Kapitel 17 - Seines Weges
Der Schlüssel, der sich im Schloss drehte, weckte Sam aus dem Nickerchen oder dem Tagtraum oder was auch immer es sein mochte, in das er gesunken war. Es hatte sich angefühlt, als sei er die ganze Zeit über wach gewesen, aber in dem Moment, in dem der Beamte zu ihm in die Zelle trat und der sanfte Hauch von Schlaf aus seinem Gesicht fiel, bemerkte er, dass er für kurze Zeit weg gewesen sein musste. Erst wo er wieder im Hier und Jetzt war, wurde ihm bewusst, wie angenehm der vorherige Zustand gewesen war.
Falls es sich um einen Tagtraum gehandelt hatte, dann konnte sich Sam an nichts mehr erinnern. Vielleicht hatte er auch überhaupt nichts geträumt und war einfach nur in einem Standby-Modus verharrt. Oder er hatte den Traum auch schon wieder vergessen. Er hatte irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein geschwebt - der selige Zustand, in dem Sorgen und Gedanken endlich die Klappe hielten - und dies nur bemerkt, als der Zustand wieder vorbei war.
"Herr Witter ...?", fragte der Beamte. Es war der junge Kerl. Der mit dem Antrag. Hatte er das Formular mitgebracht? Obwohl Sam ihm gesagt hatte, dass er auf den Antrag scheißen würde? Bei dem Gedanken musste er beinahe lachen. Ja, er hatte sich entschuldigt. Es gab keinen Grund, anzunehmen, dass er nicht den Antrag dabei hatte. Oder weswegen sollte er sonst hier in der Tür zu Sams Zelle stehen?
"Ja ...?", fragte Sam und stand vom Bett auf.
"Sie können gehen", sagte der junge Kerl schlicht.
Die Einfachheit dieser Worte war für Sam im ersten Moment gar nicht greifbar. Sie können gehen. Nur drei Worte, die sich in Sams Kopf verschlangen wie Flechtbänder und Fragen aufwarfen. Sie können gehen. Wunderschöne Worte, ganz besonders in Sams Situation. Es waren die Worte, nach denen er sich unbewusst gesehnt hatte, sie aber für so unwahrscheinlich gehalten hatte, dass sie in sein Unterbewusstsein verbannt worden waren. Eine von tausend Möglichkeiten, nur sie schien ihm die unwahrscheinlichste von allen gewesen zu sein. Warum sollte er auch einfach so hier heraus spazieren können?
Er hatte sich schon innerlich darauf gefasst gemacht, die Sache mit der Schaufensterpuppe auf den Tisch legen zu müssen. Einfach alles auf den Tisch legen und hoffen, dass es dazu beitragen würde, dass er endlich hier raus konnte. Und nun stand eben doch dieser Beamte hier in der Tür und hatte die magischen Worte ausgesprochen. War das sein Ernst oder machte er nur Spaß? Aber warum sollte er sich mit so etwas einen Spaß erlauben? Hier drinnen war das einer der miesesten Scherze, die man sich erlauben könnte. Aber das junge Gesicht sah aus, als meine der Beamte es absolut ernst.
"Was ...?", hauchte Sam.
"Ja, Sie werden heute entlassen", sagte der Beamte.
"War Conny hier?", fragte Sam und schaute den Mann aufmerksam an.
"Wer? Nein, es hat wohl etwas mit den Zeugenaussagen zu tun. Sie sind anscheinend nicht der Richtige ...", sagte der junge Mann. Dann, als er sah, dass Sam sich immer noch nicht in Bewegung setzte, fügte er mit der Andeutung eines schelmischen Grinsens hinzu: "Oder wollen Sie lieber hier bleiben?"
"Nein, nein", sagte Sam schnell.
Als er kurze Zeit später draußen vor dem Tor stand, konnte er es immer noch nicht glauben. Er war tatsächlich frei. Man hatte ihm seine eigene Kleidung und sein Handy wieder gegeben. Mehr hatte er auch gar nicht dabei gehabt, als sie ihn mitgenommen hatten. Es war ein bisschen so gewesen, als würde er wie in einem Traum wandeln. Als sei es bloß die Fortsetzung des Tagtraums gewesen, in den er unbemerkt versunken war. Oder war er überhaupt nicht aufgewacht?
Er schaute hoch zur Sonne und versuchte sich zu entsinnen, ob sie genauso schien wie am Tag zuvor. Gestern hatte er noch den Eindruck gehabt, als würde die Sonne nur eine schwache Menge an Licht für den Gefängnishof übrig haben. Dass das nur Einbildung war, wusste er zwar, aber jetzt, wo er wieder draußen war, wollte er die Sonne förmlich in sich aufsaugen. Er wollte ihre Sonnenstrahlen inhalieren und die Wärme in seinem Körper speichern. Für schlechte Tage. Einen Augenblick lang blieb er im wärmenden Licht der Sonne stehen, dann setzte er sich in Bewegung.
Ohne einen weiteren Blick zurück zu werfen, lief er zur nächsten Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Zwei Mal in der Stunde fuhr ein Bus. Den letzten hatte er nur um fünf Minuten verpasst. Er würde also noch einige Zeit warten müssen. Alle Sitzplätze an der Haltestelle waren noch frei. Als Sam sich hinsetzte, fiel ihm ein, dass er zum Busfahren Geld brauchte. Seinen Geldbeutel hatte er aber ziemlich sicher nicht dabei, das wusste er.
Hoffnungsvoll langte er in die Taschen seiner Jogginghose und ertastete eine Schachtel Zigaretten und ein Papier. Mit einer freudigen Vorahnung zog er letzteres heraus und stellte mit Entzücken fest, dass es sich um einen zusammengefalteten Fünf-Euro-Schein handelte. Erleichtert strich er den Schein glatt und hielt ihn triumphierend nach oben. Der würde reichen, um bis nach hause zu kommen.
Sam zog auch die Schachtel mit Zigaretten hervor, öffnete sie und suchte nach einem Feuerzeug. Er hatte keines dabei. Das ärgerte ihn, denn er hatte schon für seine Verhältnisse sehr lange auf Nikotin verzichtet. Außerdem wollte er sich die Zeit vertreiben, bis der Bus endlich kam. Allerdings hatte er, wie ihm nun auch klar wurde, die ganze Zeit über gar keine Lust zum Rauchen gehabt. Die Vorfälle der letzten Tage hatten ihm die Lust komplett verdorben.
"Darf ich eine haben?", fragte plötzlich jemand von der Seite. Da stand der junge Mann mit den vielen Tattoos, den Sam aus dem Gefängnishof kannte. Er war offenbar auch entlassen worden. Statt des textilen Einheitsbreis in Grau trug er ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Nadelstreifenhose. Einzig und alleine weil er die Hemdsärmel nach oben gekrempelt hatte und das den Blick auf seine auffälligen Tattoos freigab, hatte Sam ihn erkannt.
"Klar. Aber ich habe kein Feuerzeug dabei", sagte Sam und wunderte sich über die seriöse Kleidung, die der Kerl trug. Wenn er das trug, dann bedeutete es, dass sie ihn wahrscheinlich auch in dem Aufzug verhaftet hatten. Womöglich auf seiner Arbeit. Sam verspürte augenblicklich Mitleid mit ihm, auch wenn er nicht wusste, weshalb der Kerl eingebuchtet worden war. Vielleicht war er auch ein Räuber ...?
Dabei kam ihm in den Sinn, dass er genauso gut auch Mitleid mit sich selbst haben konnte. Schließlich hatte er sehr wohl die ganzen Köpfe hinter den Gardinen gesehen, als er auf dem Rücksitz des Streifenwagens gesessen hatte. Neugierige Augen und tuschelnde Münder. Er hatte sie gesehen und er wusste, dass diese Münder im Verbreiten von Neuigkeiten schneller waren als das Internet. Die Nachbarschaft war zuverlässiger als jedes Glasfaserkabel.
"Ich habe eines. Nur keine Kippen mehr", sagte der Mann und grinste. Sam hielt ihm die Packung hin und nahm sich dann selbst auch eine Zigarette. Der junge Typ zündete zuerst Sams Zigarette an, dann seine eigene.
"Und? Auch entlassen worden?", fragte Sam nach dem ersten Zug. Er musste sich die Zeit vertreiben, bis der Bus endlich kam. Da war ihm Gesellschaft gerade recht. Der junge Mann wiegte unsicher den Kopf hin und her.
"Wie man's sieht. Ich habe gar nichts angestellt. Schön, dass die jetzt auch drauf gekommen sind", sagte er und nickte in Richtung des grauen Klotzes, von dem sie noch gar nicht allzu weit entfernt standen.
"Wie meinst du?", fragte Sam.
"Naja, da war so ein Penner, der mein Kennzeichen geklaut haben muss ...", sagte er.
Sam machte große Augen und ihm fiel beinahe die Zigarette aus der Hand. Wo gab es noch solche Zufälle? Sein Gegenüber musste gar nicht weiter reden und Sam wusste schon direkt, was Sache war.
"... und damit Fahrerflucht begangen hat?", vollendete er den Satz.
Der junge Mann hielt inne und zeigte dann mit der Zigarette auf Sam und nickte zustimmend.
"Woher weißt du das?", fragte er verblüfft.
"Weil es bei mir wahrscheinlich nicht anders war", sagte Sam und erzählte ihm von Jay und was der ihm erzählt hatte. Sein Gegenüber hörte ihm aufmerksam zu, gab aber keinen Kommentar ab, als Sams Ausführung geendigt hatte. Man sah ihm das Entsetzen regelrecht an. Die beiden rauchten schweigend ihre Zigaretten, als sei bereits alles gesagt worden. Dann fragte Sam: "Nimmst du auch den Bus?"
"Ne, meine Mutter wollte mich abholen. Sie müsste bald hier sein", sagte er. Er trat seine Zigarette aus, sah sich um und krempelte die Ärmel herunter. Als er Sams Blick bemerkte, sagte er: "Sie hasst die Tattoos."
Von weitem waren die Geräusche eines großen, kraftvollen Motors zu hören. Der Bus kam angetuckert und Sam stand auf. Er verabschiedete sich von dem jungen Mann und stieg ein, als das Gefährt zum Stehen kam. Er würde dem Kerl wahrscheinlich nie wieder mehr begegnen, aber dieses kurze Gespräch hatte seine Stimmung irgendwie aufgehellt. Das war ein Leidensgenosse gewesen. Ein Typ, dem er nicht anders ergangen war als Sam. Ein normaler Typ, der aus seinem Alltag gerissen worden war, wegen ... lauter dummen Zufällen.
Die fünf Euro reichten locker für ein Ticket bis zu der Bushaltestelle am Feldweg. Dort, wo er sich mit Conny hatte treffen wollen. Jetzt komme ich doch noch, aber mit ein bisschen Verspätung, dachte Sam, als er sich auf einem der weichen Sitze nieder ließ. Die Türen schlossen sich und der Bus fuhr ruckelnd an.
Der Betonklotz zog an Sam vorbei. Durch die riesengroße Scheibe warf er einen letzten Blick darauf. Dann kamen ein paar Häuser und dann eine lange Zeit nur noch Bäume. Apfelbäume. Streuobstwiesen. Außer Sam waren nur wenige Leute in dem Bus. Ein altes Ehepaar, ein Mädchen mit Kopfhörern, eine Frau mit einer prall gefüllten Einkaufstasche. Sam lehnte seinen Kopf an die Glasscheibe und genoss die Ruhe. Hier und jetzt war es eine ganz andere Ruhe als hinter den Mauern. Dort war die Ruhe erdrückend, hier draußen war sie befreiend.
Was würde auf Sam warten, wenn er wieder da war? Hatte er viel verpasst? Es kam ihm so vor, als wäre er monatelang weg gewesen. Er konnte nicht einschätzen, mit was er zu rechnen hatte. Es konnte sein, dass Conny keinen Kontakt mehr wollen würde. Es konnte sein, dass Danny nicht mehr mit ihm befreundet sein wollte. Seine Mutter würde ihn bestimmt nicht auf die Straße setzen, da war er sich sicher. Aber sie würde ihm vielleicht einige Tage lang aus dem Weg gehen und nur das Nötigste mit ihm sprechen.
Was war überhaupt mit ihr los? Es kam Sam sehr verdächtig vor, dass sie sich nicht gemeldet hatte. So wütend konnte sie doch gar nicht sein? Sie war es eigentlich gewöhnt, dass ihr Sohn kein Engel war, aber so eine große Sache hatte es doch noch nie gegeben. Und dann natürlich der Tratsch der Nachbarn. Als Sam sich wieder das entsetzte, blasse Gesicht seiner Mutter in Erinnerung rief, gab ihm das einen Stich ins Herz.
Connys Tränen, Mamas Sorgen - alles sein Werk. Er war die Dampfwalze im Leben von anderen, die über deren Glück rollte und alles planierte, was ihr in den Weg kam. Und warum? Damit er sein persönliches Glück ausleben konnte. War es nicht möglich, beides zu haben? Dass Freude und Leid nicht so einseitig verteilt waren? Doch. Sicher. Er wusste zwar noch nicht wie, aber ihm war klar, dass er es einfach würde versuchen müssen. Und als ob das Universum ihm einen Schubs in die richtige Richtung geben wollen würde, hatte er direkt heute schon die Gelegenheit dazu.
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