Kapitel 20 - Reminiszenz
Sam bedeutete Conny mit einer zaghaften Handbewegung, einzutreten. Wenn die Situation nicht so spannungsgeladen wäre, dann hätte Conny eine witzige Bemerkung darüber gemacht, dass Sam nun zum Gentleman transformiert war. Aber sie ließ es lieber. Wie sagte man? Schweigen und genießen. Genau das tat sie. Sie genoß es, dass Sam allem Anschein nach doch etwas aus der ganzen Misere gelernt hatte. Sie hatte keine Wendung um hundertachtzig Grad von ihm erwartet. Jeder noch so kleine Schritt in die richtige Richtung war Gold wert.
Sie trat ein und sah sich um. Im Wohnzimmer, dessen Tür wie immer offen stand, war niemand. Aber irgendjemand musste doch hier sein, denn die Fenster hatten sich unmöglich von alleine aufgemacht. Oder war vielleicht sogar eingebrochen worden? Die Wohnungstür war zwar unbeschädigt, aber es gab sicherlich Mittel und Wege, eine Tür aufzubekommen, ohne sie mit einem Brecheisen aufhebeln zu müssen. Conny warf einen Blick zu Sam, der sich nervös umsah.
"Mama?", fragte Sam in die Wohnung hinein. Aus dem Schlafzimmer war daraufhin ein Poltern zu hören, als wäre etwas umgefallen. Es war jemand hier! Conny zuckte zusammen und Sam sprang einen Schritt zurück. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, aber nun öffnete sie sich. Heraus kam ein Mann, den Conny noch nie wahrhaftig vor sich gesehen hatte, sondern nur einmal auf einem Foto. Er war nicht sehr groß, hatte eine schmale Statur, kurzes braunes Haar und trug eine Brille. Gekleidet war er in eine Jeans und ein kariertes Hemd.
"Sam?", fragte der Mann und kam auf ihn zu. Er sah Conny einen Moment lang an, konnte sie aber offenbar nicht zuordnen und sah dann wieder zu Sam.
"Papa, was machst du hier? Hast du gehört, dass ...?", fragte Sam.
"Ja, ich habe gehört, dass deine Mutter im Krankenhaus gelandet ist", sagte der Mann und sah Sam mit scharfem Blick durch seine rahmenlosen Brillengläser hindurch an. Jetzt, wo Conny ihn leibhaftig vor sich stehen sah, fielen ihr die Ähnlichkeiten zu Sam in aller Deutlichkeit ins Auge. Er hatte dieselbe schmale Statur wie Sam. Und auch das Gesicht hatte dieselben kantigen Züge. Sie sahen sich so ähnlich. Der Blick ähnelte dem, den Sam immer dann aufsetzte, wenn er eine seiner gepfefferten Argumentationen startete.
Der Mann fasste Sam bei den Schultern und sah ihn eindringlich an. Das war so ein Moment, der ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch einleitete, bei dem man sich als Außenstehender fehl am Platz fühlte. Conny war ihre eigene Anwesenheit in dieser Situation sehr unangenehm und sie hätte sich am liebsten zurück gezogen ... oder die Flucht durch das Treppenhaus ergriffen. Sams Vater beachtete sie gar nicht, weshalb sie das Gefühl beschlich, als würde sie in einem privaten familiären Moment eine deplatzierte Nebenfigur sein, die einfach nur dastand und glotzte. Sie schaute auf den Boden.
"Sie hat mich angerufen. Ich habe mir so schnell ich konnte Urlaub genommen und bin hierher gekommen. Und dann darf ich mir anhören, was mein Sohn die letzten Jahre so treibt", sagte er. Sam antwortete nicht. Conny warf einen verstohlenen Blick in seine Richtung. Ihm war die Röte ins Gesicht gestiegen. Es war für Conny nur zu erahnen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Ihr selbst gingen sehr viele Fragen durch den Kopf. Sie wusste, dass der Kontakt zwischen Sam und seinem Vater nur sehr sporadisch geworden war, seitdem er in England wohnhaft war. Sam hatte ihm zwar von Conny erzählt, gesehen hatte er sie aber nie.
"Willst du nichts dazu sagen?", fragte sein Vater.
"Ich ... was soll ich denn dazu sagen, Mann? Es tut mir ja leid ...", brummte Sam.
"Dann sag das deiner Mutter."
Er ließ Sam los und schaute Conny an. Sein Blick lastete schwer auf ihr, obwohl es nicht derselbe Blick war, den er für seinen Sohn in petto hatte. Ihm fehlte die Schärfe, es war vielmehr ein forschender Blick, wie ein visueller Lügendetektor. Unter diesem Blick fühlte sich Conny wie die Komplizin eines Verbrechers, mit dem sie gerade zusammen in flagranti ertappt worden war. Dieser Blick hatte das Potenzial, jemanden zur Sau zu machen, ohne dafür auch nur ein Wort äußern zu müssen.
"Wer bist du denn?", fragte er gerade heraus.
"Das ist meine Freundin Conny", sagte Sam. Er hatte sich wohl schnell wieder gefasst. In seiner Stimme schwang die übliche Portion antiautoritäre Renitenz mit. In Connys Hinterkopf wurde eine Assoziation wach; die beiden waren wie zwei Hähne, die um die höhere Rangordnung konkurrierten. Das Gesicht von Sams Vater entspannte sich, als sei Sams Antwort das gewesen, was er hatte hören wollen. Was hatte Sam ihm über sie erzählt? Oder seine Mutter?
"Freut mich, dich kennen zu lernen ... wenn auch die Umstände nicht erfreulich sind", sagte Sams Vater und gab Conny die Hand. Sie schüttelte sie perplex und nickte. Sein Tonfall klang nun deutlich milder. Und irgendwie tat er Conny in diesem Moment leid. Sam und sie waren nicht erst seit gestern ein Paar und für Sams Vater musste es ein unschönes Gefühl sein, erst nach so langer Zeit die Freundin seines Sohnes zu sehen.
"Ich kann dich morgen zu ihr fahren", sagte er dann an Sam gewandt.
"Ich kann auch selber ...", sagte Sam, wurde aber harsch unterbrochen.
"Auf gar keinen Fall, mein Freund", sagte sein Vater mit einem Blick, der keinen Widerspruch zuließ. Sam zuckte mit den Schultern und errötete von Neuem.
"Ich werde heute Nacht hier schlafen. Auf der Couch."
"Okay."
"Und wenn du möchtest", sagte er wieder an Conny gewandt, "kannst du gerne hier bleiben. Ich wollte für heute Abend Gnocchi mit Gemüse machen."
Conny überlegte einen Moment lang. Dann sagte sie: "Danke, ich bleibe gerne."
"Das freut mich. Ich werde jetzt noch schnell etwas einkaufen", sagte er und nahm sich den Schlüsselbund von der Kommode. Conny trat von der Tür weg und einige Augenblicke später war Sams Vater auch schon draußen. Wortlos ging Sam ins Wohnzimmer und warf sich auf die Couch. Er streckte seine Arme über die Lehne aus und schaute Conny mit leerem Blick an.
"Alles in Ordnung?", fragte sie.
"Wie man's sieht. Es kommt mir gerade so vor, als würde ich in einem alten Gebäude stehen und das Dach würde über mir zusammenfallen. Kannst du das nachvollziehen? Heute entlassen, erfahre ich, dass meine Mutter einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und wen treffe ich zuhause an? Meinen Vater ...", sagte Sam. Seine Stimme klang müde.
"Ich verstehe. Aber es ist doch richtig toll von ihm, dass er extra aus England gekommen ist, um nach deiner Mutter zu sehen ...", sagte Conny und setzte sich neben Sam auf die Couch.
"Naja, er hat sich nicht mehr oft gemeldet, seitdem er dort lebt ...", sagte Sam und biss sich auf die Unterlippe.
"Und es ist auch nett, dass er für uns kochen will, findest du nicht?", versuchte Conny die schleppende Unterhaltung aufrecht zu erhalten.
"Ja ... Er hat früher auch immer gerne gekocht", antwortete Sam unbeteiligt.
Dann schwiegen sie sich an. Es war eine seltsame Situation. Und dabei war es noch gar nicht lange her, seitdem Conny am Telefon mit einem ganz anderen, euphorischen Sam gesprochen hatte. Sie sah ihn an, wie er Löcher in die Luft starrte. Bestimmt dachte er nach und versuchte, sich ein Bild von der ganzen Situation zu machen. Vielleicht versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Conny selbst konnte nur annähernd erahnen, wie er sich fühlen musste. Aber sie steckte nicht in seinem Körper und vor allem nicht in seinem Kopf. Sie konnte nur sagen, dass sie ihn verstand, aber es eins zu eins nachfühlen, das würde sie nie können.
Doch in die gegenwärtigen Lethargie wollte Conny Sam nicht fallen lassen. Er würde sich darin verlieren, wie in einem Labyrinth ohne Ausgang. Sie würde versuchen, ihn abzulenken. Und zwar von allem. Es würde nichts nützen, wenn sie ihn jetzt weiter zu dem Vorfall mit dem Auto ausfragen würde. Das wäre, als würde sie ihn vom Regen in die Traufe schubsen. Sie würde sensibel vorgehen müssen. So sensibel, wie er es bei ihr zu oft nicht geschafft hatte. Eigentlich war es paradox. Denn nun musste Conny demjenigen beiseite stehen, der sie gerade in der letzten Zeit regelmäßig zum Weinen gebracht hatte.
Aber wozu war sie sonst hier? Gleiches mit Gleichem zu vergelten war nicht ihre Art. Was hatte sie hierhin geführt? Wenn sie Gleiches mit Gleichem hätte vergelten wollen, dann wäre sie nicht zu Sam gekommen, dann wäre sie ihm nicht in die Arme gefallen. Conny war keine Nemesis und sie war es auch nie gewesen.
"Soll ich heute Nacht hier bleiben?", fragte sie aus einem spontanen Impuls heraus. Sam sah sie mit einem wenig sagenden Blick an.
"Das wäre gut", sagte er dann.
"Na schön, dann machen wir es so. Ich rufe nachher noch meine Eltern an und sage ihnen Bescheid."
"Mach das."
Wieder Stille. Conny dachte angestrengt nach, aber ihr wollte partout kein Gesprächsthema einfallen, das nicht in irgendeiner Form entweder mit dem Schaufensterpuppen-Unfall, mit Sams Auto, mit Danny und Ella oder mit Sams Eltern zusammenhing. Zu ihrem Erstaunen war es dann aber Sam, der die Unterhaltung weiterbrachte.
"Bin ich ein schlechter Mensch?", fragte er. Conny zog die Augenbrauen hoch. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Ja, Sam musste in den letzten Tagen wirklich viel nachgedacht haben. Andernfalls wäre er nicht auf die Idee gekommen, ihr diese Frage jetzt zu stellen.
"Nein", sagte Conny gerade heraus. Er war kein schlechter Mensch, auch wenn er sie herunter putzen konnte, wie sonst keiner? Nein. Einfach nein. Weil sie wusste, wie er wirklich sein konnte. Weil sie wusste, was hinter der seit geraumer Zeit ziemlich bissigen Fassade steckte. Es war ein unzufriedener Junge, der den Beistand von jemandem brauchte.
"Echt nicht? Auch nicht, wenn ich so viel Scheiße baue?", hakte Sam nach.
"Einsicht ist der erste Weg zur Besserung", entgegnete Conny. Sie lächelte Sam an und strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Er erwiderte das Lächeln und legte den Kopf schief.
"Was ist?", fragte Conny und kicherte.
"Nichts. Ich habe dich so vermisst in den paar Tagen. Ich bin echt froh, dich wieder zu sehen. Ich bin richtig froh, dass du mich nicht verlassen hast ..."
"Wie kommst du darauf ...?", fragte Conny.
"Wenn du daran geglaubt hättest, dass ich tatsächlich eine Frau überfahren würde ... und sie dann wegen mir schwer verletzt ins Krankenhaus kommt ... und ich Fahrerflucht begangen hätte ... also, wenn du das wirklich geglaubt hättest, ja? Hättest du mich dann nicht verlassen wollen?", fragte Sam und sah Conny aufmerksam an.
Sie ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer wandern und dachte nach. Wie sollte sie denn diese Frage beantworten, wenn die Situation eben nicht so gewesen war? Sie hatte eben nicht daran geglaubt, dass Sam das wirklich getan haben könnte. Deshalb hatte sie auch nicht daran gedacht, ihn zu verlassen. Wenn seine Rücksichtslosigkeit am Lenkrad und seine blöden Kommentare zu ihrem Linsenpatty sie nicht dazu verleitet hatten, Schluss zu machen, warum sollte es dann eine falsche Beschuldigung tun?
Nur was wäre gewesen, wenn die Beschuldigung tatsächlich nicht falsch gewesen wäre? Wenn Sam das wirklich getan hätte? Darauf wollte Connys Verstand tatsächlich keine Antwort ausspucken. Das einzige, was ihr immer wieder in den Sinn kam, war, dass es eben nicht so war. Es war nicht so.
"Das weiß ich nicht", sagte sie dann. "Aber es war ja nicht so. Warum verschwenden wir unsere Gedanken an Dinge, die nicht sind? Warum konzentrieren wir uns nicht auf das, was ist? Und das, was gerade ist, ist das: du bist hier, ich bin hier und dein Vater kommt bestimmt gleich vom Einkaufen zurück ..."
Conny warf einen Blick durch das Fenster, das direkt hinter der Couch war. Noch war niemand zu sehen. Sie schaute zu Sam. Er erwiderte ihren Blick. Dann nahm er sie in den Arm. Und in diesem Moment war es Conny klar, dass es in allem Schlechten auch etwas Gutes gab. Ihr wurde deutlich, dass eine Nemesis an ihrer Seite sie für so viel Schönes blind gemacht hätte. Sie schwieg und genoss.
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