Kapitel 24
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02.02.2006
Von Stunde zu Stunde hatte Jareds Gesicht mehr Blässe erhalten und es tat mir körperlich, sowie seelisch weh, ihn so zu sehen. Insbesondere weil ich der Grund dafür war. Diese Nacht war schlimmer als die letzte und auch Jared schien nicht viel Ruhe abbekommen zu haben. Die Kratzer waren bereits verschwunden, aber tiefe Augenringe und eine ungesunde Blässe zierte an diesem Donnerstag sein Gesicht. Zudem suchte er weniger Körpernähe als sonst zu mir. Doch war das kein Wunde, denn ich trug die Schuld daran. Schließlich konnte ich nicht den Mund aufmachen.
Vor allem beim Sportunterricht fiel mir auf, wie unkonzentriert er war. Dabei hatte ich mich gefreut, endlich wieder eine Schulstunde mit ihm zu verbringen. Mehrfach verpasste er seinen Einsatz und wurde von Coach Hill angepfiffen. Unsere Mitschüler tuschelten hinter vorgehaltener Hand und nicht wenige Blicke galten auch mir. Aber ich schaffte es, mich davon nicht runterkriegen zu lassen. Pauls Nähe half mir dabei – wer hätte das jemals gedacht?Zum Ende der Stunde teilten wir uns in zwei Teams auf und spielten mehrere Runden Dodgeball. Jared war im gegnerischen Team, während Paul auf der gleichen Spielhälfte stand, wie ich. Dass ich das Spiel nicht mochte, wäre für niemanden eine Überraschung, der mich länger als einen Tag kannte. Für mich war das ein sinnloses Bewerfen von Bällen und ich war vollauf darauf konzentriert dem feindlichen Geschoss auszuweichen, als das ich etwas warf.
Das laute Quietschen unserer Turnschuhe, die Rufe meiner Mitschüler und das Knallen der Bälle auf dem Boden hallten unentwegt durch die Turnhalle. Zwischenzeitlich ertönte die Pfeife vom Coach mit darauffolgenden gebrüllten Anweisungen.
Es kam wie, es kommen musste. Dass es erst in der letzten Runde geschah, glich glatt einem Wunder. Ein Ball flog auf mich zu. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht stand ich da. Erstarrt und gleichzeitig resigniert. Dann ließ ich mich eben treffen. Eine große Hilfe für das Team war ich eh nicht. Ich sah, wie der Ball auf mich zukam und erst als jemand meinen Namen rief, bemerkte ich, in was für eine bahnbrechende Geschwindigkeit er auf mich zu flog.
„Kim!"
Oh.
Mit einem Mal lag ich auf dem Boden. Mein schweißbedeckter Rücken schmerzte leicht durch den unerwarteten Aufprall. Blinzelnd versuchte ich zu verstehen, was passiert war. Da war ein Ball gewesen. Der auf mich zuflog. Und jetzt lag ich hier. Und Paul war über mir. Besorgt sah er mich an.
„Bist du okay?", fragte er und scannte meinen Körper ab.
„J-Ja." Glaubte ich zumindest. Aber abgesehen von den leichten Rückenschmerzen ging es mir gut. Wir setzten uns auf und während Paul mich weiterhin nicht aus den Augen ließ, bemerkte ich, wie sich eine Traube an Schüler um uns sammelte. Sie fragten und sagten etwas, aber ich hörte es nicht. Meiner Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der am Rande der Menge war.Jared stand erstarrt da und sah mit geweiteten Augen zu mir. Sein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam heraus.
Paul half mir, dabei aufzustehen. Der Couch pfiff und beendete den Unterricht, woraufhin sich die Traube um uns herum auflöste und in Richtung der Umkleidekabinen verschwand.„Und dir gehts wirklich gut?", hackte Paul nach.
Abermals nickte ich. Der Rücken pochte nur noch ganz wenig und außer einem blauen Fleck würde morgen nichts zu mehr zu spüren sein. „Ja. Aber was ist eigentlich passiert?"
Er knurrte auf. Den kurzen Blick, den er Jared zuwarf, blieb mir nicht verborgen.
„Hmh?", fragte ich nach.
„Es ist meine Schuld", murmelte Jared mit bleicher Miene. Seine Hände zitterten und weiterhin hob sich sein Brustkorb in einem ungesunden Tempo.
„Wie meinst du das?", fragte ich und ging zu ihm. Ich ergriff nach seiner Hand und erschrak, denn sie war viel kühler, als sonst. Noch immer wärmer als die von anderen, aber eben nicht seine typische Hitze.
„Ich war abgelenkt und hab den Ball geworfen. Ich hab nicht gesehen, dass er dich treffen wird." Er hielt seinen Kopf gesenkt. „Es tut mir leid, Kim", presste er hervor.
Ich drückte seine Hand, aber als er nicht reagierte, schlang ich meine Arme um ihn. Augenblicklich erwiderte er die Umarmung und presste mich eng an sich. Er nahm einen tiefen Atemzug. Ich erschrak, als ich hörte, in was für einen Tempo sein Herz schlug.
„Ist schon okay."
Ich spürte, wie er den Kopf schüttelte.
„Nein, ist es nicht. Sowas darf nicht passieren. Nur dank Paul hat der Ball dich nicht getroffen. Wäre er nicht gewesen, dann ... dann ...", stockte Jared und drückte mich fester. Diesen Schmerz hieß ich willkommen.
„Psch." Dass er sich solche Vorwürfe machte, wollte ich nicht. So etwas konnte vorkommen. Und es war doch nur ein Ball.
Er seufzte und hielt mich im Arm, bis er nach und nach ruhiger wurde. Seine Atemzüge verlangsamten sich, seine typische Wärme kam wieder und das Zittern ließ nach.
„Es geht dir wirklich gut?", fragte er leise.
Bekräftigend nickte ich. „Es ist alles in Ordnung."
„Okay."
„Okay", wiederholte ich und wir lösten uns voneinander.
In seinen Augen erkannte ich Schuld. Schuld, weil er mir fast den Ball an den Kopf geworfen hatte? Oder war es eine andere Schuld? Wieder kamen mir Coraimas und Dakotas Wörter in den Sinn, dabei wollte ich sie nicht hören.
Jared musste erkannt haben, dass ich an etwas dachte, das zwischen uns stand, denn er trat einen Schritt zurück und sein Gesicht nahm einen distanzierten Ausdruck an. Dabei wollte ich das doch gar nicht!
Paul seufzte schwer und legte jedem von uns eine Hand auf die Schulter. „Dann lasst uns mal schnell umziehen und dann was Essen."
Wir schwiegen, bis wir zu den Umkleidekabinen kamen. Bevor ich in der für die Mädchen verschwand, drehte ich mich ein letztes Mal um.
„Danke, Paul", sagte ich, aber er wankte ab.
„Dafür sind Freunde da."
Paul und ich hatten Geschichte, während Jared Mathe bei Mr Walker hatte und sich deutlich früher von uns verabschiedet hatte, als bei anderen Lehrern nötig war. Aber schon während der Pause war er ungewohnt still geblieben und es war, als schien dicke Luft zwischen uns zu herrschen. Wobei, es schien nicht nur so, es war so. Weil ich nicht Klartext sprach.
Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, doch ich saß bereits an meinem Platz und piddelte an meinem Finger, als ein Schatten auf mich fiel. Als dieser nicht verschwand, blickte ich auf und sah die riesige, aber vertraute Gestalt von Paul. Ungewohnt ernst sah er zu mir herunter.„J-Ja?", fragte ich, als er nichts sagte.
So kannte ich ihn nicht. Er war immer am Reden. Wieso war er jetzt so still?
Seine Reaktion war nicht mehr als ein Schnauben und ich zog die Brauen zusammen.
„Hmh?, machte ich und wartete.
Aber nichts geschah.
„Was ist los?", fragte ich, nun drängender.
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie meine Sitznachbarin irritiert zu mir sah. Solch einen Tonfall war sie von mir nicht gewohnt, aber meine Nerven lagen, nach den vergangenen Tagen, blank. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten.
„Wie was los ist? Das sollte ich dich fragen", sprach er endlich, wobei er mehr knurrte, als dass die Worte deutlich aus seinem Mund kamen.
„Wie bitte? Was soll das denn heißen?"
„Das soll heißen", er legte seine Hände auf meinen Tisch und beugte zu mir hinunter, „was ist los mit dir?"
„Mit mir? Du stehst vor mir und knurrst mich an." Mir war erst im Nachhinein klar geworden, dass ich mich von seinem Knurren und seiner schlechten Laune nicht unterkriegen ließ und stattdessen zurückschoss – jedenfalls nach Kimmy-Art.
„Ja, weil du deinen kleinen Mund einfach nicht aufkriegst. Es passiert fast das gleiche wie an diesem einem Freitag und darauf habe ich keine Lust."
„Was hat das denn mit dir zutun?"
Er lachte freudlos auf. „Ha, genug. Was glaubst du denn, wer ihn am Freitag und Samstag aufgepäppelt hatte?"
Mein Finger fing an zu schmerzen, als ich an der Haut zupfte. Er hatte damals schon so eine Bemerkung gemacht, dass die Patrouille mit Jared so anstrengend gewesen sei.
„Ja. Ganz genau. Ich. Und das will ich nicht nochmal fühlen. Ich kriege mehr mit, als du glaubst. Und was auch immer das zur Zeit soll, klär das. Du magst ihn. Er mag dich. Klare Sache. Ich check nicht, was dieses Drama soll." Er richtete sich auf, als Mr Baker den Klassenraum betrat und darum bat, dass sich jeder setzen sollte. Doch noch immer war Pauls gesamte Aufmerksamkeit auf mir. „Du schuldest mir einen Gefallen", erinnerte er mich leise. „Du sprichst mit ihm. Klärt das. Heute noch. Und dann gehst du mit zu diesem verdammten Lagerfeuer."Ohne auf eine Erwiderung meinerseits zu warten, drehte er sich um und ließ sich lautstark auf seinen Stuhl, mehrere Reihen hinter mir, fallen.
Mr Baker begann seinen Unterricht, aber davon bekam ich nicht viel mir. Paul hatte Recht – abgesehen von dem Gefallen; er hatte sich nicht auf meine Bitte hin im Kunstunterricht zu mir gesetzt.
Wir kamen so nicht weiter.
Ganz im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass Jared und ich uns voneinander entfernten, je länger wir das Thema umschifften. Selbst nach dem Sportvorfall, als wir eng umschlungen in der Turnhalle gestanden hatten, waren wir distanziert zueinander. Ich fasste einen Entschluss und um nicht zu kneifen, schrieb ich Paul eine SMS. Jared hatte mir seine Nummer und die von Sam vor einigen Tagen geschickt. Dabei hielt ich mein Handy zwar unter dem Tisch, aber die Gefahr erwischt zu werden, war nicht sonderlich niedrig! Meine Sitznachbarin warf mir sogar einen befremdlichen Blick zu, als sie sah, dass die brave Kim Connweller gegen eine Schulregel verstieß. Dass sie mich nicht verpetzte, rechnete ich ihr hoch an. Dem Risiko war ich mir bewusst, aber es war mir schnurz.
Ich werde es tun.
Seine Antwort war typisch Paul. Direkt und Ehrlich.
Na Gott sei Dank.
Schmunzelnd las ich die Nachricht und brauchte nicht zu ihm zu hinüberzuschauen, um mir vorzustellen, wie er erleichtert in Richtung Himmel seufzte. Dass es ihm darum ging, dass er keine Lust darauf hatte Jared aufzubauen, glaubte ich nicht. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er ohne Murren seinem Kumpel beistehen würde. Paul war ein guter Freund. Und dass er einen Gefallen – den er sich ausgedacht hatte – dafür einforderte, verdeutlichte es nur.
Es herrschte perfektes Wetter für ein Lagerfeuer in La Push, stellte ich fest, als ich das Schulgebäude verließ. Der Himmel war mit einzelnen Wolken bedeckt und die Sonne schien winterlich auf uns herab. Hoffentlich wollte Jared nachher noch, dass ich mitkam. Irgendwie bezweifelte ich es. Ich würde ihm gestehen, dass ich Zweifel an ihm, meinem Freund, gegenüber hatte. Wer würde mit einem danach weiterhin Zeit verbringen wollen?
„Also dann", sagte Paul plötzlich und klopfte Jared auf die Schultern. „Bis später."
„Warte, was?", fragte Jared sichtlich irritiert, aber da war Paul schon weggesprintet und zwischen den Schülern verschwunden. „Wo will der denn hin?", murmelte er und blickte seinem Freund nach.
Ich räusperte mich und bekam seine Aufmerksamkeit. „W-Wir müssen reden." Mein Herzklopfen war so laut, dass ich mich selbst kaum hörte. Aber an Jareds Reaktion sah ich, dass er mich gehört hatte.
Seine Augen weiteten sich und er schluckte. „R-Reden?", fragte er nach und ich nickte. „Wo-wollen wir nicht erst nach dem Lagerfeuer miteinander ... reden?"
„Nein", sagte ich bestimmend. Es musste jetzt sein.
„Okay", hauchte er und sah sich auf dem Parkplatz um. „Wartet Alex nicht auf dich?"
„Sie hat heute Training."
„Wie kommst du denn dann nach Hause?"
„Zu Fuß." So wie fast jeden Donnerstag, denn das Training von Alex ging bis in den späten Abend und sie sollte nicht in der Dunkelheit erschöpft nach Hause gehen.
„Dann lass mich dich nach Hause fahren", sagte Jared, nahm mich bei der Hand und zog mich zu seinem Auto.
Überrumpelt ließ ich mich mitziehen und blinzelte mehrfach. „W-Warte." Ich musste mit ihm reden. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. „Stopp!", rief ich und blieb stehen.
Abrupt blieb auch er stehen und sah mich gequält an.
„Wir müssen reden", wiederholte ich mich.
„Bitte", sagte er mit flehender Stimme. „Lass mich dich erst nach Hause fahren."
Ich seufzte und überlegte. Zu Hause war niemand. Da wären wir ungestörter, als hier. Mitten auf dem Schulhof. Aber ich wollte es endlich hinter mir haben. Doch als ich Jareds bittende Miene sah, gab ich mich geschlagen und nickte.
Seine Mundwinkel hoben sich leicht. Gemeinsam stiegen wir in seinen Wagen und fuhren zu mir nach Hause.
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