Kapitel 3 - Rage
Nachdem das Geschirr von der Kellnerin abgetragen worden war, griff Danny über den Tisch nach Ellas Hand und schaute ihr einen Moment lang in die Augen. Sam grauste es, denn er kannte dieses Schema. Wer kannte es nicht aus Filmen, Fernsehen, Büchern? Was gleich passieren würde? Der Klassiker: wir haben euch etwas zu sagen. Sam dachte sich, dass er Danny am liebsten ins Gesicht springen würde, sollte er diesen Satz sagen.
Aber nicht nur die klischeebehaftete Floskel, die Danny gleich sagen könnte, verärgerte Sam, sondern das, was auf den Satz folgen könnte. Es konnte nur eine von diesen Möglichkeiten sein: wir heiraten, wir ziehen zusammen oder wir erwarten ein Kind. Dabei wusste Sam nicht, welche von den drei möglichen Aussagen er am schlimmsten finden würde. Innerlich wappnete er sich gegen jede dieser drei Möglichkeiten. Wenigstens Danny zuliebe würde er sich einen dummen Spruch verkneifen müssen. Er war doch sein bester Freund.
Danny räusperte sich, lächelte in sich hinein und schaute dann erst Sam und dann Conny an.
"Wir haben eine Wohnung am Stadtrand gefunden", sagte er.
Von Sam kam keine Reaktion. Das hieß dann "wir ziehen zusammen", nur eben anders ausgedrückt. Na toll. Er schaute Danny einen kurzen Moment in die Augen, wendete dann aber seinen Blick ab und stierte auf einen Krümel auf der Tischdecke. Conny hörte er sagen: "Wie schön! Ist sie geräumig?"
"Oh ja! Sie ist perfekt. Erdgeschoss, vier Zimmer, Terrasse mit Zugang zum Garten. Die Nachbarschaft ist ruhig und die Gegend wunderschön. Wir haben Streuobstwiesen fast direkt vor dem Fenster ...", schwärmte Ella.
Sam nahm sich eine Serviette in die Hand und zerknüllte sie. Er knetete sie heftig, damit er nicht gleich in Rage verfallen würde. Seine Energie musste er an anderer Stelle abbauen, damit er sie nicht Ella in Form von bösen Worten ins Gesicht schleudern würde. Sam war schneller auf hundertachtzig als sein Wagen. Aber seine Mitmenschen taten seiner Meinung nach auch alles dafür, dass das so kam.
Man sollte sich das mal anhören: wir haben eine soooo schöne Wohnung gefunden. Sie hat dies, sie hat jenes, ach wie schön die Wohnung ist. Ja, danke. Andere Leute haben weniger Glück im Leben, dachte er sich. Andere Leute träumen nachts von dem, was ihr tagsüber erlebt. Andere Leute ... ach was, vergiss es.
"Das klingt richtig toll", antwortete Conny verträumt. Man konnte ihr geradezu aus der Stimme heraushören, wie gerne sie auch diese Wohnung hätte. Aber wozu brauchte Conny das? Wozu sollte eine Constanze Kleeborg von zuhause ausziehen wollen? Egal welche Wohnung Sam und sie nehmen würden, alles wäre eine Verschlechterung im Vergleich zu dem, was sie aktuell hatte.
Selbst wäre Sam nie auf die Idee gekommen, das zweihundert Quadratmeter große Einfamilienhaus, in dem Conny mit ihrer Familie lebte, gegen eine mickrige Wohnung einzutauschen. Aber wenn der Mensch keine Probleme hat, dann sucht er sich einfach welche, dachte Sam. Das, was Conny hatte, war das, was Sam sich immer gewünscht hätte. Eine stabile Familie, ein schönes Haus, ein ruhiges Leben. Conny hatte all das und sie wollte doch etwas anderes.
"Wann werdet ihr beide zusammen ziehen?", fragte Ella. Aus dem Augenwinkel konnte Sam sehen, wie sie Conny süßlich anschaute. Ihr Blick war wie Honig, so süß und klebrig, dass man daran hängen blieb. Ihre Stimme klang butterweich. Sie konnte unverbindlich wirken, auf eine Weise, die freundlich und zugleich meilenweit distanziert war. Bei ihr hatte man das Gefühl, als spräche man mit einem Roboter, der die wärmsten Worte sagte und dabei doch so kalt war.
"Ach, keine Ahnung. Wir haben ja beide noch keine richtigen Jobs, damit wir uns eine Wohnung finanzieren könnten ...", meinte Conny.
"Warum willst du dir überhaupt eine Wohnung leisten können?", platzte es aus Sam heraus. Er sah Conny dabei nicht an. Sein Blick war nur auf seine dünnen Finger gerichtet, die die Serviette kneteten.
"Na, ich will doch auch mal selbstständig leben", erwiderte Conny leicht empört. "Ich dachte, das willst du auch?"
Sam zuckte mit den Schultern. Dann stand er auf und murmelte, dass er eine rauchen gehen würde. Verdrossen trottete er durch das Lokal auf den Ausgang zu. Die Blicke von Danny, Ella und Conny spürte er förmlich im Rücken. Jetzt würde sich Conny wahrscheinlich für ihn entschuldigen, aber sie würde ihm nicht hinterher laufen. Sie würde einfach sitzen bleiben. Vielleicht würde sie versuchen, Sams Reaktion zu rechtfertigen. Sicherlich war sie jetzt peinlich berührt, wie immer, wenn Sam Reißaus nahm.
Vor der Tür zündete er sich eine Kippe an und blies den Rauch in die warme Sommerluft. Vor dem Abi hatten sich Danny und Sam versprochen, auch nach der Schulzeit mindestens einmal im Monat zusammen essen gehen zu wollen. Das Versprechen hatten sie sich in der Vor-Ella-Zeit gegeben.
Heute war es aber nicht nur Ella, die Sam auf den Wecker ging. Irgendwie ging ihm heute alles und jeder auf den Wecker. Seitdem er die Autobahn verlassen hatte, war jegliche positive Energie aus ihm gewichen. Am liebsten hätte er nie die Ausfahrt genommen, sondern wäre einfach immer weiter gefahren. Immer weiter, weiter, weiter ...
Die Zigarette wurde kürzer und kürzer und das bedeutete, dass er bald wieder reingehen musste. Man würde auf ihn warten. Man würde sich denken, dass er wieder den beleidigten Abgang gemacht hatte. Womöglich hatten sie in seiner Abwesenheit über ihn gesprochen. Hatten mit ihren mitleidigen Blicken versucht, Erklärungen für sein Verhalten zu finden. Sie hatten wahrscheinlich die Köpfe zusammengesteckt und über ihn diskutiert, so wie Lehrer und Eltern beim Elternsprechtag über ein verhaltensauffälliges Kind sprachen.
Aber für seine Gefühle konnte er nichts. Heute war Sam nicht gut drauf, na und? War denn jeder immer gut drauf? Er würde sich für nichts entschuldigen, weil es für ihn nichts zu entschuldigen gab. Er würde einfach wieder reingehen und so tun, als sei nichts gewesen. Sich an den Tisch setzen und darauf warten, dass jemand endlich das Treffen auflöste. Bei dem Gedanken kribbelte es in seinem Bauch. Denn er würde dann endlich wieder in sein Auto einsteigen können. In seiner Vorstellung sah er sich wieder am Steuer - ganz in seinem Element. Das Lenkrad, das Gaspedal und Sam - eine unschlagbare Einheit.
Eigentlich hatte Sam mit dem Gedanken gespielt, auf dem Rückweg wegen Conny nicht so schnell zu fahren. Aber dann hatte sie wieder mit dem Blödsinn von wegen eigener Wohnung und selbstständig sein angefangen und Sams Mitleid war verflogen. Ja, er liebte Conny, aber sie wusste doch, wie er zu den Dingen stand. Sie wusste doch, was Sam nicht so gerne hörte. Warum brachte sie es dann trotzdem auf den Tisch?
Die Rückfahrt würde sie schon überleben. Wenn sie es so schlimm fände, wie sie immer tat, dann würde sie sich doch nicht mehr zu ihm ins Auto setzen. Dann würde sie den Bus nehmen oder was auch immer. Sam würde sie auf jeden Fall genauso sicher zuhause abliefern, wie er es immer machte. Er wusste doch, was er tat! Zu jeder Zeit hatte er doch die volle Kontrolle über seinen Wagen. Er hatte das Lenkrad fest in der Hand und die Straße fest im Blick. Aber Conny schien das nicht zu verstehen. Sie wollte nicht begreifen, dass er das einfach brauchte.
Sam drückte die Zigarette in dem Aschenbecher aus, der an der Seite des Restaurants stand, und machte sich wieder auf den Weg an den Tisch. Von weitem sah er, dass sich die drei angeregt unterhielten. Das hatten sie in Sams Anwesenheit nicht getan. Kaum war Sam weg, sprach man sich ganz gelöst und entspannt aus. Als er sich wieder auf seinem Stuhl niedergelassen hatte, ebbte das Gespräch ab.
"Stör ich?", fragte Sam.
"Nein, nein", sagte Danny.
"Worum geht's?", wollte Sam wissen.
"Die schusselige Praktikantin, die gerade bei Ella arbeitet. Sie kann nicht einmal eine Schere richtig halten, wie sollen sie sie dann auf Kunden loslassen ...", antwortete Danny und lachte.
"Falsche Berufswahl ...", murmelte Sam und warf Ella einen kurzen Blick zu. Fast hätte er ihr auch ein Lächeln geschenkt, aber er wollte seine Fassade nicht fallen lassen. Er beließ es bei dem kurzen Augenkontakt und trank dann sein Glas leer.
Die Rechnung wurde verlangt und das Treffen löste sich auf. Auf dem Parkplatz umarmten sich Danny und Sam, Danny und Conny und Ella und Conny. Danny und Ella gingen zu Dannys Kombiwagen. Hand in Hand natürlich. Conny schaute den beiden eine Weile hinterher, dann gingen sie und Sam zu Sams Wagen. Conny stieg geradezu widerwillig ein.
"Kannst du diesmal bitte etwas gemäßigter fahren?", fragte Conny, bevor Sam den Motor starten konnte.
"Ich fahre doch immer gemäßigt", gab er zurück und grinste schelmisch. Conny seufzte und schüttelte den Kopf.
"Sam, ich meine es ernst. Danny macht sich auch Sorgen um dich. Er hat mich vorhin gefragt, ob ich bei ihm mitfahren will ... ich wollte Ja sagen, weil ich es in dieser verdammten Karre mit dir nicht aushalte. Aber ich wollte dich nicht beleidigen. Also bitte, fahr doch etwas langsamer", forderte Conny.
"Er hat dich gefragt, ob du bei ihm mitfahren willst? Und warum tust du das dann nicht einfach? Du kennst mich doch. Du weißt doch, dass ich die Strecke, auf der die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben ist, nicht ungenutzt verstreichen lassen kann", sagte Sam. Seine Augen hatten die von Conny fest im Blick und er glaubte, erkennen zu können, wie sie glasig wurden. Damit riskierte er, dass sie nochmal anfangen würde, zu weinen.
"Du bist ein richtiges Arschloch, Sam", flüsterte sie.
"Danke", sagte Sam trocken.
Conny öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. Seufzend ließ Sam den Kopf sinken, bis seine Stirn das Lenkrad berührte und schloss die Augen. Mit mehr Schwung als nötig schlug Conny die Autotür zu. Sam hob den Kopf und sah sie davon laufen. Wohin würde sie gehen? Das Restaurant befand sich am Rand einer Kleinstadt. Hier fuhr bestenfalls zwei Mal die Stunde ein Bus.
Sam ließ den Motor an und fuhr Conny hinterher. Als sie bemerkte, dass er neben ihr her tuckerte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und versuchte, noch schneller zu laufen. Was allerdings mit ihren hohen Schuhen gar nicht so einfach sein musste. Sam ließ das Fenster herunter und sagte: "Willst du nicht doch einsteigen?"
Conny warf ihm einen vernichtenden Blick zu und lief weiter. Sie lief auf die Ausfahrt des Parkplatzes zu.
"Tut mir leid, Schatz", sagte Sam. Conny ignorierte ihn weiter.
"Ich werde mir Mühe geben", versprach Sam. Conny blieb stehen. Sie lachte ein humorloses Lachen.
"Wobei denn?", fragte sie.
"Ich werde gemäßigt fahren", sagte Sam.
"Du glaubst, dass ich mich nochmal von dir verarschen lasse?", zischte Conny.
"Nein, ich meine es ernst. Komm schon", sagte er und beugte sich zur Beifahrertür, um diese von innen zu öffnen.
Sam stand nun mit seinem Wagen direkt in der Ausfahrt und wartete darauf, dass Conny endlich einsteigen würde. Sie stand noch regungslos neben dem Auto und schmollte. Hinter Sam hupte jemand.
"Komm schon", widerholte er. Wieder hupte jemand. Conny ließ die Arme sinken und stieg ein.
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