo Sam ist. Wir hatten uns für ein Uhr verabredet ... zu einem Spaziergang. Er ist nicht aufgetaucht", erklärte Conny.
"Komm rein", entgegnete Sams Mutter knapp.
Conny trat ein und sah sich um. Der Schuhschrank im Flur war ausgeräumt. Die Schuhe lagen auf dem Boden, waren aber alle in eine Ecke geschoben worden. Es sah aus, als habe Irene sie schnell aus dem Weg räumen wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen, sie wieder ordentlich in den Schuhschrank zu packen.
Irene führte Conny in die Küche und die beiden setzten sich an den Esstisch. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, musste Sam definitiv etwas zugestoßen sein. Ihre Augen waren leicht gerötet, als habe sie nicht lange zuvor geweint. Es war etwas passiert. Etwas Schlimmes? Warum sonst hatte sie Conny nicht direkt im Treppenhaus sagen können, was Sache war?
"Willst du etwas trinken?", fragte Irene. Es klang eher, als würde sie das pro forma tun, denn ihre Stimme klang brüchig und abwesend.
"Nein, danke. Ich wollte auch nur kurz vorbeikommen, weil ich mir Sorgen um Sam mache ..."
"Deine Sorgen sind berechtigt. Sie haben ihn mitgenommen", bestätigte Irene.
"Was? Wer?", fragte Conny irritiert. Doch immerhin klang es danach, dass Sam am Leben war, was Conny zumindest für den Moment beruhigte. Das bedeutete, er lag er nicht mit Verletzungen im Krankenhaus.
"Er soll eine Frau überfahren haben. Ach weißt du ..." Irenes Stimme brach ab und sie schaute aus dem Fenster. Conny griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, aber Irene zog sie weg und stand vom Tisch auf. Sie nahm sich ein Glas von der Küchenzeile und hielt es unter den Wasserhahn. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, setzte sie sich wieder zu Conny an den Tisch.
"Weißt du, es war ja nur eine Frage der Zeit. Die ganzen Briefe, die hier eintrudeln. Ich habe das Gefühl, als hätte ich auch Schuld daran. Als hätte ich es verhindern können. Aber wie, wenn der Junge nicht auf mich hört? Ich habe es ihm wirklich oft genug gesagt. Es war klar, dass es einmal passieren musste. Dabei hofft man immer, dass alles gut geht."
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