Kapitel 10
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Nachdem Alex mich vor dem Waschraum abgefangen hatte, waren wir gemeinsam in die Cafeteria gegangen. Die meisten Tische waren schon besetzt, bis auf unserem. Was für ein Glück wir hatten. Die Schlange an der Essensausgabe war nicht lang und eh wir uns versahen, aßen wir zu Mittag. Die restlichen Schulstunden vergingen ruhig, aber so langsam wurde mir flau im Magen und ich bereute es, eine ganze Portion zu Mittag gegessen zu haben.
Sams Haus lag im Grünen und war gar nicht so weit von meinem entfernt, wie ich geschätzt hatte. Ich hatte nicht verstanden, warum Paul hier die Hausaufgaben machen wollte. Wir hätten es in der Bücherei erledigen können, wobei ich bezweifelte, dass Paul wusste, wo sich diese befand. Was ich zusätzlich nicht nachvollziehen konnte war, dass Jared uns begleitete. Erst hatte ich angenommen, er würde uns nur abliefern, aber er parkte seinen Pick-up und stieg gleichzeitig mit Paul und mir aus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich über weitere Gesellschaft seinerseits freute oder nicht. Auch wenn ich mich in den letzten Tagen an seine Anwesenheit und Nähe gewöhnt hatte, so blieb ich weiterhin leicht nervös. Und das waren mir vielleicht zu viele Gründe, um nervös zu sein.
Insbesondere seit Coraima und Dakota mir vor wenigen Stunden unbeabsichtigt einen Floh ins Ohr gesetzt hatten. Mir war bewusst, dass Jared kein romantisches Interesse an mir haben konnte – so gern ich es mir wünschte. Aber meine Gedanken schweiften seitdem ständig in die Richtung und es fiel mir abermals schwer, mit Jared zu sprechen. Ich hoffte inständig, mir dadurch unsere aufkeimende Freundschaft nicht kaputt zu machen.
Ich versuchte Kraft aus Jareds Anwesenheit, zu schöpfen, denn dass ich gleich bei Sam zu Hause war, brachte meinen Magen dazu, durchzudrehen. Die beiden Jungs schienen mich und meine Unfähigkeit beim Reden, zu akzeptieren, aber wie würde es bei Sam aussehen?
Der Regen hatte ausgesetzt, doch die Erde war mit Schlammpfützen bedeckt und verdreckte unsere Schuhe. Das bemerkte ich insbesondere an den Schlammspuren, die wir auf der hölzernen Terrasse hinterließen. Paul öffnete die Haustür, ohne vorher anzuklopfen oder zu klingeln.
Langsam folgte ich ihm in das Haus hinein und eine warme Luft begrüßte uns sogleich. Jared war hinter mir und schloss die Tür. Paul hatte sich währenddessen von seinen Schuhen befreit und ging in den nächsten Raum.
„Yo", rief er und ich hörte, wie jemand auf leichten Füßen auf der oberen Etage ging.
Meine Schuhe legte ich neben die von Paul und Jared nahm mir gentlemanlike die Jacke ab.Die Treppe am Ende des Flurs knarzte und kurz darauf erschien eine junge Frau mit einem Verband, welches eine Seite ihres Gesichtes einnahm.
Mit Emily Young hatte ich nicht gerechnet. Auf der Gesichtshälfte, die nicht einbandagiert war, fing sie an zu lächeln. „Hallo, du musst Kim sein. Ich bin Emily."
Wie gesagt; in La Push kannte jeder jeden, ohne auch nur je mit ihm gesprochen zu haben. Insbesondere Emily war in den vergangenen Wochen zu einer kleinen Berühmtheit geworden, wenn auch nicht beabsichtigt. Alle hatten von dem Vorfall mit dem Bären gehört. So etwas verbreitete sich bei uns schnell. Sei es nicht durch die Zeitung, dann durch Geflüster der Nachbarn.
„J-Ja, die bin ich. Hallo", überrumpelt ließ ich mich von ihr umarmen und war überrascht von solch einer Herzlichkeit willkommen geheißen zu werden.
„In der Küche sind Kekse, aber ihr müsst euch beeilen. So wie es sich anhört, ist Paul schon dabei, sie zu verdrücken." Sie hatte eine sanfte Stimme und zwinkerte uns zu. „Hast du gehört, Paul, lass Kim und Jared etwas übrig!"
„Pff, dann müssen die schon ihren Hintern hierher bewegen!", rief dieser mit vollem Mund zurück.
Emily seufzte und schüttelte den Kopf. „Na kommt ihr zwei." Sie ging voran.
Bevor ich einen Schritt tat, spürte ich plötzlich, wie Jared sich von hinten über meine Schulter beugte. „Emily wohnt hier zusammen mit Sam. Der ist noch unterwegs und kommt später."
„Ah", brachte ich hervor und ging eilig weiter, um mein wild klopfendes Herz wieder unter Kontrolle zu kriegen. Sein Atem hatte mein Ohr zum Kitzeln gebracht! Erst kurz darauf fiel mir auf, dass ich von einer Beziehung zwischen den beiden nichts mitbekommen hatte. Ich hatte gedacht, dass Sam mit Leah Clearwater zusammen war. Typisch für mich, dass ich das nicht wusste.
Der nächste Raum war eine Küche. Auf einem runden Tisch stand eine Schüssel mit verschiedenen Keksen, aus der sich Paul bediente. Als er uns hereinkommen sah, nahm er sich glatt noch einen Zweiten in die Hand.
„Was soll das denn?", knurrte Jared hinter mir.
„Weiß nicht was du meinst."
„Ist klar." Er schob sich an mir vorbei, nahm sich die Schüssel und hielt sie mir hin. „Bedien dich. Die sind super lecker. Emily ist eine Klasse-Köchin."
Zaghaft nahm ich mir einen Schokoladenkeks heraus und biss hinein. Ein Seufzen entwich mir. Sie waren kein Vergleich zur Supermarktware. Der Keks zerging mir regelrecht auf der Zunge. Um keinen Krümel zu verpassen, leckte ich mir über meine Lippen. Dann wandte ich mich an Emily. „Wirklich sehr lecker."
Diese lachte. „Bei so viel Lob, werde ich ja noch ganz eingebildet."
Jared räusperte sich. Noch immer stand er vor mir und hielt er die Schüssel vor sich. Sein Blick war fest auf mich gerichtet und seine Wangen wirken leicht rosa. Bestimmt von den Temperaturen, die hier drinnen deutlich höher waren, als draußen. „M-Möchtest du noch einen?"
„Gern, Dankeschön."
„Ihr wolltet Hausaufgaben machen oder?", fragte Emily.
Ich nickte mit dem Keks im Mund und Paul stöhnte auf. Jared hatte sich mittlerweile auch einen Keks genommen.
„Dann macht euch im Wohnzimmer breit. Dort seid ihr ungestört. Sag Kim, möchtest du heute Abend mit uns essen?"
Ich schüttelte den Kopf. „Du brauchst dir keine Umstände zu machen."
Erneut lachte Emily. Trotz ihres Verbandes strahlte sie eine glückliche Wärme aus. Da konnte man glatt vergessen, dass sie darunter bestimmt Schmerzen hatte. „Ach was, eine Person, wie du es bist, macht da nichts aus. Anders sähe aus, wenn einer von denen da nicht mitessen würde. Solche Unmengen wie die drei verdrücken."
„He, so ein Körper braucht halt seine Energie!", rief Paul, der schon ins Wohnzimmer gegangen war.
„Dann gerne." Zu Hause würde Mom nichts vorbereitet haben. Sie und Dad waren beide auf einer Veranstaltung in Port Angeles und Alex hatte Training. An solchen Tagen kochten wir uns selbst etwas.
Auf Emilys Vorschlag machten wir es uns im Wohnzimmer bequem. Der niedrige Tisch, vor dem wir auf dem Boden saßen, wurde schnell mit unseren Schulunterlagen belegt. Ich schlug die zwei Schulbücher auf.
„Mailied von Johann Wolfgang von Goethe", las Paul vor und verdrehte die Augen. „Warum kriegen wir Gedichte von einem Deutschen?"
„Er gilt als einer der bedeutendsten Schöpfer der Dichtung", versuchte ich zu erklären, stieß aber auf taube Ohren.
„Na und? Gibt bestimmt auch bedeutende Amerikaner."
„Aber wir haben doch den internationalen Monat."
Mein Projektpartner blinzelte mich verständnislos an. „Was für einen Monat?"
„N-Na, den internationalen...", nuschelte ich unter Pauls starrem Blick.
Jared, der uns gegenüber saß, sich aber an Matheaufgaben versuchen wollte, rettete mich. „Man Paul, hör auf Kim mit deinen Blicken Angst zu machen."
„Wa-!" Abrupt drehte dieser den Kopf zu seinem Freund. „Ich mach hier niemanden Angst!"
„Was meinst du denn mit internationalen Monat, Kim?", fragte Jared – Paul gekonnt ignoriert – und ich war überrascht, dass beide nicht zu wissen schienen, wovon ich sprach.
„Ähm, also die Austauschschüler aus Europa sind da."
„Ach echt?", erklang es von beiden, wie von einem Chor.
„J-Ja, seit letzter Woche. Und der Unterricht soll in der Zeit internationaler werden. Das Essen auch."
Ich konnte wortwörtlich sehen, wie in Pauls Kopf die Rädchen sich anfingen zu bewegen, ehe er einen verstehenden Laut machte. Dann hob er eine Braue. „Aber Pommes sind doch aus Amerika."
Emily trat, gekleidet mit einer Kochschürze, ins Zimmer. „Pommes frites stammen aus Belgien", informierte sie ihn. „Aber sagt mal, ihr geht seit vier Tagen wieder zur Schule und habt nicht mitbekommen, wie europäischer Schüler an euch vorbeilaufen? Wo seid ihr bloß mit euren Köpfen?"
„Wo Jared ist, kann ich dir sagen", sagte Paul grinsend und handelte sich einen Schlag auf den Hinterkopf ein.
Wieder einmal hatte ich das Gefühl, etwas nicht verstanden zu haben.
Trotz der gelegentlichen Kabbeleien zwischen den Jungs kamen wir mit unseren Hausaufgaben gut voran und hatten am Ende einen fertigen Aufsatz, den wir Montag vorlegen würden.
Zwischenzeitlich hatte Emily immer wieder vorbei geschaut und uns mit Snacks versorgt. Meine nervöse Übelkeit hatte sich glücklicherweise verabschiedet. Ich hatte aufpassen müssen, mich nicht daran satt zu essen, während Jared und Paul keinen Halt gemacht hatten. Dass sie überhaupt noch an Essen denken konnten, fand ich erstaunlich. Aber das sie dazu in der Lage waren, zeigten sie, als wir anfingen, in der Küche den Tisch zu decken. Während Emily das Essen fertigstellte, musste sie ständig einen der Jungs auf die Finger hauen, damit sie nichts davon naschen konnten.
Ich stellte gerade den fünften und letzten Teller auf, als in der Diele das Öffnen und Schließen der Haustür zu hören war. Kurz darauf betrat Sam die Küche. Er hatte eine Ausstrahlung an sich, die direkt den ganzen Raum einnahm und einem Respekt einflößte. Dad meinte vor einigen Monaten einmal zu Mom, dass er bemerkenswert fand, wie reif Sam für sein Alter war. Mir fiel wieder die Anschuldigung von Alex ein. Auch wenn ich Sam nicht kannte, so hatte ich sowohl von Jared, als auch von Paul innerhalb der letzten Tage, neue Seiten kennengelernt und ich war mir sicher, dass keinerlei Drogen im Spiel waren.
Um Sams Augen herum lag ein grimmiger Zug, der aber sogleich verschwand, als er Emily erblickte. Geradewegs ging er zu ihr, umarmte sie von hinten und als er sie küsste, wandte ich meinen Blick ab. Andere Leute beim Küssen zu beobachten, war keine Beschäftigung, der ich nachging.
„Du warst lange unterwegs", hörte ich Emily zu ihm sagen und ich traute mich wieder aufzublicken.
Er grummelte eine Antwort in ihr Ohr, die sie aufseufzen ließ. Sam streichelte über ihren Verband und ich meinte, dass sein Gesichtsausdruck kurzzeitig finsterer wurde, ehe er ihr einen Kuss auf das Haupt gab. Dann wandte er sich zu mir und reichte mir die Hand. „Hi, ich bin Sam Uley."
Meine Hand verschwand fast in seiner und sein Händedruck war stark, fest und genauso warm, wie Jareds. „Freut mich. Ich bin Kim Connweller."
Sam sah mich aus seinen dunklen Augen heraus an und tapfer erwiderte ich seinen Blick. Der Nachmittag mit Jared, Paul und Emily hatte mir Stärke verliehen. Zusätzlich fühlte ich mich unter Sams selbstbewussten Blicke seltsamerweise sicher. Sein Mundwinkel hob sich leicht.„Connweller?", wiederholte Emily und sah neugierig zu mir, während sie den Herd abschaltete und den Inhalt der Töpfe in riesige Schüsseln abfüllte. „Deine Mom ist nicht zufällig Kayla Connweller mit der besten Lasagne im Staate Washingtion, oder?"
Sam löste sich von mir und stellte die prallgefüllten Schüsseln auf den Tisch. Es folgte noch vier Baguettes und ein riesiger Salat. Paul holte eine Cola aus dem Kühlschrank.
„D-Doch", antwortete ich etwas verlegen und setze mich mit den anderen an den Tisch.
Wir wünschten uns einen guten Appetit und es wurde sich augenblicklich auf das Essen gestürzt. Trotz, dass ich von meinen zwei Mitschülern durch die letzten Tage in der Cafeteria schon einiges gewohnt war, so war ich dennoch erstaunt, wie viel sie und Sam verdrücken konnten. Jetzt verstand ich Emilys Aussage von vorhin auch. Meine Portion würde wirklich nicht ins Gewicht fallen.
„Ist die Lasagne deiner Mom so gut?", fragte Paul und Emily nickte daraufhin.
„Und wie. Ich habe sie beim letzten Stammfest gegessen und danach so oft nachgekocht, dass Sam keine mehr sehen konnte. Aber ich habe sie nie so gut hinbekommen, wie Kayla."
Die Komplimente zu Moms Kochkünsten hatte ich schon im Kindergarten zu hören bekommen und meine Reaktion war seitdem gleich geblieben. Mit roten Wangen bedankte ich mich.
„Kannst du kochen, Kim?", fragte Jared, der wieder einmal neben mir saß. Von Mal zu Mal konnte ich seine Nähe mehr genießen.
„Ein wenig, aber nicht so gut, wie Mom oder Emily."
„Wenn du magst, kannst du gerne beim nächsten Lagerfeuer etwas mitbringen, Kim. Du bist herzlichst eingeladen", sagte Emily und mir wurde warm ums Herz. Es war die zweite Einladung, die ich für das Lagerfeuer bekam.
„Ja, sehr gern."
„Ich würde gerne mal von dir probieren", sagte Jared und plötzlich prustete Paul los. Doch verschluckte er sich gleichzeitig an seinem Essen und es ertönte ein Mix aus Husten und Lachen.Besorgt wollte ich zu ihm schauen, als mich Jareds Gesicht davon abhielt. Es war knallrot geworden und er stammelte vor sich hin. „A-Also ich meine etwas zu Essen. Ich würde gerne etwas von deinem Essen probieren! Wenn du gekocht hast. Man Paul jetzt hör auf." Ein Stück Baguette flog über den Tisch hinweg und stieß gegen Pauls Kopf. Es landete auf dessen Teller.
„Jared, mit dem Essen wird nicht geworfen", grummelte Sam.
„Dann sollte Paul sich lernen zu beherrschen."
„Pff, was denkst du denn was ich mache?", sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte und biss in das Baguette. „Das war ne perfekte Steilvorlage und ich hab nichts gesagt."
„Paul, mit vollem Mund wird nicht gesprochen", grummelte Sam.
„Das ist eklig", fügte Jared hinzu.
„Mit angebissenen Essen werfen, das ist eklig."
„Kann aber nicht so eklig gewesen sein, schließlich isst du es gerade."
„Will halt nichts verschwenden."
Beide funkelten sich über den Tisch hinweg an. An Sams Stirn pochte eine Ader.
Ich konnte es nicht mehr aufhalten. Es war zu spät. Es nahm mir die Kontrolle und kam ungewollt aus mir heraus. Bei dem Versuch, es durch meine Hand zu verbergen, scheiterte ich. Das Lachen kam über mich und unterbrach die Kabbeleien der beiden.
Von allen Seiten wurde ich perplex angeschaut. Lediglich auf Emilys Gesicht konnte ich eine ähnliche Amüsiertheit wahrnehmen.
„E-Entschuldigung", japste ich und versuchte mich, mit tiefen Atemzügen zu beruhigen.
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", rief Jared und sah mich mit geweiteten Augen an. „Dein Lachen ist wunderschön", hauchte er.
Das Kompliment erstickte mein Lachen im Keim und brachte mein Blut in Wallung. „D-Danke", nuschelte ich.
„Was war denn so witzig?", fragte Paul mit erhobener Braue.
„Na ist doch klar", sprang Emily für mich ein. „Ihr beide."
„Hä?"
„Ihr benehmt euch wie zwei Brüder, die sich am Tisch ihrer Eltern zanken. Es erinnert mich etwas an meine Familie", gab ich zu.
„Achso. Hmh, hast gehört Sam: du bist unser Daddy", lachte Paul und schlug seinem Freund auf die Schulter.
„So fühle ich mich auch", grummelte dieser und schüttelte seinen Kopf. „Vater von zwei Kindsköpfen."
„Naja, wir sind jetzt ja auch sowas wie eine Familie, richtig?", fragte Emily in die Runde und bekam zögerliche Zustimmung seitens meiner beiden Mitschüler.
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