Kapitel 1
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Mittwoch, 14.03.2012
Als ich das Ortsschild das letzte Mal hinter mir ließ, war ich mir sicher, es würden mehr als zehn Jahre vergehen, ehe ich es wieder zu sehen bekommen würde. Wobei ich insgeheim gehofft hatte, es wäre nie wieder so weit. Doch so waren es nur dreiundsechzig Monate. Oder in anderen Worten ausgedrückt fünf Jahre und drei Monate. Deutlich von nie wieder entfernt.
Bis ich fünfzehn war, kam mir ein Jahr unendlich vor. Es waren ewige Winter und lange Sommertage, die zu keinem Ende zu fanden, schienen. Na ja, Sommertage wären es für die meisten Amerikaner nicht gewesen. Es wurde selten über vierundsechzig Grad Fahrenheit, aber für uns war das der Sommer. Wir surften im Pazifischen Ozean. Trafen uns beim Lagerfeuer. Fuhren ewig lang, um dann bis der Wecker klingelte, zu feiern. Der typische Regen hatte uns von nichts abgehalten.
Vermisst hatte ich ihn dennoch nicht und war in gewisser Weise erleichtert, dass die Wolken sich für heute noch zurückhielten. Er würde meine Stimmung nicht heben und die war seit dem Plan zurückzukehren, alles andere als sonnig.
Das Schild sah genau so aus, wie damals und man könnte meinen, dass dahinter, in dieser Ortschaft, die Zeit stehen geblieben ist. Aber das war sie nicht. Denn die Welt drehte sich stets weiter. Egal, wo man war. Egal, was geschah. Egal, wie sehr jemand die Augen davor verschließen wollte.
Mittlerweile rann die Zeit auch für mich schneller, als mir lieb war. Ich kam manches Mal gar nicht mehr hinterher. Vielleicht rechnete ich deswegen noch häufig in Wochen oder Monaten. Jahre sollten lange und nicht gefühlt zwei Monate her sein. Nicht selten sah ich Fotos oder Kleidungsstücke an und werde in die Realität katapultiert.
Ich trat aufs Gas, als mir meine wirren Gedanken bewusst wurden. Seit achtundvierzig Stunden hatte ich kaum ein Auge zubekommen. Hatte irgendetwas von dem, was mir gerade durch den Kopf ging, überhaupt Sinn gemacht? Keine Ahnung, aber wenn es nach mir ginge, dürften noch mehr Wochen, Monate oder Jahre ins Land ziehen, bis ich wieder die vertraute Meeresluft riechen würde. Aber es ging nicht nach mir. Wann tat es das denn auch?
Meine verspannten Schultern gaben etwas nach, als mein Blick in den Rückspiegel zuckte. Da war er. Der Grund, weshalb es war okay, dass es schon lange nicht mehr nach mir ging. Denn dafür hatte ich mich bei meinem letzten Aufenthalt in La Push entschieden. Für ihn.
Nur für ihn.
Schon wenige Meilen weiter wünschte ich mir doch, dass es Regnen würde. Na, prima. Bei dem Sonnenschein waren mehr Passanten unterwegs, als üblich. Ich vergaß, dass es immer noch ein winziges Dorf war und Gerüchte schneller die Runde machten, als Chlamydien bei Teenagern. Am liebsten würde ich nach unten sinken lassen und mich vor allem und jeden verstecken, aber ein Unfall würde das exakte Gegenteil bewirken. Trotz des Schlafmangels und der absurden Ideen war ich noch immer zurechnungsfähig.
Ich verkniff es mir, aufs Pedal zu drücken. Stur sah ich nach vorne und blendete jede Person, an der ich vorbeifuhr, aus. Es würde die Zeit kommen, in der ich mich dem stellen musste. Allerdings nicht jetzt. Und auf keinen Fall bevor ich nicht eine Mütze Schlaf bekam. Ich parkte den alten Wagen in der Einfahrt und war einerseits darüber erleichtert, dass niemand vor der Veranda oder gar in der Straße stand. Und andererseits wusste ich, dass ich mich jetzt selbst dazu zwingen musste, auszusteigen. Manchmal war es einfacher, wenn keine andere Möglichkeit da war. Jetzt aber standen mir zwei Optionen offen.
Ich könnte aussteigen und mich der Realität stellen - früher oder später würde es darauf hinauslaufen. Oder ich blieb hier sitzen und wartete. Das war unvernünftig und kindisch. Das wusste ich. Und dennoch entschied ich mich eben genau dazu. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die Lehne. Wann hatte ich das letzte Mal mein inneres, bockiges Kind rausgelassen? Richtig, es war so lange her, dass ich mich selbst kaum dran erinnerte.
Eine tief verdrängte Erinnerung schlich sich in mein Bewusstsein und mit einem Mal, war ich nicht mehr in der alten Karre. Ich hörte Türen knallen und sah mein Kinderzimmer vor mir. Mein Jüngeres ich, welches sich weinend ins Bett schmiss und dabei die rausgelegte Kleidung zerknüllte und benässte. Wie sauer ich im Nachhinein auf mich selber war, weil ich die Mascaraspur nie wieder aus der weißen Bluse bekam. Nicht mal Meemaws Spezial-Waschmischung hatte geholfen.
Ich verlor mich in weiteren Momenten meiner Kindheit. Das Kratzen in meinem Hals, wenn meine Mutter und ich uns mal wieder angeschrien hatten. Die Partylichter eines Clubs in Seattle. Der Sand unter meinen Füßen und das Rauschen des Meeres.
Ich schreckte auf. Verdammt, ich war eingeschlafen. Hektisch sah ich auf die Rückbank und blickte in tiefblaue Augen.
„Seit wann bist du denn wach?", fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Ich wischte mir einmal übers Gesicht und verschmierte den armseligen Rest meines Make-ups. „Du sollst mich doch wecken, wenn du wach bist", murmelte ich und schnallte mich ab.
Die Autotür zu öffnen, fühlte sich an, wie ein Pflaster einer eitrigen Wunde abzureißen. Die vertraute, salzige Luft des Meeres gelang in meine Lungen und das erste Mal seit langem, konnte ich wieder atmen. Während sich gleichzeitig die hervorgebrachten Erinnerungen wie ein Messerstich auf meiner Brust anfühlten. Unpassender Vergleich, aber was Besseres fiel mir nicht ein. Schlafmangel und so.
Ich schenkte meiner Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit, stattdessen umrundete ich das Auto und griff nach der Klinke der hinteren Tür. Es gab kein Zurück mehr. Ab jetzt hieß es nur nach vorne schauen. „Kitty."
Ein wohliges Gefühl machte sich in meiner Brust breit, als ich die vertraute Stimme hörte, und drehte mich um.
Da stand sie. Auf der alten Holzveranda. Ohne Pixel. Ohne Verbindungsprobleme. Ohne einen Bildschirm vor meinen Augen zu haben, stand sie live und in Farbe vor mir. Und es war kein Traum.
„Meemaw!", rief ich, vergaß, dass ich laut meinem Ausweis Erwachsen war und rannte in ihre Arme, wie ein kleines Kind.
Ihre Hände umfassten mich und ich beugte mich zu ihr hinunter und vergrub mein Gesicht in ihrem Hals. Eine Mischung aus Nelke, Zimt und Myrrhe stieg mir sogleich in die Nase und das Lächeln bildete sich wie von selbst auf meine Lippen. Noch immer nutzte sie dieses Parfüm. Nie hatte sie anders gerochen und mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich das vermisst hatte. Wie sehr ich sie vermisst hatte. Ich spürte geradezu, wie eine Last von meinen Schultern genommen wurde. Und das einzig und allein durch ihre Anwesenheit.
Wir umarmten uns nicht lang genug, als dass ich damit zufrieden war. Ich könnte exakt so den ganzen Tag auf der Veranda stehen. Aber sie klopfte mir irgendwann auf die Schulter und gab mir damit das Zeichen wieder die Erwachsenen Rolle einzunehmen. Auch, wenn ich das nicht wollte.
„Kitty", mahnte sie mit ihrem einzigartigen Ton, den ich stets versuchte nachzuahmen. Liebe mit einer Spur von Ernsthaftigkeit, um mich auf den Boden zu holen. Kitty. Sie war die Einzige gewesen, der ich damals erlaubt hatte mich so zu nennen. Niemand sonst und wenn sich einer der Kindergartenjungs drüber lustig gemacht hatte, bekam er eines auf die Nase. Von mir, nicht von Meemaw.
„Du bist doch hoffentlich nicht alleine hergekommen."
„Natürlich nicht", verdrehte ich die Augen und löste mich von ihr.
Sie war kleiner geworden. Früher waren wir fast gleichgroß, jetzt musste ich schon den Kopf senken, um ihr in die Augen schauen zu können. Und sie hatte so viel mehr Falten im Gesicht bekommen, die mir bei unseren Skype Anrufen nicht aufgefallen waren. Die grauen Haare hatten die schwarzen mittlerweile fast verdrängt. Die bunten Perlen trug sie genau wie damals im Haar.
An niemanden gingen sechs Jahre unbeschwert vorbei. Ob sie auch schon so ausgesehen hätte, wäre es damals alles anders gekommen? Wenn ich nicht gegangen wäre? Wäre ihr der Stress erspart geblieben? Oder wäre es unweigerlich darauf hinauf passiert? Fragen, die mir nicht selten durch den Kopf spukten, die jetzt allerdings keinen Platz hatten. Weder zu dieser Zeit noch an diesen Ort.
„Warte hier, ich hole ihn."
Zurück am Wagen öffnete ich dieses Mal tatsächlich die hintere Tür und schnallte meinen Begleiter ab, der mich stumm musterte.
„Wir sind da", klärte ich ihn auf, wobei er das schon selbst mitbekommen haben sollte. Er war nicht dumm, wie viele Personen es fälscherweise annahmen. Ganz im Gegenteil. Sie unterschätzen ihn und das war ein Fehler. Er bekam so viel mehr mit, als man es vermutete.
Vielleicht sprach ich es in Wahrheit auch nicht für ihn aus, sondern für mich. Um endlich zu realisieren, wo ich war.
In La Push.
„Hallo Tali", begrüßte Meemaw ihn und beeindruckte mich, dass sie sich damit begnügte, sich zu ihm hinunterzubeugen und ihn sanft anzulächeln. Davon dass er sich halb hinter mir versteckte, ließ sie sich nicht beirren. „Ihr hattet eine lange Reise hinter euch. In der Küche wartet eine riesige Portion Mac and Cheese auf euch. Oh, du hast Ferb mitgebracht, dann muss ich noch schnell einen weiteren Platz decken." Sie zwinkerte in Richtung des Kuscheltiers in seinen Armen und ich spürte, wie seine Anspannung von ihm nachließ.
„Helft ihr mir dabei? Ich bin manchmal so ungeschickt."
Wir folgten ihr in das alte Holzhaus, in dem sowohl sie als auch ich groß geworden waren. Um unser Gepäck im Auto machte ich mir keine weiteren Gedanken. Die Kriminalitätsrate von La Push war so gering, dass es hier nicht einmal einen eigenen Sheriff gab. Wenn mal einer benötigt wurde, rief man Chief Swan aus dem Nachbarort, aber auch das ließ sich meist vermeiden. Wir waren ein winziges Reservat und lösten unsere Probleme untereinander. Und Diebstahl direkt vor der Haustür war, am helllichten Tag, dann doch die Ausnahme der Ausnahme.
Die Holzdielen knarzten unter unseren Füßen und ich schob Tali vor mich her, der sich neugierig umsah. An den Wänden hingen verblasste Fotos. Nicht wenige waren schwarz-weiß und hingen dort schon vor meiner Geburt. Aber es waren auch einige Farbfotos dabei, die mich zeigten und in zwei Bilderrahmen entdeckte ich Tali, einmal, als er ein Baby war und einmal als sein erster Kindergartentag bevorstand. Ich war so nervös gewesen und meine Aufregung hatte sich so stark auf ihn übertragen, dass er mich kaum loslassen wollte. Das Foto hatte Dad geschossen und zeigte Tali, wie er sein Gesicht in meinem Hals vergrub und sich in mein Kleid krallte. Die Fotokopien hatte ich damals per Post versendet und es ließ mich lächeln, dass Meemaw einen Platz dafür gefunden hatte. Die Frage, wie lange das Foto dort schon hing, traute ich mich nicht zu fragen. Gewiss nicht seit sie es besaß.
Der Esstisch war, wie sie es angekündigt hatte bereits gedeckt - mit dem guten Geschirr sogar - und sie holte aus der Vitrine einen weiteren Teller und stellte ihn neben den Platz, auf dem Tali sich setzte. Schmunzelnd beobachtete ich, wie er mit sich rang, ob er Ferb auf dem Schoß behalten oder auf den Stuhl neben sich selten wollte. Er entschied sich für Letzteres und brachte mich damit, von meiner Anspannung etwas fallen zu lassen. Er fühlte sich hier wohl. Das war gut.
Käsegeruch erfüllte den Raum und ich machte mich gleich über das Essen her. Es dauerte nicht lang, da nahm ich mir eine weitere Portion und dachte genüsslich, dass ich mich am liebsten in den Topf reinlegen würde, so lecker war es.
„Habt ihr schon Pläne für morgen?", fragte Meemaw und unterbrach so meinen gierigen Essenswahn. Ich schluckte die Nudeln herunter und nahm einen Schluck Wasser.
„Ich wollte schauen, ob es die Möglichkeit für einen Kindergartenplatz gibt. Es sind nur noch wenige Monate, bis es für Tali in die Elementary School geht, deswegen habe ich eigentlich wenig Hoffnung darauf. Und ihn in der Schule anmelden, muss ich auch noch. Und dann wollte ich schauen, ob irgendwo eine Aushilfe gesucht wird. Oh, und nach Port Angeles. Wir müssen einige Sachen kaufen, die wir nicht mitbringen konnten. Und ich muss die Kinderarztpraxis anrufen, um Tali dort anzumelden. Für mich brauch ich auch einen Arzt. Keine Sorge, ich bin gesund. Dad meinte, ich solle lieber einen Arzt aufsuchen, bevor etwas akut ist. Und ich darf nicht vergessen, uns umzumelden. Äh", ich überlegte, „da war noch was, aber ich hab einen Zettel im Auto mit allen Dingen, die anstehen. Ach und das Auto, klar. Das muss ich demnächst zurück nach Port Angeles bringen." Ich machte Anstalten aufzustehen, da legte sie eine Hand auf meinen Arm und drückte mich zurück in den Stuhl.
„Kitty, ich habe von morgen gesprochen. Nicht von der ganzen nächsten Woche. Und um einen Betreuungsplatz habe ich mich schon gekümmert."
„Er wird nicht den ganzen Tag bei dir bleiben, Meemaw. Er braucht soziale Kontakte in seinem Alter. Wenn er jetzt schon Freunde findet, wird es in der Schule nicht mehr ganz so schwer."
„Ich spreche doch nicht von mir. Sue hat mir bereits versichert, dass Tali einen Platz bekommt und er darf schon ab Montag starten."
„Sue?"
„Sue Clearwater."
„Sue Clearwater?" Ich blinzelte sie verwirrt an. „Die arbeitet doch nicht im Kindergarten."
„Doch, vor ... ich glaube, vor drei Jahren hat sie damit angefangen. Nach dem Tod von Harry ging es ihr eine Zeit lang nicht gut und sie schien einen Neuanfang gebraucht zu haben. Charlie tat ihr zwar gut, aber die Kinder haben ihr ein neues Leben eingehaucht."
„Harry ist tot?"
„Caitlyn, das hatte ich dir doch damals erzählt. Im Frühling 2006 ist er an einem Herzinfakt gestorben."
Ich wank ab. „Da war ich schwanger. An den Großteil der Schwangerschaft kann ich mich nicht erinnern. Schwangerschaftsdemenz, du weißt schon. Oh man, wie schrecklich. Harry war doch gar nicht so alt, woran ist der denn verstorben?"
„Herzinfarkt."
Ich verzog das Gesicht. „Noch irgendjemand tot, von dem ich wissen sollte? Du weißt schon, bevor ich in ein Fettnäpfchen trete."
Während des Essens wurde ich auf den neusten Stand der älteren Generation von La Push gebracht und bemerkte dabei abermals, dass das Leben überall weiter ging. Selbst in dem winzigen Reservat Washingtons. Wir bemerkten nicht, wie die Zeit verging, und so schaffte ich es, für den heutigen Tag, nur noch die Koffer aus dem Auto zu holen und sie auszupacken, bevor die Sonne unterging. Den Abend verbrachten wir in drei am Wohnzimmertisch und spielten, wobei Meemaw ihrem Urenkel versuchte näher zu kommen.
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