Kapitel 1 - Ekstase
Die Vorfreude stand ihm ins hagere Gesicht geschrieben. Gleich würde es wieder soweit sein. Es war ein bisschen wie Weihnachten - man wusste schon, was kam und das, worauf man sich freute, hatte man bildlich vor Augen. Man wusste, wie schön der Moment sein würde, wenn es endlich soweit war. In seinem Fuß spürte er ein leichtes Kribbeln. Jetzt noch nicht, dachte er sich. Gleich, aber jetzt noch nicht. Er drehte die Musik ein wenig lauter. Die Bässe wummerten und ließen den mattgrauen Sportwagen beben. Mit beiden Händen griff er fest ans Lenkrad, spürte das warme Leder unter seinen Händen. Er hatte das, was gleich kommen würde, schon im Gefühl.
Die Autobahnauffahrt hatte er bereits hinter sich gelassen. Der Fahrtwind war Musik in seinen Ohren, der sich mit dem Schlagzeug aus seiner Musikanlage mischte und zusammen die Komposition der lupenreinen Freiheit ergab. Da, nur noch wenige Meter und das heiß ersehnte Schild trat in sein Sichtfeld. Dann begann der Spaß - auf den Kilometern, auf denen die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben war.
Die Freude, die ihn beflügelte, war so rein, so pur, er fühlte sich und seinen Körper in dem Moment als vollkommene Einheit. Er war er. Er war in sich. Er spürte das Leben. Gleich würde er es noch intensiver spüren, gleich, wenn er richtig aufs Gaspedal treten konnte. Ein bisschen wie Fliegen würde es sein. Loslassen. Eins sein.
Es wäre alles noch ein wenig schöner gewesen, wenn seine Liebste sich nicht neben ihm winden würde wie ein Würmchen. Gleich würde sie wieder sagen: "Sam, mach doch bitte nicht wieder so schnell, wir haben's ja nicht eilig." Sie verstand es nicht. Er tat es nicht, weil er es eilig hatte. Er tat es, weil es ihm Leben gab. Es waren nur diese Minuten, in denen er sich wirklich frei fühlen konnte. Wollte sie das einfach nicht verstehen? Gut, sie hatte es auch nicht nötig. Madame Conny brauchte keinerlei Ersatzbefriedigung, wenn das eigene Leben doch befriedigend genug war.
"So, wie du deine Malerei hast, habe ich das Auto", hatte er ihr erklärt. Aber das hätte er sich schenken können. Genauso gut hätte er versuchen können, einer Katze die Substantivierung zu erklären. Früher hatte er sich geschworen, niemals mit einer Frau zusammen sein zu wollen, die nicht seinen Lebensstil akzeptierte. Bald hatte er jedoch feststellen müssen, dass er für Conny eine Ausnahme machen musste. Wie bei ihr fühlte er sich sonst bei niemandem. Auch wenn er es nicht zugeben wollte; sie gab ihm mehr Halt als andersherum.
"Sam, bitte", wimmerte sie neben ihm und bohrte ihre langen, rosa lackierten Fingernägel in ihre hellgraue Handtasche. Sie rutschte tiefer in den Sitz. Das nahm Sam nur aus dem Augenwinkel wahr. Er drehte die Musik noch ein wenig lauter. Gleich. Gleich war es endlich soweit. Wenn er es richtig genießen wollte, dann musste er das wimmernde Würmchen auf dem Beifahrersitz ausblenden. Sam hatte nur noch Augen für die Straße.
Sowie er das Schild passierte, drückte er das Gaspedal mit einem Ruck bis zum Boden durch. Der Wagen zog an und rauschte über den Asphalt. Durch den Schwung wurde Sam in den Sitz gedrückt. Wie er dieses Gefühl liebte! Ohne zu Blinken zog er von der rechten über die mittlere auf die linke Spur. Conny hasste das. Sie hielt es für unverantwortlich. Was es auch war. Für Sam bedeutete es das pure Loslassen von allem, was ihm auf die Eier ging.
"Wuhuuuuu!", rief er und sein Griff um das Lenkrad wurde fester. Sein Blick galt einzig und alleine der Straße. Für ihn existierte in diesem wunderbaren Moment nur er, das Auto und die Straße. Conny war meilenweit weg. Sie würde auch nichts mehr weiter sagen. Immer nur "Sam, bitte", aber weiter nichts. Dass die paar Kilometer, in denen die Tachonadel stetig emporkletterte, für sie die Hölle waren, auf die Idee kam Sam nicht.
"Stell dich nicht so an", hatte er ihr immer wieder gesagt, "du siehst doch, dass nichts passiert."
"Es ist NOCH nichts passiert", hatte Conny erwidert. Aber trotzdem stieg sie jedes Mal wieder zu ihm ins Auto. Entweder sie war eine unverbesserliche Optimistin oder sehr vergesslich. Sam plus Autobahn bedeutete immer, aber auch wirklich immer, eine erhöhte Geschwindigkeit. Erhoffte sie sich ernsthaft jedes Mal, dass Sam - wie sie es nannte - "vernünftig wurde"?
Einen herrlich süßen Moment lang kostete Sam das Tempo noch aus. Er hielt die Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern pro Stunde. Wenn ihm jemand auf der linken Fahrspur in die Quere kam, dann gab es Lichthupe. Alle räumten den Weg frei für Sam Witter.
Bald schon geriet das unerwünschte Schild in Sams Blickfeld. Die Geschwindigkeitsbegrenzung. Hundertzwanzig Kilometer pro Stunde. Wer konnte denn bei hundertzwanzig Spaß haben? Wozu waren denn Autos so gebaut, dass sie locker auch über zweihundert fahren konnten, wenn man es kaum ausreizen durfte? Für Sam war das runde Schild mit dem roten Rand wahrhaftig ein rotes Tuch.
Aber es half nichts. Besser er riskierte nicht noch ein Blitzerfoto. Zähneknirschend trat er auf die Bremse. Von den drei Pedalen war es das, welches er am wenigsten gerne benutzte. Die Tachonadel wanderte wieder nach unten und neben ihm entspannte sich Conny sichtlich. Sie trug ihren bescheuerten petrolfarbenen Jumpsuit aus Leinen, der um den Bauch herum schon lauter Knitterfalten hatte. Und, wie Sam mit einem Seitenblick feststellte - auch Schweißflecken.
"Was ist? Scheiß dich nicht ein!", rief Sam über die Musik hinweg. Mit genervtem Blick streckte Conny ihre Hand aus und drehte den Regler so weit zurück, dass man das Schlagzeug nur noch ganz schwach hören konnte. Ihre Finger zitterten dabei.
"Ey, was soll das?", maulte Sam. Er strich sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus seinem tiefen Pferdeschwanz gelöst hatte und bedachte Conny mit einem schneidenden Blick.
"Das sollte ich dich fragen. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Willst du uns noch umbringen? Ich sag's dir, lange mache ich das nicht mehr mit!", erwiderte Conny. Ihre Stimme bebte. Gleich wird sie heulen, dachte Sam. Dann würde ihr die Mascara links und rechts runterlaufen. Im selben Moment bereute er diese Gedanken. Das war fies und unfair seiner Freundin gegenüber.
Also sagte er nichts dazu. Wenn er in der dreijährigen Beziehung mit Conny eines gelernt hatte, dann war es, zu vielem auch einfach nichts zu sagen. Ein Wort zu viel von ihm und sie brach in Hysterie aus. Dann flogen ihm die Anschuldigungen nur so um die Ohren. Und es wurde geweint und gezetert bis ihre Augen ganz rot waren. Er musste nicht das letzte Wort haben. Sollte sie es doch haben, er hatte dann immerhin seine Ruhe.
Als sie von der Autobahn abfuhren, war die Stimmung komplett dahin. Nicht nur, weil Sam immer intensiveren Kontakt mit der Bremse haben musste, sondern auch, weil Conny tatsächlich angefangen hatte, zu weinen. Nicht laut, aber er hatte aus dem Augenwinkel gesehen, wie sie sich über die Augen gewischt hatte. Das schlechte Gewissen streifte ihn, doch dann kam ihm in den Sinn, was ihn gleich erwarten würde. Denn er hatte wieder einmal einen Meter zu weit übers Ziel hinausgeschossen.
Das bedeutete, sie würden erst einmal eine halbe Stunde lang auf dem Parkplatz im Auto sitzen bleiben, Sam würde sich die obligatorische Moralpredigt anhören müssen. Er kannte den Text schon auswendig: dass er ein Scheiß-Freund sei und dass sie das nicht mehr lange mitmachen würde. Dann würde er aussteigen und eine Zigarette rauchen, während Conny sich mit einem Abschminktuch über die Augen wischen würde. Dann würde auch sie aussteigen und eine ihrer selbst gedrehten Zigaretten rauchen und dann würden die beiden wortlos nebeneinander her ins Restaurant gehen, wo Danny mit seiner Freundin schon wartete.
Während dem Essen würde kein Wort über das Rasen fallen. Niemand verstand Sam, deswegen achtete er darauf, dass man nicht auf das Thema zu sprechen kam. Wenn Conny wieder ihre Andeutungen machen würde, dann konnte er ihr immer noch grob über den Mund fahren. Von Danny hatte Sam auch kein Verständnis zu erhoffen. Von keinem. Niemand verstand es. Dabei war sich Sam sicher, dass Danny, hätte er auch so einen grandiosen Wagen, ebenfalls die Geschwindigkeit ausreizen würde. Wer konnte denn bei den vielen PS widerstehen?
Aber nein, alle taten als seien sie die Moralapostel. "Sam, du solltest damit aufhören", sagten sie immer wieder. Auch Ella, die blöde Schnepfe, mischte sich immer ein. Wenn sie nicht Dannys Freundin gewesen wäre, dann hätte sie schon den einen oder anderen Spruch unter der Gürtellinie abbekommen, dafür hätte Sam schon gesorgt. Sie war das fünfte Rad am Wagen, sie wiederholte immer nur das, was Danny sagte und sie hatte eine nervtötende Stimme, wie eine Figur aus einem Cartoon.
Nach dem überstandenen Tadel und einigen Tränen steuerten Sam und Conny auf das Lokal zu. Ein gehobenes Burgerrestaurant. Durch die große Scheibe erblickte Sam seinen Freund Danny und Ella. Es war zwar viel los, aber die beiden hatten einen guten Fensterplatz ergattert und saßen sich gegenüber. Danny studierte die Speisekarte, während Ella unter dem Tisch mit ihrem Fuß sein Hosenbein entlang fuhr. Wenn Sam das schon sah, konnte er kotzen. Ella verhielt sich, als sei sie mit Danny allein auf der Welt. Ihr war zuzutrauen, dass sie ihn sogar während des Essens unter dem Tisch befummelte.
Sam öffnete die Tür mit einem Schwung und trat vor Conny ein. Sie folgte hinter ihm, wie eine kleine Maus in seinem Schatten. Die hohen, dünnen Absätze ihrer Sandaletten klackten auf dem dunklen Fliesenboden. Sam steuerte direkt auf den Tisch zu, an dem Danny und Ella saßen. Wie ein Eisbrecher schob er sich zwischen Leuten hindurch, die zwischen den Tischen standen. Danny sah ihn zuerst und grüßte ihn, Ella drehte sich um und warf Sam einen giftigen Blick aus ihren dunkelbraunen Augen zu. Seit einiger Zeit hatte sie aufgehört, ihn zu grüßen. Er hasste sie, sie hasste ihn, es beruhte also auf Gegenseitigkeit.
Conny selbst pflegte eine distanzierte Freundlichkeit gegenüber Ella. Das hatte Ella in die trügerische Falle der Vertrautheit gelockt. Bei einer Zigarette hatte sie sich einmal Conny gegenüber über Sam ausgelassen und Conny hatte die Unterredung natürlich eins zu eins an Sam weitergegeben. Inklusive der vielen kreativen Schimpfwörter, mit denen Ella Sam betitelt hatte.
Aber es hatte das nicht gebraucht, damit es zwischen Sam und Ella krachte. Sie harmonierten einfach nicht. So gut, wie sich Sam und Danny verstanden, so schlecht verstanden sich Sam und Ella. Jedes Mal, wenn Danny Sam eine Nachricht aufs Handy schickte, hoffte Sam zu lesen, dass er Ella verlassen habe. Aber noch blieb das eher ein frommer Wunsch.
"Setzt euch", forderte Danny Sam und Conny auf. Er selbst erhob sich von seinem Platz und rückte Conny den Stuhl neben Ella zurecht, als er sah, dass Sam keine Anstalten machte, es selbst zu tun. Conny lächelte Danny entzückt an und setzte sich. Sam hatte schon die Speisekarte in der Hand. Auch wenn er das Angebot hier kannte, las er sie sich immer wieder durch. Teilweise auch nur, um kein Gespräch anfangen zu müssen, zu dem Ella etwas mit ihrer Piepsstimme beitragen könnte.
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