Kapitel 2
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Donnerstag, 15.03.2012
Es blieben noch einige Tage, bis Tali offiziell im Kindergarten starten konnte. Dass er bereits einen Platz sicher hatte und damit ein Punkt meiner Liste abgehakt war, erleichterte mich immens. So nutzte ich unseren ersten Morgen in La Push damit, zu telefonieren und vereinbarte Termine. So konnten weitere Dinge auf meiner Liste alsbald ebenfalls verschwinden.
Tali war vor gut einer Stunde aufgewacht und verbrachte jetzt die Zeit mit seiner Urgroßmutter im Garten. Er fühlte sich hier wohl und ich hoffte von Herzen, dass es so bleiben würde. Wir waren nicht wegen ihm hier, dennoch wusste ich nicht, was ich tun sollte, wenn er von hier weg wollte.
Die Nacht hatte ich bei ihm im Bett verbracht. Für die erste Nacht, war es sowohl für ihn als auch für mich die beste Lösung. Denn Meemaw hatte die Zimmerordnung gemischt. Sie schlief jetzt in dem ehemaligen Zimmer meiner Mom, während ich ihr Bett bekam und Tali mein damaliges Kinderzimmer besetzte. Dadurch dass keines der Möbelstücke wegkam, sparten wir einiges an Geld, das an anderer Stelle gebraucht wurde. Und dass Tali in einem großen Bett schlafen konnte, ersparte mir Rückenschmerzen. In einem Kinderbett zu schlafen, auch wenn man nicht die größte Frau auf Erden war, war selten bequem – eigentlich nie. Wir brauchten aber dringend kindlichere Bettwäsche.
Vielleicht würde ich noch eine Nacht bei Tali dranhängen. Bei dem Gedanken im Zimmer meiner Meemaw zu schlafen und sie so gesehen daraus herausgeschmissen habe, konnte ich mich nicht entspannen. Aber sowohl sie als auch ich wussten, dass ich im dritten Schlafzimmer keine Ruhe finden würde. Nicht, so lange man es nicht komplett renovierte. Und dafür fehlte uns das Geld.Ich streckte mich, kaum, dass ich das letzte Telefonat beendet hatte. Mit einem großen Schluck trank ich den kalten Kaffee leer und wusch die Tasse sauber. Eine Spülmaschine würde nützlich sein, dachte ich und schrieb sie mir gleich auf den Zettel mit den großen Wünschen. Die, die noch ein paar Monate warten mussten. Das Blatt Papier hing ich auf die Korkwand in der Küche auf und es passte sich sogleich den vielen anderen Zetteln an, die dort hingen und fiel gar nicht mehr auf.
Mit den Handys konnte man mittlerweile auch Notizen verfassen, aber ich hatte mich noch nicht dran gewöhnt. Ich hatte das IPhone 4 von Dad als Abschiedsgeschenk bekommen mit den Worten, dass ich der digitalen Welt im kleinsten Kaff der Welt nicht den Rücken kehren sollte. Außer einmal telefoniert hatte ich noch nichts mit dem Ding. Bis jetzt hatte ich nur Handys mit einer physischen Tastatur gehabt. Ich vermisste die Klapphandys. Bei Gelegenheit würde ich mich mehr mit dem Touchscreen auseinandersetzen müssen.
Die Schiebetür vom Wohnzimmer in den Garten war auf und ich zog mir eine Decke über die Schultern, als mir die kalte Luft entgegenkam. Der Garten grenzte wie fast jedes Grundstück im Reservat an den Wald und hatte keine direkte Abtrennung. Die Bäume bildeten einen fließenden Übergang und ich vermutete, dass Meemaw Tali gezeigt hatte, wie weit er allein hinein gehen durfte. Mein Sohn kam glücklicherweise nicht nach mir und hielt sich die meiste Zeit an Regeln.Ich entdeckte die zwei, wie sie sich an einen der hinteren Blumenbeeten hockten. Schaufeln, Eimer mit Erde, eine Gießkanne und Ferb, das Kuscheltier in Form eines Hundes, standen neben ihnen und ich erahnte, welches Bild sich mir gleich offenbaren würde.
„Was habt ihr gepflanzt?"
Beide waren so vertieft gewesen, dass sie synchron zusammenzuckten. Sie drehten sich um und mein Herz wurde warm bei dem Grinsen auf Talis Gesicht. Es machte die Spuren vom Dreck auf seiner Haut und der Kleidung gleich wieder wett. Seine Wangen waren rot und weißer Atem entkam ihm. Er zog mehrere Kärtchen hervor und zeigte sie mir.
„Karotten und Erbsen also. Und wann kann man sie ernten?"
„Im Juni könnte es soweit sein", antwortete Meemaw. „Hilf mir mal hoch, mein kleiner Wolf."
„Ach, dann gibts zu deinem Geburtstag einen Möhrenkuchen?", fragte ich verschmitzt grinsend und erntete ein Augenrollen, während er Meemaw nach oben half. „Habt ihr eigentlich schon mal was von Handschuhen gehört? Das dauert ewig bis der Dreck unter den Fingern weg ist. Und das ist eigentlich sein Schlafanzug unter der Jacke."
„Ach, Kitty. Hab dich nicht so. Das lässt sich wieder rauswaschen."
„Wir kaufen dennoch richtige Gartenkleidung", entschied ich. „Wie weit seid ihr denn?"
„Soeben fertig geworden. Nur noch aufräumen, dann kann es unter die Dusche gehen. Wo wolltest du einkaufen? Forks hat mittlerweile einige hübsche Läden. Ihr würdet euch die lange Autofahrt sparen."
Ich reichte ihr die Gießkanne, während Tali sich Ferb und die Schaufeln schnappte. Den Eimer mit der restlichen Erde nahm ich mit nach vorne.
„Wir fahren eh dran vorbei, wenn wir dort nichts finden, gehts nach Port Angeles. Möchtest du mitkommen?"
„Ach nein. Lass nur. Verbringt ihr einen schönen Mittag zusammen. Vielleicht begegnet ihr ja einigen deiner alten Freunde?"
Ich verzog das Gesicht. Hoffentlich nicht.
„Wie stehts um den Pick-Up. Ist der funktionsfähig?", lenkte ich ab.
„Sicher. Alles einwandfrei."
„Wann wurde er denn das letzte Mal gefahren?", hackte ich misstrauisch nach. So wie ich sie kannte, ist sie selbst schon lange nicht mehr hinters Steuer gestiegen. Also stand der Wagen bereits mindestens zwei Monate unbewegt vorm Haus.
„Ach", sie wank ab. „Noch nicht so lange her", antwortete sie schwammig und ich seufzte nur. Ein weiterer Punkt, den ich auf die Liste setzen durfte.
Trotz der Wolkendecke über uns trug ich zu meinem Schal eine fette Sonnenbrille mit dunklen Gläsern auf der Nase. Die Wollmütze hatte ich mir so tief wie möglich über den Kopf gezogen und ich erkannte mich selbst kaum wieder, als ich meine Spiegelung in einem Schaufenster sah. Man könne meinen, ich würde an die Skipiste gehen. Das kalte Wetter kam mir gelegen.
Seltsame Blicke würde ich meines Outfits wegen nicht auf mich ziehen. Mir war bewusst, dass ich übertrieb. Aber ich wollte jeder möglichen Begegnung, so gut es ging, aus dem Weg gehen. Ich war jetzt noch nicht so weit.
Es war wochentags und mitten am Tag. Normale Menschen arbeiteten oder gingen sonstigen Verpflichtungen, die in der Regel in Gebäuden stattfanden, nach. Jemand in meinem Alter könnte noch studieren oder aber einer Arbeit nachgehen. Es war unwahrscheinlich irgendjemanden zu begegnen, der zu meinem alten Freundeskreis gehörte. Im besten Falle lebte auch keiner mehr von ihnen hier. Denn mal ehrlich, was hielt einen hier? Außer Familie nichts, und die ließ sich dreimal im Jahr bei irgendwelchen Feierlichkeiten besuchen und war damit zufriedengestellt. Bis sie selbst eine Familie gründen würden, würde noch einige Zeit ins Land ziehen und ich würde ... keine Ahnung, ich wusste nicht, wie lange wir hierbleiben würden. Nicht bis an mein Lebensende, so viel war klar. Und auch nicht bis Tali als College ging. Aber bis meine damaligen Freunde zurück nach La Push ziehen werden – falls sie das überhaupt taten – würde ich mental darauf vorbereitet sein. Ganz sicher. Und wenn nicht, dann ... ein Ziehen an meiner Jeans riss mich aus meinen Gedanken. Große blaue Augen, die zwischen Schal und Mütze lugten, sahen fragend zu mir auf.
„Tschuldige", nuschelte ich, nahm Talis Hand in meine und ging weiter mit ihm die Straße entlang. Er sollte sich keine Sorgen machen. Ich musste mehr darauf achten, dass ich ihm meine Gefühlslage nicht so offen darlegte. Er war schon sensibel genug und bemerkte die kleinsten Schwingungen. Er sollte sich hier wohl und sicher fühlen und das konnte er nicht, so lange ich auf der Hut war.
Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich mich zu entspannen. Es würde nichts geschehen.„Gib Bescheid, wenn du etwas siehst, wo du rein willst." Wobei es nicht viele Auswahlmöglichkeiten gab. Meemaw hatte es etwas übertrieben, als sie meinte, Forks hätte einige hübsche Läden zu bieten. Seit wir geparkt hatten, hatte ich exakt zwei mir unbekannte Geschäfte entdeckt und das war ein Supermarkt, der Unterwäsche verkaufte und ein Dekoladen. Der Friseur bot jetzt zusätzlich Nageldesigns an und das Schwimmbad schien restauriert worden zu sein.
Meinen Missmut über den Stopp in Forks wollte ich Tali allerdings nicht zeigen. „Hübsche Aussicht, oder? Von hier könnte man auch die Berge sehen, wenn es nicht so neblig wäre. Und die Häuser sind so niedrig, dass der Himmel einen so groß vorkommt. Ganz anders als bei Grandpa."
Seine Antwort bestand aus einem Händedruck und verriet mir, dass er mir zuhörte und nicht seinen Gedanken nachhing.
„Am Ende der Straße gibt es einen Thrift Mart. Dort finden wir bestimmt Gartenkleidung für dich. Oh, riechst du das?" Ein süßlicher Geruch wehte zu uns hinüber und überlagerte die kalte Luft. Wir streckten unsere Nase aus dem Schal hervor und ich hörte einen tiefen Atemzug von Tali.
Der Duft wurde stärker, je weiter wir gingen und ich erkannte den Ort seines Ursprungs wieder. Einige Feets von uns entfernt stand ein Gebäude, das so gar nicht zum Rest der Kleinstadt passte. Seine Außenfassade war pink angemalt und pastellfarbene Plastikblumen hingen vom Dach hinunter. So hatte das früher ganz sicherlich nicht ausgesehen, daran hätte ich mich erinnert. Damals hatte es mehr an eine alte Bäckerei erinnert, die fast auseinanderfiel. Aber genau wie damals kam der unwiderstehliche Geruch nach Zucker, Gebäck und Schokolade unverkennbar von hier. Wer auch immer die Außenfassade verändert hatte, die Rezepte schienen gleich geblieben zu sein.
„Eine Konditorei", klärte ich Tali auf. „Damals sah sie anders aus und früher gab es hier die besten Cupcakes bis nach Seattle. Auf dem Rückweg können wi-", mir blieben die Worte im Halse stecken und ich versteifte kurzzeitig am ganzen Körper bis der Fluchtreflex in mir übernahm.
Mit einem Ruck zog ich Tali hinter mir her und lief in die nächstbeste Lücke zwischen zwei Gebäuden. Mein Herz pochte unregelmäßig in einem viel zu schnellen Tempo in meiner Brust und ich blieb erst stehen, als wir so weit entfernt von der Konditorei waren, dass man nichts mehr davon riechen konnte.
Keuchend rang ich nach Atem und gab mein Bestes die schwarzen Punkte vor meinen Augen zu verdrängen. Mein Blick flog hektisch durch die Gegend, konnte aber bis auf einen entfernten Highway, Wiese und Tannen nichts weiter erkennen. Die eiskalte Luft fühlte sich in meinen Lungen wie Nadelstiche an und es dauerte einige Minuten, bis ich mich beruhigt hatte und erkannte, dass ich uns an den Rand von Forks gebracht hatte.
Eine Kurzschlussreaktion meinerseits. Tali japste nach Atem und ich kam wieder in der Realität
an.
„Oh Gott", stammelte ich, hockte mich hin und zog Tali an mich. „Es tut mir leid. Entschuldige. Meine Güte. Bitte, bitte entschuldige", purzelte es aus meinem Mund. „Es ist nichts. Es ist alles gut. Wirklich. Alles in Ordnung."
Seine kleinen Finger klammerten sich in meinen Mantel und ich presste uns einander. Sein hektischer, warmer Atem blies mir ins Ohr und nur der dicke Stoff zwischen uns verhinderte, dass ich sein rasendes Herz spürte. Und ich war daran schuld. Daran, dass er Angst hatte. Dass er nicht wusste, wieso ich ihn so hinter mir her gezogen hatte, als wäre ein Axtmörder hinter uns her. Nur weil ich so ein verschissener Angsthase war und immer wieder weglief.
Ich murmelte weitere Entschuldigungen und Beschwichtigungen vor mich her.
Vor einigen Jahren hatte ich einen Kurs für junge, alleinstehende Mütter besucht. An vieles von damals konnte ich mich im Nachgang nicht mehr erinnern. Aber eines war mir in Erinnerung geblieben. Der Erste, der die Umarmung löste, sollte das Kind sein. Denn erst dann, hatte es seine volle Wirkung erzeugt. So war Tali es, der unsere Umarmung löste, als unser Atem und unsere Herzschläge sich schon längst wieder in ihrem Normalzustand eingefunden hatten.Die Tränenspuren auf seinen rosigen Wangen stachen in meine Brust.
„Es tut mir wirklich leid." Aus meiner Tasche holte ich ein Taschentuch hervor und tupfte ihn sauber. „Ich dachte, ich hatte einen Skorpion gesehen", log ich mit dem Wissen, dass das in Forks geradezu unmöglich war. Der Fünfjährige vor mir wusste das allerdings nicht. „Ich hab mich so erschrocken, dass ich einfach nur weg wollte. Das wird nicht nochmal passieren." Das durfte nicht nochmal passieren. „Versprochen."
Ich hielt ihm meinen kleinen Finger hin und nach einem kurzen Zögern, hakte Tali seinen ein.
„Was hältst du davon: wir fahren jetzt direkt nach Port Angeles und dort kaufe ich dir eine riesige heiße Schokolade - mit Sahne. Und du darfst dir einen Kuchen aussuchen!"
Erleichtert nahm ich sein kaum merkliches Nicken wahr und stellte mich wieder hin.Wir waren gar nicht so weit vom Parkplatz entfernt und konnten es vermeiden, erneut in die Nähe der Konditorei zu gelangen. Jetzt war ich zwar vorbereitet, aber ich wollte eine weitere Begegnung nicht provozieren.
Schweigend gingen wir weiter und mein Blick war auf den Asphalt vor mir gerichtet. Bilder von vorhin erschienen vor meinen Augen.
Alexandra Connweller hatte unter den Plastikblumen gestanden und hatte kein geringerem, als von Paul Lahote einen liebevollen Kuss auf den Kopf bekommen. Seine Hand hatte auf ihrem unübersehbaren prallen Schwangerschaftsbauch gelegen. Wir hatten keinen Blickkontakt und ich hatte nur auf ihr seitliches Profil gesehen, aber ich hatte beide gleich erkannt.
Trotz ihrer auf Schulterhöhe gekürzten Haare besaß Alex einen eigenen Wiedererkennungswert. Sie sah wie damals hübsch aus, auch wenn sie nicht so athletisch und energisch wirkte, wie zu unserer Schulzeit. Eine Schwangerschaft konnte einen verändern, das wusste ich nur zu genau.Und Paul ... aus Paul war ein richtiger Mann geworden.
Seine schon damals muskulöse Figur war in den Jahren noch ausgeprägter geworden und er schien es gerne der Welt zeigen zu wollen – denn sonst fiel mir kein anderer Grund ein, weshalb er bei dieser Kälte im T-Shirt rumlief. Seine Haare waren wie früher, vielleicht etwas kürzer. Im Gegensatz zum Rest der männlichen Bevölkerung hatte er stets auf die typisch langen Haare unseres Stammes verzichtet. Er hatte schon immer etwas einzigartiges an sich. Kein anderer Typ hatte ihm in puncto Aussehen je das Wasser reichen können. Und nichts davon hatte er über die Jahre verloren. Es war unfair.
Glücklicherweise hatten sie uns nicht bemerkt. Zu sehr waren sie aufeinander fixiert gewesen. Übelkeit kam in mir hoch. Er war dabei eine Familie zu gründen. Ausgerechnet jetzt und ausgerechnet hier. Gerade von ihm hatte ich erwartet, dass er von hier verschwinden würde. Vielleicht zurück nach Tacoma, zu seiner Mom. Paul war erst mit acht Jahren nach La Push gekommen. Ihn verband nicht dasselbe an diesen Stamm, wie andere. Doch vielleicht war es Alex, die ihn dazu brachte hierzu bleiben.
Es waren nur wenige Sekunden, aber in diesen hatten beide sehr glücklich gewirkt. Angekommen. So war er früher nicht. Paul war ein Hitzkopf. Das Herz lag ihm auf der Zunge und er stand unter ständigem Strom. Es gab kein Moment, in dem nicht wenigstens sein Fuß auf und ab gewippt ist.
Das würde ich nicht kaputt machen. Nicht, dass ich vorgehabt hätte mit ihm zu sprechen. Der Gedanke war mir in den letzten Jahren natürlich immer mal wieder durch den Kopf geschwirrt. Aber er war zu jeder Zeit nur ein Hirngespinst gewesen. Und das würde er bleiben. Er sollte sein gewähltes Leben leben und ich meines. Tali und ich, wir kamen klar und das alles hier würde nichts daran ändern.
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