Kapitel 4
Songempfehlung: Bring me the Horizon - Mother Tongue
Das Glitzern meines Oberteils erinnerte mich mehr an Edward Cullens nackte Haut, statt an ein silberfarbenes Hängerchen. Es sah ganz nett aus, aber die wulstige Narbe, die wieder einmal aus dem tief ausgeschnittenen Dekolleté hervor spitzelte, bedeckte es nicht. Immerhin passte es ganz gut zu meiner blauen Lieblingsjeans, die ich zur Silvesterparty trug. Eine Silvesterparty, auf die ich meine Freundinnen begleitete und auf die ich herzlich wenig Lust hatte.
Seit zwei Tagen war ich wieder zurück am Campus.
Joshs Worte, ich solle meinen Traum verfolgen, hatten sich in mein Gehirn gebrannt und mich die ganze Woche nach Weihnachten verfolgt. So lange bis ich mich schließlich dafür entschied, mein Studium fortzuführen. Denn im Grunde genommen behielt Josh recht. Yale war schon immer mein größter Traum gewesen. Wieso sollte ich ihn nun, da er sich vor meiner Nase befand, nicht ergreifen? Ihn nicht weiterleben? Insgeheim war meine Entscheidung ohnehin schon gefallen gewesen, sonst hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, alle Prüfungsnachweise nachzuholen.
Noah und Luan hatten uns eingeladen, sie zu einer der angesagtesten Feten zu begleiten, die von der DEKE Studentenverbindung veranstaltet wurde, eine der berühmtesten Studentenverbindungen Yales. Da Caya, Reya und Charlotte regelrecht darauf brannten, eine waschechte Verbindungsparty zu besuchen, waren Yuki und ich somit überstimmt. Ich hätte lieber einen gemütlichen Abend im Wohnheim verbracht. Doch das glich am Silvesterabend einem Ding der Unmöglichkeit. Auf dem Campus und auf den Straßen wuselte es nur so von partyfanatischen Studenten, die loszogen, um aus diesem Abend eine unvergessliche Nacht zu machen. Mein Blick wanderte auf dem Spiegel zu Yuki, die hinter mir im Wohnbereich auf einem Sessel saß. Immerhin war ich mit meiner miesen Laune nicht alleine.
Seit Luan Yuki vor zwei Monaten im Club hatte stehen lassen, war ihre Freundschaft etwas unterkühlt. Und das obwohl es im Grunde genommen keine Ausnahme darstellte, dass Luan Yuki immer und immer wieder enttäuschte. Doch irgendetwas hatte sich verändert zwischen ihnen an diesem Abend. Es war, als würde Yuki sich langsam bewusst werden, dass es verlorene Liebesmüh war, auf Luans Liebe zu warten. Als würde sie allmählich aus einem Traum erwachen und beginnen, ihr Leben zu leben.
Ob das wohl an ihrem bevorstehenden Date mit Ren nächste Woche lag?
Auch wenn dieses Date im Grunde genommen nur einer Wette entsprungen war, so setzte ich große Hoffnungen auf Ren. Nachdem Caya nun schon seit zwei Monaten an einem gebrochenen Herzen litt wegen Noah und auch ich noch an der Trennung von Julian zu knabbern hatte - sofern man es überhaupt als solche betiteln konnte -, sollte doch wenigstens Yuki ein bisschen Glück vergönnt sein.
»Du siehst aus wie ein leckerer Happen, in den ich gerne reinbeißen würde«, Caya wackelte mit den Brauen, während sie über meine Schulter hinweg mein Spiegelbild begutachtete.
Skeptisch hob ich eine Braue.
»Ich finde ich sehe eher aus wie eine billige Wish Version von Edward Cullen.«
Reya, die hinter mir auf dem Sofa lag und uns beobachtete, prustete los. Auch Charlotte kicherte leise, die vorm Sofa auf dem Boden saß. Konzentriert starrte sie auf einen kleinen Handspiegel und zog sich einen Eyelinerstrich.
Yuki hingegen hatte es sich mit ihrem Laptop auf dem Schoß in einem Sessel gemütlich gemacht. Ihr braunschwarzes Haar war hochgesteckt und betonte den Pony, den sie sich vor Kurzem hatte schneiden lassen. Konzentriert waren ihre Augen auf den Bildschirm gerichtet.
»Yuki, was meinst du zu Laneys Outfit?«, verlangte Caya nun auch Yukis Meinung. Doch sie nahm gar keine Notiz von uns. Stattdessen wanderten ihre dunklen Augen von rechts nach links und wieder von links nach rechts, als schien sie sich irgendetwas Hochinteressantes zu Gemüte zu führen.
»Yuki!«, plärrte Caya empört, griff nach einem Kissen und warf es in Yukis Richtung. Sicherlich hatte sie Yukis Laptop damit treffen wollen, aber sie verfehlte ihr Ziel um ein paar Zentimeter. Immerhin hatte sie jetzt Yukis Aufmerksamkeit.
»Was ist so interessant, dass du uns wieder einmal mit völliger Ignoranz strafst?«
»Nichts«, Yuki machte Anstalten, den Laptop hastig zuzuklappen, aber Caya war schneller. Mit zwei großen Schritten hüpfte sie in Yukis Richtung und stibitze ihr das Gerät.
»He! Gib das zurück!«, protestierte Yuki lautstark und versuchte sich ihren Laptop zurückzuholen. Aber Caya war um einiges größer und hielt ihn außerhalb Yukis Reichweite.
»Aaaaaaha!«, rief Caya triumphierend und drehte das Gesicht wieder in Yukis Richtung. »Ren Rochana ist also wichtiger, als deine Freundinnen?«
Yuki lief knallrot an und versuchte erneut, Caya den Laptop zu entwenden. Dieses Mal gelang es ihr. Caya kicherte laut, ehe sie Yuki zuzwinkerte.
»Mach dir nichts draus. Wir verstehen deine Obsession mit ihm. Er ist verdammt heiß.«
»Dem kann ich nur zustimmen«, mischte sich Reya ein und setzte sich sogleich vom Sofa auf. »Ich habe von einer Freundin gehört, die wiederum von einer Freundin erzählt bekommen hat, dass er im Bett noch besser sein soll, als er aussieht. Ein Gott. Eine Legende. Ein...«
»Schon gut, wir haben's verstanden«, warf Charlotte ein. »Er fickt gut. Sag einfach, wie es ist.«
Yukis Gesicht war mittlerweile so rot angelaufen, dass ich mir allmählich Sorgen um sie machte.
Reya hob entschuldigend die Hände in die Höhe. »Sorry, ich wollte die Worte der Freundin meiner Freundin nur wahrheitsgemäß weitertragen.«
»Leute, lasst Yuki in Ruhe!«, mischte ich mich nun ein und verteidigte meine einzige Verbündete an diesem Abend. Alle Augen richteten sich auf mich.
»Sollen wir lieber über dein Liebesleben sprechen?«, höhnte Reya offensiv und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Jeder hat schmutzige Wäsche, oder nicht?«, ihre Augen funkelten aufgeregt wie die einer Schlange. Ich verzog missbilligend das Gesicht. Um ein Haar hätte ich vergessen, wie durchtrieben Reya manchmal sein konnte. Um ehrlich zu sein, fand ich es nicht in Ordnung, dass sie nach allem was passiert war, auf Julian anspielte. Auch noch in Charlottes Gegenwart, die schließlich noch immer im Ungewissen tappte, was mein Verhältnis zu meinem Professor anging. Nun ja, um ehrlich zu sein war ich mir ziemlich sicher, dass Charlotte Lunte roch. Schließlich war sie an dem schrecklichen Tag vor zwei Monaten dabei gewesen und hatte alles, was sich während meines Herzstillstands abgespielt hatte, aus erster Hand mitbekommen. Auch der Blick, den sie mir nun aus ihren scharfsinnigen Augen zuwarf, sprach Bände.
Hastig sah ich weg und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf Reya. Ich erwiderte ihren angriffslustigen Blick.
»Wieso erzählst du uns nicht von deinem eigenen Liebesleben, statt uns immer auszuquetschen? Du könntest von deinem, wie hat Charlotte es letztens beschrieben?«, ich hielt inne und ahmte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck nach. »Deinem ersten Mal mit fünfzehn berichten, seit dem dein Liebesleben nicht mehr existent ist?«
Noch während ich die Worte aussprach, bereute ich sie schon.
Reyas Mundwinkel glitten nach unten und ein Ausdruck absoluter Leere trat auf ihr Gesicht.
»Nein«, sagte sie starr. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
Sofort wurde mir schwer ums Herz und ein schlechtes Gewissen beschlich mich. Ganz offensichtlich verband sie tatsächlich keine schönen Erinnerungen daran. Stille senkte sich über den Raum, da jeder die angespannte Stimmung wahrnahm, die mit einem Mal in der Luft lag. Eine Spannung, die so heftig war, dass mir beinahe das Atmen schwer fiel.
»Entschuldige«, warf ich sofort ein, um die Wogen zu glätten und Reya zu beschwichtigen. »Ich wusste nicht, dass es ein so sensibles Thema für dich ist.«
»Schon gut«, Reya winkte ab und tat meinen Fehler somit ab. Doch die Art und Weise, wie sie hart schluckte, verriet mir, dass nichts gut war.
Noch immer herrschte bedeutungsschweres Schweigen. Ein Schweigen, das von einem lauten Räuspern und ein paar sanften Worten durchbrochen wurde.
»Hör mal, Reya, wir sind für dich da, wenn du darüber sprechen möchtest, ja?«, zu meiner Verwunderung war es Caya, die sich mit ihrer Aussage vorsichtig herantastete.
Reya warf ihr einen raschen Blick zu, ehe sie ihre Augen wieder senkte und an ihrem Shirt herum nestelte.
»Es gibt nicht viel zu erzählen darüber«, sagte sie und holte tief Luft, als müsste sie sich für die nächsten Worte erst innerlich wappnen. »Mein erstes Mal war unspektakulär. Eben nichts Besonderes«, sie zuckte beiläufig mit den Achseln, als wollte sie ihre belanglosen Worte noch mehr unterstreichen. »Es war wie fast jedes erste Mal. Betrunken und High.«
»Du hast Drogen genommen?«, stieß Caya überrascht aus.
»Was? Nein!«, Reya schüttelte hastig den Kopf. »Ich war nur etwas angetrunken, weil wir in meinen Geburtstag reinfeiern wollten. Meine Freundinnen und ich haben Julians Alkoholvorrat geplündert und waren zum ersten Mal betrunken. Nachts habe ich mich dann zu diesem Typen geschlichen, in den ich schon seit einer Weile verliebt war und... Eins und eins hat zum anderen geführt und wir sind im Bett gelandet. Ich habe erst zu spät bemerkt, dass er High und auf Droge war und am nächsten Tag hat er sich nicht mehr dran erinnert. Es war super peinlich für uns beide und die Sache war gegessen. Ende der Geschichte.«
»Was ein Mistkerl«, raunte Caya neben mir, während Yuki nur angewidert das Gesicht verzog. Charlotte hingegen kannte diese Geschichte schon und legte Reya mitfühlend eine Hand auf den Arm.
»Es tut mir so leid, dass ausgerechnet deine erste Erfahrung so furchtbar war. Das erste Mal sollte etwas Schönes sein. Etwas Besonderes.«
»Ach komm schon, wessen erstes Mal war schon schön und besonders? Meistens ist es ungeschickt, peinlich und schneller vorbei, als Usain Bolt seine hundert Meter läuft. Nebenbei kann man noch froh sein, wenn das Kondom richtig sitzt«, warf Caya unbedarft ein und begann ihre Haare zu zwei Buns zusammenzustecken.
»Caya!«, Charlotte warf ihr einen bösen Blick zu. »Du solltest etwas aufmunterndes sagen und die Stimmung nicht noch mehr runterziehen.«
»Was denn?«, Caya nahm ein Haargummi zwischen die Zähne und zuckte mit den Schultern. »Ist doch so«, nuschelte sie hinter dem Haarband. »Oder war dein erstes Mal etwa schön?«
Charlotte straffte die Schultern und ein stolzer Ausdruck legte sich über ihr Gesicht.
»Tatsächlich war es das.«
»Na dann bist du die Einzige«, murmelte Yuki und wirkte im nächsten Moment selbst überrascht davon, dass sie etwas zu unserer Konversation beigetragen hatte.
»Ha!«, triumphierte Caya, nahm sich das Haarband aus dem Mund und deutete damit auf Yuki. »Ich wusste, dass Luan eine Niete im Bett ist!«
»Vielleicht war Yuki aber auch einfach nur zu heiß?«, konterte Reya scherzhaft, ehe ihre Gesichtszüge eine Sekunde später entgleisten und sie sich ruckartig auf dem Sofa aufsetzte. »Moment mal, du hattest Sex mit Luan?«
Yuki errötete bis zu den Haarwurzeln und senkte hastig wieder den Blick auf ihren Laptop, als könnte sie die Frage somit einfach ausblenden.
»Luan? Unser Freund Luan? Luan Cane?«, Charlotte wirkte verblüfft.
»Leute, lassen wir Yuki in Ruhe!«, verteidigte ich sie und lenkte somit alle Blicke wieder auf mich.
»Aber...«, begann Reya zu widersprechen, doch ich fiel ihr sofort ins Wort.
»Du wolltest auch nicht über dein erstes Mal reden! Also, können wir vielleicht einfach das Thema wechseln?«
Dies schien Reya zu überzeugen, denn sie verstummte.
Den Rest des Abends verbrachten wir damit, uns für die Party fertig zu machen und uns gegenseitig zu schminken. Charlotte facetimte noch mit ihrem Verlobten, ehe wir gegen einundzwanzig Uhr aufbrachen. Zu meinem Grauen stellte ich fest, dass das Haus der Studentenverbindung nicht weit entfernt von der Livingston Street war - Julians Zuhause.
Ohne meine Einwilligung begann mein verräterisches Herz sofort schneller zu schlagen. Meine Gedanken standen meinem Herz jedoch in nichts nach. Sofort wanderten sie zu Julian und ich fragte mich, wie er wohl seinen Silvesterabend verbrachte. Bei Freunden? Zuhause alleine? Mit seiner Familie? Mein Blick wanderte zu Reya. Sie wusste ganz sicher, was Julian heute Abend trieb, aber ich hätte mir lieber meine linke Hand abgehackt, als sie danach zu fragen.
Die Sache zwischen Julian und mir war vorbei. Ich hatte es so gewollt. Je eher ich mich damit abfand, desto besser.
Um auf andere Gedanken zu kommen, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Haus im viktorianischen Stil vor mir, in dem die heutige Silvesterparty stattfand. Auf den ersten Blick hätte man nicht angenommen, dass es sich hierbei um eine Studentenvereinigung handelte. Die dunkelblaue Verkleidung mit den weißen Ornamenten wirkte nicht gerade wie ein Haus, in dem eine Horde junger Männer hausten. Doch die griechischen Zeichen über der Haustür - Delta Kappa Epsilon - verrieten einem, dass hier definitiv keine Vorstadtfamilie lebte.
Auch die vielen Leute, die sich auf der Veranda tummelten, die laute Musik und die Silvesterdeko, welche aus Lichterketten und einem riesigen Banner bestand, auf dem die Worte Happy New Year prangten, waren Hinweis dafür, dass hier eine riesige Fete steigen würde. Eine Fete, auf der nur geladene Gäste willkommen waren und die als die Silvesterparty unter den Yale Studenten galt.
»Heilige Scheiße, ich kann nicht glauben, dass Noah und Luan uns tatsächlich mit auf die Liste haben setzen lassen«, Reya lächelte.
»Ja, echt cool«, stimmte Charlotte zu und gemeinsam gingen wir rein.
Drinnen platzte das Haus aus allen Nähten, als hätte der Teufel wieder einmal seinen Sack ausgeleert. Wir wurden von stickiger Luft, schwitzenden Körpern und lautem Gegröle empfangen. Im Eingangsbereich konnte man wenigstens noch einen Fuß vor den anderen setzen, ohne dabei gleichzeitig fünf andere Leute anzurempeln. Doch im Wohnzimmer sah das schon ganz anders aus. Es war zu einer Tanzfläche umfungiert worden. Körper drückte sich an Körper und wild tanzten die Studenten zu den Melodien neuster Hits, die ich aus dem Radio kannte. Der Bass ließ das ganze Haus vibrieren und erschütterte meinen Körper.
Ich ließ meinen Blick über das Meer an Menschen hinweg wandern, von denen nahezu jeder einen roten Becher in den Händen hielt. Dann wanderten meine Augen weiter zur Decke, wo über unseren Köpfen unzählige Lichterketten hingen, die alle paar Sekunden die Farbe wechselten.
Genau so hatte ich mir eine waschechte Studentenparty immer vorgestellt.
»Okay Leute, ich habe eine Idee!«, ertönte Reyas laute Stimme, während sie versuchte unsere Aufmerksamkeit über die laute Musik hinweg auf sich zu lenken. Ihre Augen leuchteten aufgeregt und ein spitzbübisches Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Oh, das bedeutete nichts Gutes!
»Wartet hier!«, trällerte sie, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Doch eine Minute später tauchte sie wieder auf, mit fünf Bechern und einem Stift in den Händen.
»Jeder von uns schreibt der Person, die neben einem steht eine Pflicht auf den Becher, von der sie denkt, dass diese Person sie noch vor Beginn des neuen Jahres tun sollte.«
Caya quiekte begeistert, während Yuki und ich sofort das Gesicht verzogen.
Charlotte hingegen hüllte sich ebenfalls in Schweigen, aber wirkte durchaus neugierig. Wenn sie die Idee für blöd hielt, so ließ sie es sich wenigsten nicht anmerken.
Da ich jedoch kein Spielverderber sein wollte, ließ ich mir von Reya einen Becher in die Hand drücken und warf einen Blick zur Seite. Neben mir stand Charlotte.
Fieberhaft dachte ich darüber nach, welche Pflicht ich ihr wohl auferlegen sollte. Schließlich musste ich bedenken, dass Charlotte verlobt war und eine anstößige Pflicht, die mit anderen Männern zu tun hatte, war daher unangebracht. Schließlich fiel mir etwas Lustiges ein. Mit einem breiten Grinsen nahm ich den Stift, den Reya mir darbot und begann zu schreiben. Dann reichte ich den Stift weiter.
Charlotte erfand eine Pflicht für Caya.
Caya für Yuki.
Yuki für Reya.
Und Reya für mich.
War ja wieder einmal klar, dass ich ein Redenezvous mit dem Teufel alias Reya hatte. So wie ich sie kannte, würde sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Gemeines für mich ausdenken.
»Okay, bereit?«, erkundigte sich Reya, nachdem alle etwas auf die Becher geschrieben hatten. Wir nickten zustimmend.
»Gut, dann tauschen wir die Becher.«
Jeder reichte seinem Nebenmann den beschrifteten roten Plastikbecher und begann neugierig die auferlegte Pflicht zu lesen. Auch ich tat es den anderen gleich und hätte am liebsten laut aufgestöhnt.
Küss einen Fremden.
»Ernsthaft?«, ich hob den Becher hoch und warf Reya einen bösen Blick zu. »Ich habe keine Lust mit irgendeinem fremden Typen zu knutschen! Ich könnte mir ein Herpes holen!«
»Du kannst auch eine Frau küssen, wenn dir das lieber ist?«, bot Reya an und ihre Augen blitzten amüsiert. Ich verstand Reya nicht. Sollte sie nicht mit ihrem Bruder sympathisieren und stattdessen versuchen, mich von anderen Typen fernzuhalten? Sollte sie nicht eher wollen, dass ich mich wieder mit Julian versöhnte, statt mich in die Arme eines anderen Mannes zu treiben? Was bezweckte sie mit dieser Pflicht?
»Meine ist auch nicht besser«, warf Yuki mit einem so grimmigen Gesichtsausdruck ein, dass ich fürchtete, es könnte jeden Moment ein Gewitter über unseren Köpfen einbrechen. Sie hielt uns den Becher hin und drehte ihn so, dass alle ihn in Augenschein nehmen konnten.
Küss Ren Rochana.
Reya brach in lautes Gelächter aus, während Yuki Caya mit Blicken erdolchte.
»Was denn?«, rechtfertige sich Caya, die für Yukis Dilemma verantwortlich war. »Du stehst doch sowieso auf ihn. Ich helfe eurem Glück nur etwas nach.«
»Vielleicht ist er ja gar nicht hier«, warf ich aufmunternd ein.
»Er ist hier«, entgegnete Yuki postwendend und wirkte kein bisschen glücklich darüber. Auch wenn ihre erröteten Wangen etwas anderes zum Ausdruck brachten.
»Tja, scheint als wäre meine Pflicht, Caya einen Lapdance geben zu müssen«, gab nun Charlotte ihre Aufgabe für den heutigen Abend zu erkennen. Die Aufgabe, die ich ihr auferlegt hatte. Alle prusteten los, während Caya jubelnd eine Faust in die Luft reckte.
»Scheiße ja! Ich wollte schon immer mal einen Lapdance bekommen!«
Noch mehr Gelächter.
»Was ist deine Pflicht?«, Caya wandte sich neugierig an Reya.
»Bitte einen Typen der dir gefällt um ein Date«, las Reya vor und hob dabei die Brauen. Dann wanderte ihr Blick zu Yuki. »Etwas Originelleres ist dir nicht eingefallen?«
Yuki zuckte mit den Schultern.
»Da dein Liebesleben wohl nicht existent ist seit deinem katastrophalen ersten Mal, dachte ich, dass könnte ein guter Anfang sein.«
Yukis Worte sorgten für Überraschung.
Ihre Pflicht mochte auf den ersten Blick unspektakulär wirken, aber wenn man Reya und auch die Geschichte kannte, die sie uns vorhin anvertraut hatte, so war es genau die richtige Pflicht, um Reya aus der Reserve zu locken.
Das schien auch Reya zu begreifen und ihre Lippen kräuselten sich zu einem sanften Lächeln.
»Was steht bei dir, Caya?«, fragte ich neugierig und warf meiner besten Freundin einen gespannten Blick zu.
Caya schien noch gar nicht nachgesehen zu haben. Erst jetzt drehte sie den Becher, legte ihren Kopf leicht zur Seite und begann aus ihren braunen Augen, die von kohlrabenschwarzem Kajal umrandet waren, zu lesen. Ein paar rote Strähnen hatten sich gelöst und fielen in ihr hübsches Antlitz.
Doch mit einem Mal veränderte sich Cayas Gesichtsausdruck. War sie zuvor noch hellauf begeistert von den Pflichten, so wirkte sie nun absolut entsetzt.
»Das mache ich nicht«, sie hielt Charlotte den Becher hin und die Stimmung schien plötzlich zu kippen.
»Ach Caya...«, begann Charlotte und ein mitleidiger Ausdruck huschte über ihre Züge.
»Was ist los? Was steht drauf?«, verlangte Reya zu wissen und schnappte Caya den Becher aus der Hand. Dann las sie laut vor.
»Sprich dich mit Noah aus.«
Das erklärte natürlich Cayas grimmiges Gesicht und ihre gekippte Laune.
Seit Noah ihr vor zwei Monaten einen Korb gegeben hatte, war die Stimmung zwischen den beiden sehr angespannt. Zwar hingen sie immer noch mit uns zusammen ab, aber es war nicht mehr so ausgelassen, wie zu Beginn. Sie sprachen kaum miteinander oder ignorierten sich gänzlich.
Zugegeben, Noahs Reaktion auf Cayas Geständnis, bi zu sein, war in der Tat nicht sehr edel gewesen. Doch Noah schien in der Vergangenheit schon einmal sehr verletzt worden zu sein, weil sich sein Schwarm gegen ihn und für eine andere Frau entschieden hatte.
Tja, ein verletzter Stolz und ein angeknackstes Ego konnten wirklich weh tun. Doch davon auszugehen, dass alle Frauen, die bi waren, ihn für eine andere Frau fallen liesen, war wirklich lächerlich. Noah konnte genauso gut von einer heterosexuellen Frau hintergangen werden. Hinter seinem Handeln steckte daher für mich wenig Logik und Caya hatte es nicht verdient, nur aufgrund ihrer Sexualität in eine Schublade gesteckt zu werden. Wir lebten schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ob sie nun hetero, lesbisch oder bi war, spielte keine Rolle.
»Ich weiß, dass er dich verletzt hat, Caya, aber ich glaube es tut ihm wirklich sehr leid und er vermisst dich.«
Caya schnaubte abfällig und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
»Wenn das so ist, dann soll er es mir selbst ins Gesicht sagen.«
»Sehe ich auch so«, stimmte Reya Caya zu. »Caya hat nichts falsch gemacht. Wieso sollte sie das Gespräch zu ihm suchen? Der Knochen kommt schließlich auch nicht zum Hund.«
Charlotte schnaufte resigniert.
»Ja, aber manche Leute trauen sich nicht den ersten Schritt zu machen und manchmal... manchmal muss man jemandem auch eine zweite Chance geben, weil man beim ersten Mal noch nicht so weit war.«
Charlottes Worte schlugen ein wie ein Donnerschlag. Sowohl bei mir als auch bei Caya. Ich schluckte schwer und versuchte mit aller Macht die Gedanken an Julian zu verdrängen. Caya währenddessen wirkte nachdenklich.
»Überleg es dir«, erwiderte Charlotte mit einem warmen Lächeln, das schließlich einen neckenden Ausdruck annahm. »Du hast noch zwei Stunden Zeit.«
»Na schön, ich denke darüber nach«, räumte Caya ein, aber sie wirkte noch immer nicht ganz überzeugt. »Stoßen wir jetzt auf die Pflichten und den heutigen Abend an, oder nicht?«
Jubelrufe erklangen seitens Charlotte, während Reya unsere Becher mit etwas füllte, das stark nach Alkohol roch. Bei meinem Becher angekommen zögerte sie kurz und warf mir einen unschlüssigen Blick zu.
Ich zuckte nur mit den Achseln.
»Ein Becher wird schon nicht schaden.«
Viel mehr konnte an meinem Herz ohnehin nicht mehr kaputt gehen...
Nachdem Reya alle Becher gefüllt hatte, stießen wir an und nahmen einen Schluck. Das Bier schmeckte bitter und ich verzog angewidert das Gesicht. Als mein Blick jedoch auf Yuki fiel, hob ich anerkennend eine Braue.
»Verdammt Yuki, du gibst aber ein ordentliches Tempo vor«, gluckste ich, während ich dabei zusah, wie Yuki den Becher in einem Zug herunterkippte. Als sie absetzte, wischte sie sich mit dem Ärmel über den Mund, drückte den Becher Caya in die Hand und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Etwas verdutzt und auch irritiert starrten wir ihr hinterher, bis wir erkannten, dass Yuki nicht wirklich von uns weglief, sondern vielmehr auf jemand anderen zu.
Abrupt blieb sie vor einem Kerl stehen und schien etwas zu ihm sagen. Der junge Mann, der mir mehr als vertraut war, blickte aus seinen dunkelbraunen, Augen amüsiert auf sie herab.
Und im nächsten Moment stellte Yuki sich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und küsste Ren Rochana inmitten der Tanzfläche.
»Heilige Scheiße, kneif mich einer, passiert das gerade wirklich?«, fragte Caya, woraufhin Reya sie in den Arm kniff.
»Aua!«, schrie Caya und sprang instinktiv von Reya weg. »Das hat weh getan!«
»Du wolltest es.«
Caya warf Reya einen vernichtenden Blick zu, während sie sich beleidigt über den Arm rieb.
»Na schön, dann schauen wir mal, dass Yuki nicht die Einzige ist, die ihrer Pflicht heute Abend nachkommt«, erwiderte Reya. »Ich angel mir dann mal die Liebe meines Lebens, bis gleich!«
Und mit diesen Worten war auch Reya im Getümmel verschwunden.
Stöhnend nahm ich meinen Becher in die Hand und las meine Pflicht erneut.
Küss einen Fremden.
Na das konnte ja heiter werden...
♥
Einen Lapdance und eine Dateeinladung später stand ich vor Dylan Beaufort, einem Mitglied der Studentenverbindung und überlegte, wie ich ihn küssen könnte.
Es waren nur noch ein paar Minuten bis New Years Eve und mir blieb nicht mehr viel Zeit. Da Dylan jedoch in einer ausschweifenden Erzählung darüber war, warum Psychologie im Vergleich zu Philosophie das bessere Studienfach war und er einfach nicht damit aufhören wollte zu reden, standen meine Chancen nicht sehr gut.
Mein Blick glitt über ihn hinweg. Er hatte blondes Haar, strahlend blaue Augen und einen schlanken Körper. Nicht unbedingt mein Typ, doch im Vergleich zu den anderen Jungs hier auf der Party war er tatsächlich noch der Netteste. Während die anderen Kerle nur versuchten, möglichst viel Alkohol in kürzester Zeit zu konsumieren und nebenbei noch drei Mädchen abzuschleppen, schien Dylan wirklich anständig zu sein.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es noch exakt eine Minute bis zwölf war.
Wenn ich jetzt nicht zur Tat schritt, schaffte ich es nicht, meine Pflicht zu erfüllen.
Jetzt oder nie.
Ich hob den Blick und sah in Dylans Gesicht. Er plapperte noch immer vor sich hin und kurzerhand beschloss ich, ihn einfach zum Schweigen zu bringen.
Ich beugte mich vor und kam ihm näher.
»Und in der Psychologie lernst du außerdem, dass... Was machst du da?«, fragte er und machte große Augen. Doch bevor ich seiner Frage überhaupt Beachtung schenken konnte, legte ich meine Lippen auf seine.
Sie waren weich und warm und schmeckten ein bisschen nach Bier, aber das war nicht wirklich schlimm, denn ich hatte schließlich auch welches getrunken.
Vorsichtig begann ich meine Lippen auf seinen zu bewegen. Dylan war für ein paar Sekunden erstarrt, aber dann begann er meinen Kuss zu erwidern. Seine Hände legten sich um meine Taille und zogen mich zu sich heran. Ich spürte seinen warmen Körper, der sich unnachgiebig gegen meinen presste und für einen kurzen Moment wurde ich erfüllt von einer so tiefen Sehnsucht, die mir den Atem raubte.
Ich sehnte mich nach Nähe. Nach Wärme. Nach Intimität.
Nach Julian.
Seine grünen Augen erschienen vor meinem inneren Auge und plötzlich war es nicht mehr Dylan Beaufort, den ich küsste, sondern Julian. Ich konnte seine Lippen auf meinen spüren. Lippen, die mich in den Wahnsinn trieben und meinen gesamten Körper in einen Strudel aus Leidenschaft verwandelten. Zwei Monate. Zwei ganze Monate hatte ich mich danach gesehnt. Hatte Höllenqualen gelitten, weil ich ihn so sehr vermisste...
Julians Hände, die sich um meine Taille schlangen, zogen mich noch näher an sich heran und im Bruchteil einer Sekunde stand ich in Flammen.
Mehr. Mehr. Mehr.
Hitze erfasste meinen Körper und ich schmiegte mich noch dichter an Julian, während in der Ferne Feuerwerkskörper zu explodieren begannen. Feuerwerkskörper, die mich daran erinnerten, dass es zwölf Uhr war. Sie erinnerten mich außerdem daran, dass ich auf einer Party war und eine Pflicht hatte erfüllen müssen. Einen Kuss. Und ich küsste... nicht Julian.
Erschrocken schlug ich die Augen auf und riss mich abrupt von Dylan los.
Fassungslos starrte in seine strahlend blaue Augen, die verschleiert zurück starrten. Eine rosige Hitze überzog Dylans Wangen und ein schiefes Lächeln beherrschte seine Lippen.
»Wow, das war mal ein Neujahrskuss«, er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und schien noch etwas sagen zu wollen. Doch statt auf seine Worte zu warten, machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Ich lief nach draußen, wo mir eiskalte Luft entgegenschlug und mich sofort zurück ins Hier und Jetzt katapultierten. In ein Hier und Jetzt, in dem ich vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.
Himmel! Wie hatte das gerade passieren können? Ich hatte einen fremden Typen geküsst und mir dabei Julian vorgestellt. War ich von allen guten Geistern verlassen?
Julian, der mich verraten und mich hintergangen hatte und meinen letzten Wunsch nicht respektiert hatte...
Julian, den ich eigentlich hassen sollte, in den ich aber dennoch abgöttisch verliebt war...
Tränen sammelten sich in meinen Augen, während im selben Augenblick mein Handy vibrierte. Sicher waren es Mom und Dad, die mir ein frohes Neues Jahr wünschen wollten oder die Mädels, die ich im Laufe des Abends aus den Augen verloren hatte.
Ich fischte es aus meiner kleinen Umhängetasche und entsperrte den Bildschirm. Doch es waren weder meine Eltern noch meine Freundinnen.
Es war Julian.
Ich öffnete die Nachricht, die er mir geschickt hatte und beim Lesen, drohten mir beinahe die Knie einzubrechen.
Hallo Laney,
Ich hoffe du hattest einen guten Start ins neue Jahr. Ich weiß, du willst sicherlich nichts von mir hören, aber...
Du fehlst mir. So sehr.
PS: Sam vermisst dich auch.
Nach dem PS hatte er ein Bild geschickt. Ein Bild, das Sam zeigte, die neben Julians Mutter saß mit einem Silvesterhütchen auf dem Kopf und, genau wie Julians Mutter Lydia, fröhlich in die Kamera schaute.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, ehe es im nächsten Moment in schwindelerregender Geschwindigkeit weiter donnerte. Mein Magen verklumpte zu einem dicken, fetten Knoten und in in meinem Hals entstand ein Kloß, der so groß war, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Während ich es vor ein paar Monaten noch kaum hatte erwarten können, endlich eine solche Party zu besuchen, fühlte ich mich in diesem Moment schrecklich einsam. Irgendwie fehl am Platz. Denn insgeheim wäre ich jetzt viel lieber an dem Ort, der mir vom Bildschirm meines Smartphones aus entgegenblickte. An einem ganz bestimmten Ort, bei einer ganz bestimmten Person.
Hatte ich einen Fehler begannen? War es falsch, Julian aus meinem Leben zu streichen? Mein Verstand sagte Nein, aber mein Herz sagte Ja.
Ich ließ mich vor dem Haus der Studentenverbindung auf die Verandastufen sinken, ignorierte die Leute um mich herum, las die Nachricht noch einmal - und begann bitterlich zu weinen.
Hellooo meine Lieben!
Endlich geht es weiter! Ich bin so gespannt, was ihr zu dem neuen Kapitel zu sagen habt. Ich liebe liebe liebe dieses Kapitel so sehr, weil es auch viele schöne freundschaftliche Momente beinhaltet - und wer mich kennt, der weiß, dass die Freundschaft in meinen Büchern auch einen sehr großen Rahmen einnehmen.
Ich bin schon so auf eure Kommis gespannt und platze vor Freude darüber, dass es endlich wieder weiter geht. Danke nochmal für euer Verständnis und eure unglaublich liebevollen Worte und Nachrichten. Das hat mir sehr viel Trost gespendet.
Fühlt euch dolle gedrückt ♥️
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