Kapitel 5
Songempfehlung: Taylor Swift - This Love
Herzschmerz. Büffeln. Arzt und Schnee.
Diese vier Worte beschrieben den Monat Januar nahezu perfekt.
Ich war wieder zurück in Yale und fühlte mich schon jetzt wie erschlagen von der Menge an Lernstoff, die ich aufgrund meines Krankenhausaufenthalts nachzuholen hatte. Zusätzlich kamen die Inhalte des neuen Semesters hinzu. Tja, und die Tatsache, dass Julian mich jetzt sogar in zwei Kursen unterrichte, machte die ganze Sache auch nicht leichter. Im Gegenteil. Es sorgte nur dafür, dass ich mich während der Vorlesungen noch weniger konzentrieren konnte. Eines war jedenfalls sicher - in der Hölle zu leben, wäre ein Kinderspiel im Gegensatz zu dem Versuch, Julians Unterricht zu folgen.
Alles woran ich während dem Unterricht denken konnte, war, dass ich Julian am liebsten um den Hals gefallen wäre und ihn gleichzeitig nur allzu gerne zum Teufel gejagt hätte. Zwar hatte sich mein Zorn auf ihn in den letzten Wochen ein wenig gemildert, doch ich empfand noch immer Schock und Enttäuschung darüber, dass er sich einfach über meinen letzten Willen hinweggesetzt hatte. Allein an diesen Verrat zu denken, erfüllte mich mit einer Traurigkeit, die mit Worten schwer zu beschreiben war.
Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die über der Tür des Vorlesungssaals hing und deren Ticken eine beruhigende Wirkung auf mich hatte.
Tick Tack.
Tick Tack
Tick Tack.
Mir blieben noch fünf Minuten, bis die Zeit vorbei war und ich meine Klausur abgeben musste. Es handelte sich um die letzte Prüfung der Finals des vergangenen Semesters, die ich verpasst hatte und nun nachschrieb. Glücklicherweise war ich seit geschlagenen zehn Minuten fertig und saß nur noch die Zeit ab. Ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, wusste ich nicht. Jedoch hatte ich jede Frage beantworten können. Eigentlich besaß ich sogar ein ganz gutes Gefühl - und das, obwohl zu Beginn der Prüfung meine linke Hand immer wieder von Myoklonien erfasst worden war, als bekräftige die Aufregung und die Nervosität das Muskelzucken noch mehr. Doch ich hatte versucht mich auf die Aufgaben zu konzentrieren, was mir schließlich auch gelungen war.
Die restlichen Minuten schienen sich zu ziehen wie Kaugummi. Als ich endlich erlöst wurde, gab ich hastig meine Arbeit ab und genoss das Gefühl von Freiheit, das mich danach überflutete.
Das erste Semester war geschafft.
Gut gelaunt und auch ein klein wenig beschwingt von dem hoffentlich erfolgreichen Absolvieren der Prüfung steuerte ich den Weg zum Ausgang der Philosophie Fakultät an. Ich war mit meinen Freundinnen in der Common Dining Hall zum Mittagessen verabredet. Bestimmt warteten sie bereits auf mich, ganz gespannt darauf zu erfahren, wie meine letzte Klausur gelaufen war. Meine Schritte hallten auf dem Steinboden wider und von Weitem erkannte ich die schweren, massiven Holztüren, die nach draußen in die eiskalte Januarluft führten. Licht von draußen fiel in die altertümlichen Gänge des Fakultätgebäudes, das aus hohen Decken und Sandsteinwänden bestand, und den Studenten mehr das Gefühl gab, in einem Harry Potter Film gelandet zu sein, statt in einem College.
Doch kurz bevor ich den Ausgang erreichte, wurde ich von jemandem aufgehalten.
»Hallo Laney.«
Eine tiefe, raue Stimme erklang hinter mir und ließ mich im Bruchteil einer Sekunde zu Stein erstarren. Mein gesamter Körper versteifte sich. Abrupt blieb ich stehen. Ich brauchte mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da hinter mir stand.
Ich würde diese Stimme immer wiedererkennen. Unter tausenden von Stimmen. Sie war das Schönste, was ich jemals gehört hatte. Engelsgleich. Melodisch. Und doch gleichzeitig gefährlich wie der Teufel selbst. Rau wie die See. Sie verkörperte alles, was ich verabscheute und wiederum alles, wonach sich mein gesamtes Dasein sehnte. Sie stand für Herzschmerz, Tränen und geplatzte Träume.
Ich schluckte schwer, ehe ich all meinen Mut zusammennahm und mich umdrehte.
Da stand er. Die Hände lässig in den Taschen einer eleganten, schwarzen Stoffhose versteckt. Der Oberkörper in einem olivfarbenen Pullover, der seine breiten Schultern betonte. Darunter spitzelte der Saum eines weißen Hemdes hervor. Und als harmonierte diese Farbe nicht schon viel zu gut mit seinem braunen Haar und den stechenden grünen Augen, waren auch noch die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt und gaben freie Sicht auf ein paar starke, sehnige Unterarme. Der Besitz eines solchen Körpers sollte verboten werden.
Er war die reinste Sünde.
Doch all das war nicht, was meine Knie so weich wie Butter werden und meinen Magen einen Salto schlagen ließ. Nein, es war der intensive Blick aus seinen smaragdgrünen Augen. Es war die Art und Weise, wie er mich ansah. Als wäre die ganze Welt eine Lüge und ich seine einzige Wahrheit. Als wäre er verdammt und ich die einzige Chance auf Erlösung.
Ich hatte all die Zeit geglaubt, dass das, was Julian für mich empfand, niemals Liebe sein könnte. Wenn man jemanden aus tiefstem Herzen liebte, dann respektierte man denjenigen. Man stellte das Wohl und das Glück des anderen an erste Stelle, selbst wenn das bedeutete, dass man ihn loslassen musste. Liebe sollte selbstlos sein. Bedingungslos. Das Gegenteil von Egoismus. Doch Julians Tat hatte es nach dem genauen Gegenteil aussehen lassen.
Seine Tat war egoistisch gewesen.
Nicht selbstlos.
Nicht bedingungslos.
Und doch... Doch sagte der Blick aus seinen Augen etwas ganz anderes...
Kurz fragte ich mich, ob ich Julian auf die gleiche Art und Weise ansah oder ob man meinem Gesicht die zwiespältigen Gefühle entnehmen konnte, die in meinem Innern ihr Unwesen trieben. Gefühle, die mir den Schlaf raubten und mein Herz noch schwächer machten, als es ohnehin schon war. Meine Gedanken kreisten permanent um ihn.
Hass. Liebe. Hass. Liebe...
Ich wünschte, Julian hätte mich damals nicht gerettet. Ich wünschte, ich hätte mich nie in ihn verliebt. Doch noch mehr als alles andere auf der Welt wünschte ich mir die Chance auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm. Zumindest war es einmal so gewesen.
»Wie lief deine Klausur?«, seine Lippen bewegten sich, formten Worte, denen ich nichr folgen konnte. Ich war noch immer gefangen in meinem Gedankenkarussell und so brauchte ich ein paar Sekunden, bis ich wieder zu mir selbst fand. Bis ich mich daran erinnerte, dass Julian sich ohne meinen Willen in mein Leben eingemischt hatte. In meine Entscheidungen.
Wie aufs Stichwort begann meine Hand zu zittern, als wollte sie mich ebenfalls daran erinnern, wofür Julian verantwortlich war.
»Ich muss los«, murmelte ich, statt seine Frage zu beantworten und wandte mich zum Gehen. Diese Rechnung hatte ich allerdings ohne Julian gemacht. Blitzschnell stand er unmittelbar neben mir und hielt mich am Arm zurück.
»Laney, bitte«, flehte er. »Lass uns reden.«
Seine langen Finger schlangen sich um meinen Oberarm und trotz der Kleidung, die einen unmittelbaren Kontakt vermied, fühlte sich seine Berührung an wie ein Stromschlag.
Mein Blick wanderte von seiner Hand, die noch immer meinen Arm umfing, nach oben zu seinem Gesicht. Mit einem Mal war Julian mir nahe. Sehr nahe. Zu nahe. So nahe, dass ich fürchtete, mich jeden Moment in seinen Augen zu verlieren und meinen inneren Kampf zu seinen Gunsten zu verlieren.
»Ich will aber nicht reden«, entgegnete ich stumpf, entriss ihm meinen Arm und machte erneut Anstalten, nach draußen zu flüchten.
Aber Julian war schneller.
Erneut stellte er sich mir in den Weg, verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und starrte aus Augen, die ein klein wenig verärgert wirkten, auf mich hinab.
Wütend starrte ich zurück.
Julians Lippen öffneten sich, als wollte er seinem Ärger Luft machen, entschied sich in letzter Sekunde jedoch dagegen und schloss sie wieder. Dann nahm sein Gesicht einen schon fast flehentlichen Ausdruck an.
»Laney... Bitte lauf nicht immer vor mir weg. Wir müssen darüber reden«, flüsterte er.
Julians Stimme war weich wie Butter, sanft wie eine Feder und sie lullte mich so sehr ein, dass ich es zuließ, als Julian nach meiner Hand griff.
Der Moment, in dem wir uns berührten, ließ etwas in mir explodieren. Mein Herz überschlug sich und alles andere rückte in den Hintergrund. Alles in mir sehnte sich danach, dass unsere Hände nicht das einzige waren, was sich berührte.
Ich schloss die Augen und ein weiteres Mal rief ich mir in Erinnerung, dass die Gefühle, die wir empfanden, in so vielerlei Hinsicht falsch waren. Julian war mein Professor und als wäre diese Tatsache nicht schon Grund genug, dass wir uns endlich voneinander fernhielten, hatten Julians Taten mir gezeigt, dass ich ihm nicht mehr vertrauen konnte. Dass ich ihm nicht mehr vertrauen wollte.
Ich musste dem Ganzen ein Ende setzen, denn Julian war ganz offensichtlich nicht in Lage, klar zu denken. Als wäre es nicht schon dumm genug, mich mitten in der Universität um ein Gespräch zu bitten, hielt er nun sogar noch meine Hand. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass er sich seiner Taten nicht bewusst war und mit dem Feuer spielte.
Ruckartig entriss ich ihm meine Hand und brachte etwas Abstand zwischen uns, indem ich ein paar Schritte rückwärts wich.
»Ich muss gar nichts«, erwiderte ich mit eisiger Stimme.
Ich machte auf dem Absatz Kehrt und stürmte davon. Zwar lief ich zurück in die Fakultät und somit in die entgegengesetzte Richtung, in die ich eigentlich wollte, doch das war mir gleich.
Hauptsache weg von Julian...
Ich wusste, dass ich mich unfair verhielt. Ich wusste auch, dass Julian zumindest ein Gespräch verdient hatte oder zumindest die Chance, sich zu erklären. Aber das Fakultätsgebäude, wo wir uns mitten auf dem Präsentierteller befanden, war definitiv nicht der richtige Ort dafür. Und davon abgesehen war ich noch nicht bereit, mich in ein Gespräch mit ihm zu begeben. Mein verräterischer Körper hatte das soeben zu Genüge bewiesen. Eine einzige Berührung und ich schmolz dahin wie Wachs ins einen Händen.
Nein, ich war alles andere als bereit für dieses Gespräch.
Ich beschleunigte meine Schritte und aus Angst, Julian könnte mir folgen, schlug ich den Weg zur Toilette ein. Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fiel, hatte ich endlich wieder das Gefühl, richtig atmen zu können. Ich lief zum Waschbecken, stütze die Hände darauf ab und nahm einen tiefen Atemzug, um mein pochendes Herz zu beruhigen.
Doch das hielt leider nicht lange an.
Denn eine Sekunde später öffnete sich die Tür erneut und ich stellte erschrocken fest, dass Julian mir gefolgt war. Er schreckte nicht einmal davor zurück, dass es sich hier um eine Damentoilette handelte. Ich fuhr zu ihm herum und die Empörung stand mir regelrecht ins Gesicht geschrieben.
»Julian! Was soll das? Du darfst hier nicht sein, das ist eine Damentoilette, falls du nicht richtig lesen kannst! Du...«, weiter kam ich nicht, denn der wild funkelnde Ausdruck in seinen unendlich grünen Augen ließ mich abrupt verstummen.
Schnellen Schrittes kam er näher und machte sich dabei nicht einmal die Mühe, die Toilettenkabinen zu checken, um sicherzustellen, dass wir auch wirklich alleine waren. Stattdessen stürmte er mit unheilvollem Gesichtsausdruck auf mich zu und blieb unmittelbar vor mir stehen.
»Es ist mir scheißegal, ob das hier die Damentoilette, die Herrentoilette oder das Büro des Dekans höchstpersönlich ist, aber du wirst mit mir reden, Laney, ich lasse mich von dir nicht mehr abfertigen«, Julian war fuchsteufelswild. Er schleuderte mir die Worte regelrecht entgegen, sodass ich beim Klang seiner aufgebrachten Stimme beinahe zusammenzuckte. Aber bei allem Verständnis für seine Situation, seine Gefühle und seinen Schmerz... ich würde mich nicht von ihm anschreien lassen!
Ich straffte die Schultern und reckte angriffslustig mein Kinn nach vorn.
»Ich kann tun und lassen was ich will und ich werde erst recht nicht mit dir reden, wenn du mich anschreist!«, blaffte ich entschieden zurück.
Julians Augen verdunkelten sich und er setzte gerade zu einer wohl spitzen Bemerkung an, als sich die Tür zur Damentoilette erneut öffnete.
Mein Herz machte einen Satz und Adrenalin schoss durch meine Adern.
Ich Bruchteil einer Sekunde wich ich, schneller als der Blitz, einen Schritt von Julian zurück. Schlimm genug, dass man uns streitend auf der Damentoilette erwischte, da mussten wir nicht noch zusätzlichen Gesprächsstoff liefern, indem wir so nahe beieinander standen. Auch wenn die Lage, in der wir uns befanden, absolut eindeutig war und wir sicherlich aus jeder Pore das Wörtchen Reue versprühten.
Ich wappnete mich innerlich für die bevorstehende Konfrontation mit der Fremden, als mein Blick einen braunen Lockenkopf ausmachte, der hinter der Tür zum Vorschein kam.
Dunkles Haar. Fliederfarbenes Kostüm. Warme braune Augen.
Charlotte.
Ich wusste nicht, ob ich erleichtert, alarmiert oder beschämt sein sollte. Womöglich war ich alles davon, als Charlotte beim Eintreten das Gesicht hob und in unsere Richtung schaute.
Abrupt blieb sie stehen und ihre Augen wurden groß vor Überraschung.
»Oh...«, stieß sie verwundert aus und ihre Augen wanderten zwischen Julian und mir hin und her. Sie setzte zum Reden an, verstummte allerdings sogleich wieder. Sie kam nicht einmal dazu, weiter zu sprechen. Julian schnitt ihr eiskalt das Wort ab. Und das auch noch auf höchst unhöfliche Art und Weise, wenn man bedachte, in welcher Situation er sich gerade befand. Einer Situation, in der er von Charlottes Wohlwollen abhängig war.
»Raus!«, seine Stimme schnitt durch den kleinen Raum und hallte an den Wänden wider. Kalt. Frostig. Unnahbar. Eine Stimme, die es gewohnt war, dass ihre Befehle Gehör fanden.
Mein Blick wanderte fassungslos von Charlotte zu Julian und wieder zurück zu Charlotte. Sie war irritiert. Verwirrt. Unsicher. Kurz flackerten ihre braunen Augen in meine Richtung, als wollte sie sichergehen, dass mit mir alles in Ordnung war. Als könnte ich in Schwierigkeiten stecken. Schwierigkeiten, aus denen sie mich retten müsste.
Peinlich berührt schenkte ich ihr ein kaum merkliches Kopfschütteln, um ihr zu signalisieren , dass es mir gut ging. Dass sie gehen sollte. Dann schlug ich die Augen nieder und versuchte meine glühenden Wangen und mein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bekommen.
Wenn Charlotte bis dato nichts von meiner Beziehung zu Julian geahnt hatte, so musste es ihr spätestens in diesem Moment wie Schuppen von den Augen fliegen. Zu gerne hätte ich Mäuschen gespielt und einen Blick in Charlottes Kopf geworfen. Was sie wohl jetzt von mir dachte? Würde sie mich als naiv betiteln, weil ich mich auf meinen Professor eingelassen hatte? Auf eine Beziehung, die von Beginn an zum Scheitern verurteilt war? Würde sie vielleicht sogar so weit gehen und annehmen, ich hätte es der Noten wegen getan? Oder würde sie Verständnis zeigen? Wäre sie auf der Seite der Liebe?
Charlottes Gesicht gab nichts dergleichen preis. Sie verzog keine Miene. Ihre Augen huschten nur voller Wachsamkeit zwischen Julian und mir hin und her. Und dann, als ich schon glaubte, sie würde darauf bestehen, dass ich ihr hier und jetzt Rede und Antwort stand, warf sie mir nur einen eindringlichen Blick zu, nickte kaum merklich und verschwand.
Die Tür hinter ihr fiel wieder ins Schloss und das Geräusch ließ mich erneut zusammenzucken. Als wollte mir der Knall der zufallenden Tür vor Augen führen, was gerade passiert war. Wie knapp davor wir waren, aufzufliegen. Ein Hauch davon entfernt, erwischt zu werden. Dass uns jeden Moment alles um die Ohren fliegen könnte.
Ich hatte es zu weit kommen lassen.
Ich war unvorsichtig geworden.
Julian war unvorsichtig geworden.
Er musste völlig den Verstand verloren haben, mich mitten in der Universität derart zu bedrängen. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte er Charlotte abgefertigt, als wäre sie diejenige, die einen Fehler begannen hatte. Dabei war es Julian, der mitten in er Damentoilette stand und mich anpflaumte.
Fassungslos fuhr ich zu ihm herum.
»Hast du vollkommen den Verstand verloren?«, zischte ich, hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Tür. Sie begann heftig zu zittern. Doch in diesem Augenblick war es mir gleich.
Ich war wütend.
Verdammt wütend.
»Herzlichen Glückwunsch, wir sind erwischt worden. War es das, was du wolltest? Du kannst von Glück reden, wenn ich Charlotte davon überzeugen kann, es nicht dem Dekan zu melden!«
Julians Augen verdunkelten sich erneut und ein unheilvoller Ausdruck huschte über sein hübsches Gesicht.
»Wir wären nicht erwischt worden, wenn du endlich mit mir reden würdest«, widersprach er und seine missbilligende Stimme hallte in meinem Innern wider. In diesem Moment hätte ich zu gerne gewusst, was in ihm vorging. Überwog seine Enttäuschung über meine Weigerung, mit ihm zu sprechen? Oder empfand er auch ein kleines bisschen Furcht davor, alles zu verlieren? Angst um seine Zukunft? Angst davor, Charlotte könnte das melden, von dem sie soeben unfreiwillig Zeuge geworden war.
Ich hätte mir weiter Gedanken darüber gemacht, wenn seine Worte mich nicht zum Verstummen brachten.
Julian hatte Recht.
Das schlimmste an der ganzen Sache war nicht, dass die Gefahr bestand, Charlotte könnte es dem Dekan melden oder nun ein falsches Bild von mir haben. Nein, das schlimmste war, dass ich Julian nicht einmal einen Vorwurf machen konnte.
Dieses Schlamassel war meine Schuld.
Nur wegen meiner Sturheit und meinen verletzten Gefühlen befanden wir uns nun in dieser Misere. Hätte ich Julian von Anfang an meine Zeit geschenkt und ein erwachsenes Gespräch geführt, wäre all das nicht passiert. Er hätte mich nicht hier in der Fakultät in Bedrängnis gebracht und Charlotte wäre niemals reingeplatzt.
Meine Schuld.
Aber was war mir anderes übrig geblieben? Ich hatte weder die Kraft noch die Energie, mich mit meinen Gefühlen für Julian auseinanderzusetzen, geschweige denn mit seinem Verrat, der mein Herz noch immer mit eisernem Griff gefangen hielt.
Nun gut, vielleicht war es nicht ganz meine Schuld. Vielleicht hatten Julian und ich gleichermaßen dazu beigetragen, dass wir nun erwischt worden waren. Doch es lag an mir, diese Sache wieder in Ordnung zu bringen.
»Ich werde mit Charlotte reden«, lenkte ich ein und machte Anstalten, die Damentoilette zu verlassen.
Ein weiteres Mal an diesem Tag stellte Julian sich mir in den Weg. Seine Augen verdunkelten sich erneut und er trat noch einen Schritt näher an mich heran, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührt hätten, wäre er nicht so viel größer als ich.
Und zugegeben - seine Größe war durchaus einschüchternd.
Einschüchternd und absolut vereinnahmend.
Ich schluckte schwer.
»Und wann redest du endlich mit mir?«, unter seinen dichten, schwarzen Wimpern schaute er auf mich herab und seine Augen funkelten. Sie waren eine wilde Mischung auf Hoffnung und Resignation. Verzweiflung verzerrte seine Schönheit, die ich selbs jetzt noch an ihm bewunderte.
Ich würde Julian nicht mehr lange vertrösten können. So viel stand fest. Das wurde mir in diesem Moment bewusst. Und zwar nicht nur, weil es mir zunehmend schwieriger fiel, ihn abzuweisen, sondern auch, weil er kurz davor stand, völlig durchzudrehen. Die Kontrolle zu verlieren. Und der Grund dafür war ich.
Einerseits freute ich mich darüber, dass Julian offensichtlich so viel für mich zu empfinden schien und andererseits brach es mir das Herz, weil ich trotzdem die Enttäuschung über das, was er mir angetan hatte, nicht vergessen konnte.
»Ich...«, ich stockte und verlor mich für einen kurzen Moment in dem See seiner unendlich grünen Augen. »Ich kann nicht.«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, veränderte sich etwas in Julians Gesicht.
Das helle, glühende Grün seiner Augen wurde zu einem tiefen, dunklen Waldgrün, das kein bisschen Wärme mehr zu besitzen schien. Jegliche Hoffnung schwand aus seinem Gesicht und es versteinerte zu einer leeren Maske.
Beinahe bereute ich meine Worte, aber ich konnte ihm nicht das geben, was er sich momentan wünschte. Ich wusste, das ich irgendwann mit ihm reden musste, doch dieser Tag war nicht heute.
Ich brauchte mehr Zeit.
Zeit, bis die Wunde, die er mir zugefügt hatte, verheilt war.
Zeit, bis die Enttäuschung und die Verletzung verblasst waren.
Zeit, bis ich ihn vielleicht wieder ein bisschen mehr so ansehen konnte, wie vor drei Monaten.
Doch Julian schien das nicht zu verstehen. Wie auch, wenn mir die Worte fehlten, um es ihm begreiflich zu machen? Ich setzte bereits zur Schadensbegrenzung an, um ihm meine Gefühlslage zu erklären, um ihm zu sagen, dass er mir nur ein bisschen mehr Zeit geben sollte, aber Julian ergriff vor mir das Wort.
»Weißt du was?«, seine Stimme nahm plötzlich einen beunruhigenden, eisigen Tonfall an. Ein Vorbote dafür, dass mir seine nächsten Worten nicht gefallen würden.
»Du tust mir leid«, sagte er unerwartet und ließ mich somit in absoluter Verwirrung dastehen.
»Du rennst vor deinen Problemen davon, weil du Angst hast. Angst vor Nähe, Angst vor Intimität und Angst vor Hoffnung. Du hast dich so sehr mit dem Tod abgefunden, dass du dich vor dem Leben fürchtest. Und deshalb sperrst du alle Menschen, die dich lieben, aus deinem Leben aus«, er schüttelte kaum merklich den Kopf und seine Augen schienen glimmernde, boshafte Funken zu sprühen. »Das ist nicht nur unendlich traurig, sondern auch absolut feige.«
Er spuckt das letzte Wort mit einer Abscheu aus, die sich anfühlte wie eine imaginäre Ohrfeige. Julians Aussage hob meine Welt aus den Angeln. Sie rüttelte an den Grundmauern und ließen alles einstürzen, wie ein fragiles Kartenhaus. Sie trafen mich wie ein Pfeil mitten ins Herz und ich musste an mir halten, um ein schmerzerfülltes Ächzen zu unterdrücken.
Nicht, weil seine Worte gelogen waren.
Oder weil sie so sehr weh taten.
Sondern weil sie wahr waren.
Weil er mir soeben einen Spiegel vorgehalten und mir meine tiefsten Geheimnisse offenbart hatte
Fassungslos starrte ich zu Julian hoch.
Ich wusste nicht, wie viel zeit verging, aber als die Fassungslosigkeit schwand und Tränen meine Sicht verschwimmen ließen, flammte ein kurzer Ausdruck von Bedauern in seinen Augen auf. Er schien zu begreifen, dass er gerade eine Grenze überschritten hatte. Eine Grenze, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Doch zum Zurückrudern war es zu spät. Er konnte nicht ungeschehen machen, was er mir soeben an den Kopf geworfen hatte. Genauso wenig wie er den Schmerz ungeschehen machen konnte, den er mir vor drei Monaten zugefügt hatte, indem er mein Herz dazu zwang, erbarmungslos weiter zu schlagen.
Für ihn.
»Laney...«, setzte Julian dieses Mal mit einem weitaus sanfteren Ton an, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Ich tat das erste, das mir in den Sinn kam. Ich hob die Hände, legte sie auf seine Brust und stieß ihn von mir weg.
»Wie kannst du es wagen?«, fauchte ich und holte bereits aus, um ihm einen erneuten Stoß zu verpassen.
Julian war schneller.
Er bekam meine Handgelenke zu fassen und hielt sie fest umklammert, um mich so davon abzuhalten, ihm weh zu tun.
Doch etwas in mir war zersprungen.
Ich sah nur noch rot.
Und so versuchte ich hektisch, meine Arme zu befreien. Ich zog, zog und zog, aber Julians Hände waren wie zwei Schraubstöcke um meine Gelenke und gaben mich nicht mehr frei.
»Beruhige dich, Laney«, drang seine Stimme zu mir durch, die mittlerweile so viel sanfter klang, als zuvor. Als könnte sie niemals im Leben solch fürchterliche Worte aussprechen, die mein Inneres soeben im Bruchteil einer Sekunde in Schutt und Asche zerlegt hatten.
Doch ich dachte nicht einmal daran, mich zu beruhigen.
Ich wollte von Julian weg und gleichzeitig auf ihn zuspringen. Ihm weh tun. So, wie er mir gerade weh getan hatte. Obwohl mir meine innere Stimme zuflüsterte, dass ich diese Worte hatte hören müssen.
Worte, die roh, unbestreitbar wahr und in ihrem Erscheinen absolut schonungslos waren.
Worte, die die Macht hatten, mich möglicherweise wachzurütteln.
Doch es war alles zu viel.
Der Schmerz.
Die Trauer.
Die Tatsache, dass ich kurz vor dem Tod stand.
Und vor allem Julian.
Ein hoffnungsloses Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Ein Schluchzen so voller Verzweiflung, dass es Mark und Bein erschütterte.
Ich wusste gar nicht so recht, wie mir geschah, als ich plötzlich herumgewirbelt und an eine harte Brust gezogen wurde. An Julians Brust.
»Es tut mir leid, Laney«, hörte ich ihn flüstern, während seine Arme sich um mich schlangen und mich hielten, als wäre ich das Einzige, was diese Welt am Auseinanderfallen hinderte.
»Es tut mir so leid. Alles«, flüsterte er wieder und dann spürte ich seine Lippen an meiner Stirn. Seine Lippen, die einen hauchzarten Kuss auf meinen Kopf hauchten. Einen Kuss, der so sanft war, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Und für einen kurzen, aber dennoch riskanten Moment gestattete ich mir ein letztes Mal, in Julians Arme zur Ruhe zu kommen. Ich ließ zu, dass sie mich hielten, als wäre dies unser letzter Moment auf der Erde.
Dann schlang ich meine Arme ebenfalls um ihn.
Nur noch einmal. Nur noch ein einziges Mal sagte ich mir in Gedanken.
Auch wenn diese Worte klangen, wie eine bittersüße Lüge...
Hellooo meine Lieben!
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen! Ein sehr emotionales Kapitel dieses Mal. Mit ganz viel Laney & Julian Content! <3 Ich bin gespannt, was ihr in den Kommis über das Kapitel zu berichten habt!
PS: Ich kann immer noch nicht fassen, dass Her Heart es auf die Shortlist geschafft hat! Ich bin absolut sprachlos und überglücklich darüber! Es war zudem auch so unfassbar schön zu sehen, wie sehr ihr euch für mich gefreut habt. Dank euch habe ich es überhaupt erst so weit geschafft. Ich bin unendlich dankbar für eure Zeit und eure liebevollen Worte. Daher einfach nochmal danke für alles. Ihr seid wirklich die Besten!
Ganz ganz ganz liebe Grüße,
eure Lora <3
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