Kapitel 26 - Vorfahrt gewähren
Da war keine große Ähnlichkeit. Wenn man davon hörte, dass zwei Leute Geschwister waren, dann suchte man zu aller erst die Gesichter nach Gemeinsamkeiten ab. Der forschende Blick wanderte über die Haare, die Stirn, die Augen, die Nase, den Mund, das Kinn, scannten dann noch einmal das ganze Gesicht ab und schauten sich danach den Körperbau und die Größe an. Der kleinste gemeinsam Nenner konnte die Körpergröße sein, manchmal auch die Haarfarbe. Letzteres war wahrscheinlich das Einzige, das Ella und Mario einte. Die Gesichtszüge ähnelten sich vielleicht, wenn man genau hinschaute, aber nicht direkt auf den ersten Blick.
Nicht alle Geschwister sahen sich ähnlich. Conny selbst hatte es immer bedauert, keine Geschwister zu haben. Als Kind hatte sie auf den Wunschzettel für den Weihnachtsmann geschrieben, dass sie eine Schwester haben wollte. Auch an den Storch, der die Babys bringen sollte, hatte sie eine Bittschrift verfasst, die ebenso erfolglos geblieben war. Dabei war es ihr ein großer Wunsch gewesen. Eine Schwester zu haben, die dasselbe Haar hatte wie sie, dasselbe Gesicht, dieselben Augen. Eine Schwester, mit der sie sich ihre Klamotten und das Make-up hätte teilen können ... sowie etliche Geheimnisse.
Aber Conny war ein Einzelkind geblieben. Und deshalb würde sie nie wirklich verstehen können, was Mario dazu getrieben hatte, Ella und Danny bei ihrem hirnverbrannten Vorhaben zu unterstützen. Er hatte den Fluchtwagen gefahren. Er hatte bei einem Überfall mitgewirkt, der zum Ziel hatte, seiner Schwester ihre finanziellen Sorgen zu nehmen. Gut, vielleicht hatte er sich davon auch eine Provision versprochen. Vielleicht war das Geld aufgeteilt worden. Was es auch war, was ihn dazu gebracht hatte, der Kerl hatte seine Zukunft aufs Spiel gesetzt, um ein Problem seiner Schwester zu lösen. Ein Problem, das genau genommen nicht sein eigenes war.
Conny blickte zu Sam. Sediert durch die unfassbare Auflösung seiner simplen Frage danach, wer dieser Typ eigentlich war, stand er einfach nur da und schien sich die ebenso simple Antwort von Ella auf der Zunge zergehen zu lassen. Sie konnte es ihm förmlich ansehen, wie unter dem braunen Haarschopf die Puzzleteile zusammen gefügt wurden. Das passierte gerade auch in ihrem Kopf. Sie versuchte, alle Informationen zusammen zu bringen, die dann ein einziges großes Bild ergaben. Das Ganze. Und das Bild, das die tausend zusammen gesetzten Teile zeigten, war das verkorkste Familienfoto mit Ella in der Mitte, Mario und Danny jeweils zu ihrer Rechten und ihrer Linken.
"Mario ist der Typ aus dem Gefängnis", murmelte Conny.
"Ja", sagte Ella, "er ist genau an dem Tag frei gekommen, an dem auch Sam entlassen wurde. Weil wir ausgesagt haben, dass er zu dem Zeitpunkt, an dem der Überfall stattgefunden hatte, bei mir gewesen war. Was er auch wirklich war. Und dadurch, dass der Überfall nur ganz kurz vor dem Unfall passiert ist, hätte er nicht an zwei Orten gleichzeitig sein können. Dazu kommt noch, dass wir beide, als die Polizei eingetroffen ist, ganz normale Fußgänger waren. Das Auto hatte Danny schließlich weggefahren. Die Aussage der Zeugin, die Mario am Steuer des Autos gesehen haben wollte, wurde damit durch unsere widerlegt."
In Connys Vorstellung spielte sich das alles wie ein Film ab. Sie kombinierte die Informationen, die sie eben erhalten hatte und reicherte sie an den Stellen, die leer blieben, mit ihrer Fantasie an. Was daraus entstand, war ein düsterer Streifen, der so wahrscheinlich im Kino laufen könnte. Danny und Ella, wahrscheinlich mit Sturmmasken, um nicht erkannt zu werden und Mario, der im Auto wartet. Sie überfallen eine Tankstelle und fahren eilig davon. Mario sieht die Frau im Dunkeln nicht, erst als sie über seine Motorhaube donnert, wird er ihrer Anwesenheit gewahr. Er und Ella steigen aus, Danny bleibt im Wagen, warum auch immer. Ein Licht geht an, Danny schaltet schnell und fährt davon.
Mario und Ella sind die Zeugen des Unfalls. Sie sind die beiden mysteriösen Gestalten, von denen die für Sam so verhängnisvolle Aussage stammt. Sie sagen aus, dass sie Sams Auto gesehen hätten. Nein, nicht Sams Auto. Ein graues Auto mit Sams Kennzeichen. Ein Auto, das so aussieht wie Sams Wagen. Ein fantastisches Konstrukt, ein fundamentaler Stützpfeiler ihres Lügenuniversums. Kurze Zeit später wird Mario festgenommen, weil eine Zeugin einen tätowierten Typen im Zusammenhang mit dem Überfall gesehen hat. Anhand seiner Tattoos wird er identifiziert und einkassiert. Und dann?
"Ihr habt Mario entlastet ... und warum ist Sam daraufhin entlassen worden?", fragte Conny.
"Weil ich die Aussage in seinem Fall zurückgezogen habe", sagte Ella. "Wenn Sam nicht entlassen worden wäre, wenn die Ermittlungen nicht eingestellt worden wären, dann wäre in seinem Fall genauer nachgeforscht worden. Da wird dann ein ganzes Verfahren eröffnet, mit allem drum und dran ... Und früher oder später wäre dann natürlich alles aufgeflogen, weil Sams Fall so eng mit unserem verwoben ist."
Conny dachte darüber nach. Natürlich! Dadurch, dass sie Sams Kennzeichen für ihre Zwecke missbraucht hatten, war ungewollt ein Band geknüpft worden, in dem sie sich verheddert hatten. Sie hatten gedacht, schlau zu sein und jemand anderen über die Klinge springen zu lassen. Sie hatten gemeinsam Sam belastet und nicht damit gerechnet, dass einer von ihnen geschnappt werden könnte und das Blatt sich wenden würde. Der Überfall schien ihnen so perfekt geplant zu sein, dass gar nichts hätte passieren können. Oder nichts hätte passieren dürfen. Eine Unbekannte in der Gleichung und zack! Der ganze Plan ist zunichte gemacht.
Denn es war etwas passiert. Eine Frau hatte Mario gesehen. Die Unbekannte, die das Trio nicht auf der Agenda gehabt hatte. Sie hatte an dem Stützpfeiler gesägt. Sie hatte dafür gesorgt, dass einer der drei geschnappt worden war. Ob es ein grober Fehler von einem der drei gewesen war? Oder war es einfach nur verdammtes Pech? Mario hatte vielleicht nicht aufgepasst, hatte wahrscheinlich ein T-Shirt oder ein Hemd getragen, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, und hatte somit ein eindeutiges Identifikationsmerkmal direkt auf dem Silberteller präsentiert. Glück für Sam, Pech für das Überfallstrio.
Noch eine Sache zeigte sich für Conny in diesem Moment sehr deutlich. Was hatte Ella gesagt? Sie hatte die Aussage in Sams Fall zurückziehen müssen, da sonst der Fokus früher oder später auch auf Ella und Konsorten gefallen wäre. Der Zusammenhang zwischen Mario und Sam wäre früher oder später offenkundig gewesen. Doch was bedeutete das? Oder besser gefragt: was hätte es bedeutet, wenn Mario nicht geschnappt worden wäre?
"Das heißt also, dass ihr - wenn Mario nicht festgenommen worden wäre - die Aussage auch nicht revidiert hättet, richtig? Das hast du nur gemacht, damit die Wogen geglättet werden und damit nicht weiter ermittelt wird?", fragte Conny lauernd.
Darauf erhielt sie keine Antwort. Natürlich nicht, denn die Antwort hatte sie sich gerade selbst gegeben. Die einzige Reaktion auf die Frage war ein betretener Blick von Ella. Und dieser Blick reichte vollkommen. Für Conny war damit alles klar. Sie wollte auch keine weiteren Worte mehr von ihr hören. Es reichte. Das, was sie gehört hatte, reichte. Und sie sah Sam an, dass es auch für ihn jetzt genug war.
"Ihr seid sowas von krank", sagte Sam entsetzt und betonte dabei jedes einzelne Wort. "Sowas von krank, echt. War mein Kennzeichen das erste, das euch eingefallen ist oder warum habt ihr ausgerechnet mich angeschwärzt?"
"Es war ... naja, du ... du warst die Person, die es am ehesten verdient hätte ...", druckste Ella herum und trat einen Schritt zurück. Sie versuchte, Abstand von Sam zu gewinnen, weil sie sich der Zündkraft ihrer Worte deutlich bewusst war. Und sie hatten ihre Wirkung auch keineswegs verfehlt, denn in Sams Blick loderte grünes, giftiges Feuer auf.
"Ach so? Du spielst jetzt Fortuna? Geht's dir eigentlich noch gut?", rief Sam. Sein Gesicht wurde rot und Conny konnte ihm beim besten Willen diesen Ausbruch nicht übel nehmen.
"Du wolltest alles wissen. Außerdem solltest du eigentlich gar nicht überrascht darüber sein. Du hast dich an dem Tag, als wir zusammen im Restaurant waren sowas von daneben benommen, echt. Es war doch klar, dass das Pendel einmal zurück schwingen würde", sagte Danny und trat einen Schritt auf Sam zu, sodass er zwischen ihm und Ella stand.
"Ja, ich wollte alles wissen. Und jetzt weiß ich, dass ich euch nie wieder mehr sehen will. Ich ... scheiße, Conny, ich glaube, wir gehen jetzt besser, bevor echt noch ein Unglück passiert ...", knurrte Sam.
Er wandte sich Conny zu und sie konnte es ihm ansehen, dass er innerlich mit sich kämpfte. Am besten, sie blieben wirklich keine Minute länger mehr hier, am besten keiner sagte mehr noch ein Wort. Am besten nur schnell weg. Conny nahm Sams Hand, mit der anderen fasste sie an den Türgriff und wollte die Klinke herunter drücken, da sagte Sam: "Warte noch einen Moment."
Er drehte sich zu Danny und Ella um und Conny rutschte das Herz in die Hose. Was würde er tun? Würde jetzt doch das angekündigte Unglück kommen? Ihr Griff um Sams Hand wurde fester.
"Du hast die Geschichte mit dem geklauten Kennzeichen erlogen, oder? War Jay auch in die ganze Sache involviert? Hast du ihn zu mir geschickt?", fragte er Mario. In dessen Gesicht zeigte sich Verwirrung.
"Wer ist Jay ...?", fragte er.
"War es so?", drängte Sam.
"Ja ... die Geschichte war gelogen, um dich auf die falsche Fährte zu locken. Um zu verhindern, dass du genauer nachforscht. Hat ja wunderbar funktioniert", sagte Mario und lachte ein kurzes, zynisches Lachen.
"Und was verdammt nochmal ist mit Jay? Hast du ihn auch eingespannt?", kam Sam wieder auf die andere Frage zurück. Zuerst hatte auch Conny Fragezeichen im Kopf und sie suchte in der kilometerlangen Bibliothek ihres Gedächtnisses nach dem Namen. Jay, Jay, wer war das nochmal? Dann fiel bei ihr der Groschen. Sam hatte es ihr doch erzählt! Da war dieser Typ gewesen, der ihm von jemandem erzählt hatte, der ein Kennzeichen gestohlen hatte ... oder dem es gestohlen worden war? So ganz konnte sie sich nicht erinnern, aber es hatte etwas mit einem Kennzeichen zu tun gehabt, dessen war sie sich sicher.
"Wer zum Teufel ist Jay? Nein, Mann! Ich kenne den Typen nicht und ich habe keine Ahnung, wovon du gerade redest", sagte Mario und hob abwehrend die Hände. Dann überlegte er einen Moment und setzte hinzu: "Falls es der Typ mit der Brille war ... ich habe euer Gespräch mitbekommen. Der Hof war zwar groß, aber nicht so groß, dass man euch beide nicht hätte hören können."
Sam nickte und wandte sich dann wieder Conny zu. Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Tür und Conny drückte nun endlich die Klinke herunter und sie traten ins Treppenhaus. Sie gingen, ohne sich zu verabschieden. Als sie das Treppenhaus verlassen hatten und draußen standen, kam es Conny für einen sonderbaren Moment so vor, als habe sie das alles gerade nur geträumt. Als seien sie gerade nicht bei Danny und Ella in der Wohnung gewesen, die sich mit gestohlenem Geld finanzierte, als seien sie gerade nicht mit einer Schreckschusswaffe bedroht worden, als sei gar nichts von all dem gerade real passiert.
Conny fühlte eher die seltsame Benommenheit, die einen wie ein sanfter Gazeschleier einhüllte, wenn man aus einem Kinosaal nach draußen trat, wenn sich die Augen wieder ans Tageslicht gewöhnten und einem noch die zahllosen Bilder und Szenen und eindrücklichen Zitate aus dem Streifen durch den Kopf gingen, den man gerade gesehen hatte. Zahllose Eindrücke, die im Gehirn verarbeitet wurden, die die Synapsen überlasteten und einen dazu veranlasste, noch lange danach daran zu denken, anstatt sich auf seine Umgebung zu konzentrieren.
"Ich fasse es nicht. Dass die sich auf ihren Lügen ein schönes Leben aufbauen ... dass sie fast mit ihrem ganzen Plan durchgekommen sind ...", murmelte Sam.
"Ja. Dass sie damit durchkommen. Hast du noch an die junge Frau gedacht? Sie wird keine Gerechtigkeit erfahren können, wenn wir die Sache für uns behalten. Scheiße, jetzt wollten wir endlich mit dem ganzen Mist abschließen und stecken doch mittendrin", sagte Conny und verzog ihr Gesicht.
Sie und Sam liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Hatte er gehört, was sie gerade gesagt hatte? Oder hing er mit dem Kopf immer noch in der beneidenswerten und doch so negativ belasteten Wohnung von Danny und Ella?
"Bereust du es, hierher gekommen zu sein?", fragte Conny nach einer Weile.
Sam überlegte einen Moment und sagte dann entschlossen: "Nein. Es ist schon gut so, wie es ist."
"Meinst du, wir werden noch etwas von denen hören? Ich denke, sie werden besorgt sein, dass wir vielleicht doch mit den Informationen zur Polizei gehen ...", überlegte Conny laut.
"Sollen sie nur", gab Sam zurück und zuckte die Schultern.
"Hast du vor, zur Polizei zu gehen?", fragte Conny.
"Einerseits würde ich es liebend gerne tun. Zum einen wegen der Frau, wie du gesagt hast. Zum anderen einfach nur, um diesen Pennern ihre eigene Medizin zu geben. Aber Fakt ist, dass ich dir das gar nicht wirklich beantworten kann. Wie gesagt, einerseits würde ich gerne, aber andererseits ... Ich weiß es nicht. Sonst wird das eine nie endende Geschichte. Stell dir vor, wir gehen mit dem, was wir gerade gehört haben, zur Polizei. Die werden dann im Gegenzug mit etwas anderem ankommen. Wenn meine ... Allüren, sagen wir mal, dazu gereicht haben, dass man mich aus reiner Antipathie eines Verbrechens beschuldigt, das ich nie begangen habe, was tun sie dann, wenn ich sie verpfeife? Das nimmt dann kein Ende. Ich will der Geschichte aber ein Ende setzen. Ich will jetzt einen Punkt machen", sagte Sam und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
Conny war berührt von seinen ehrlichen Worten. Und sie konnte sie auch unterschreiben. Auch sie wollte, dass es hier ein Ende nahm. Nun, eigentlich hatte sie es schon viel eher enden lassen wollen. Sie hatte den Besuch bei Danny verhindern wollen. Aber vielleicht war es auch einfach gut so, dass sie hier waren. Nur hatte sie sich erhofft, dass sie jetzt endlich ihre Ruhe haben könnten. Doch die Frau lag ihnen beiden noch auf der Seele, obwohl Sam und Conny am wenigsten dafür konnten, was ihr widerfahren war.
Machten sich Ella, Danny und Mario denn etwas aus der Frau? Hatten sie wenigstens Schuldgefühle, weil sie einen jungen Menschen überfahren hatten und das Ganze mit allen Mitteln vertuschen wollten? Wachten sie mitten in der Nacht auf, weil dieser Vorfall sie noch bis in die Träume hinein verfolgte oder hatten sie es so tief verdrängt, dass es nicht mehr an die Oberfläche kam? Conny stellte für sich selbst fest, dass sie das nicht könnte. Sie wusste nicht, wie die drei damit umgingen und vielleicht würde sie es auch nicht erfahren.
"Und was machen wir jetzt? Es kommt mir so unpassend vor, jetzt einfach ... weiter zu leben als ob nichts gewesen wäre. Weißt du, was ich meine?", fragte Conny und blickte zu Sam.
Der nickte und schwieg eine ganze Weile und liefen einfach nur stumm nebeneinander her. Conny glaube fast, keine Antwort mehr auf ihre Frage zu bekommen, dann sagte er: "Wir ändern jetzt alles, was wir ändern wollen."
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