5. Kühlakku
Der wohl längste Tag in der Woche stand Ellen noch bevor. Und zwar morgen. Denn morgen hatte sie einmal wieder die lange Schicht. Und lange Schicht bedeutete, dass sie von sechs Uhr morgens am Mittwoch bis um sechs Uhr morgens am Donnerstag arbeiten würde. Diese Schicht hatte Ellen alle zwei Wochen und sie hasste es. Nicht genug damit, dass sie in aller Frühe aufstehen musste, nein, sie musste auch noch vierundzwanzig ewig lange Stunden an dem verdammten Tresen sitzen und Bestellungen annehmen, die dann weiterleiten an das Kundenzentrum und dann auf deren Rückmeldung warten. Wie lästig.
Wie sollte es einem denn dann gehen, wen man vierundzwanzig Stunden lang immer nur Guten Tag sagen musste und sich notieren musste, ob der Kunde nun einen Latte Macchiato mit Milchschaum oder einen Latte Macchiato ohne Milchschaum oder einen Apfelkuchen mit Sahne und ohne Mandeln oder mit Mandeln und ohne Sahne wollte. Am Ende der langen Schicht legte sich Ellen immer sofort ins Bett. Ohne Duschen, ohne Zähneputzen, ohne noch etwas zu essen. Einfach nur schlafen.
Aber jetzt gerade saß Ellen noch am Tresen und es war Dienstag. Es war erst Dienstag und an diesem Tag würde sie um vier Uhr am Nachmittag ihre Tasche und ihre Jacke nehmen, sich in ihr Auto setzen und nach Hause fahren. Sie würde sich etwas Leckeres kochen, würde um sechs Uhr etwas essen und bis zehn Uhr fernsehen. Dann ins Bett und etwas schlafen bis die ungeliebte lange Schicht rief.
Sie hatte oft überlegt, ob es nicht schlauer wäre, am Dienstag vor der langen Schicht auf das Fernsehen zu verzichten und stattdessen schon um acht Uhr ins Bett zu gehen. Aber gegen diese Angewohnheit kam sie einfach nicht an. Sie würde auch heute Abend wieder vor dem Fernseher sitzen, da war sie sich absolut sicher.
Gerade war kein einziger Kunde im Laden. Es stand auch keine Menschenseele vor dem Laden. Dabei war es vierzehn Uhr und um die Zeit besorgten sich die Leute gerne einen Kaffee und ein Stück Kuchen oder Torte.
Die Bestellung tätigte man bei Ellen am Tresen. Sie schrieb die Bestellung auf, rollte das Papier zusammen und verschnürte es mit Bindfaden. Dann band sie das Papier einer der zahlreichen Tauben an den Fuß und schickte sie los in Richtung Kundenzentrum. Im Kundenzentrum wurden die Bestellungen aus der letzten halben Stunde gesammelt und dann gebündelt bearbeitet. Sobald die Bestellungen alle bearbeitet wurden, schickten die vom Kundenzentrum eine Brieftaube zu Ellen. In der Zwischenzeit warteten alle Kunden, die in der letzten halben Stunde bestellt hatten, im Laden. Sobald die Taube mit der Rückmeldung kam, schickte Ellen die Kunden an den Ausgabeschalter.
Dort war der Bereich von Svenja, eine Kollegin, mit der Ellen schon sehr lange zusammenarbeitete. Svenja gab dann die Bestellungen an die Kunden aus. Jedes Mal, wenn sie zusammen Pause machten, betonte Svenja, dass es ihr schon immer ein Rätsel gewesen sei, warum es die lange Schicht überhaupt gab. Wer kauft denn schon um drei Uhr nachts Kuchen, hatte sie Ellen nicht nur einmal gefragt. Darauf hatte Ellen keine Antwort gewusst, aber es war ihr eigentlich auch egal. Solange es Leute gab, die nachts Kuchen kauften, gab es auch Ellens und Svenjas Jobs. Das hatte sie Svenja auch gesagt, aber die hatte dann jedes Mal den Kopf geschüttelt.
Ein Kunde betrat den Laden und schaute sich scheu um. Ellen setzte ihr kundenfreundliches Lächeln auf und wartete bis der Mann sich auf Hörweite genähert hatte, dann sagte sie: "Guten Tag, was kann ich für Sie tun?"
Der Herr sah sichtlich aufgeschreckt aus. Er rieb sich krampfhaft seine Hände und schien zu zittern.
"En-entschuldigen Sie, aber ... ich ... könnten Sie mir helfen? Ich ... bin auf dem Parkplatz mit einem Auto zusammengestoßen."
"Haben Sie sich denn verletzt?", fragte Ellen.
"Ich glaube schon", sagte der Mann und zog sich sein Sakko aus. Darunter trug er ein kurzärmeliges Hemd. An seinem Unterarm war eine Quetschung zu sehen, in Blau und Lila. Ellen verzog mitleidig das Gesicht.
"Oh je, was haben Sie denn da?"
"Haben Sie vielleicht etwas zum Kühlen da?", fragte der Mann. Ellen schüttelte bedauernd den Kopf.
"Ne, tut mir leid, ich müsste das bestellen. Soll ich das machen? Ich bestelle etwas zum Kühlen, ja?"
"Ja, bitte."
"Okay. Aber das dauert dann noch eine halbe Stunde. Das letzte Bestellintervall ist schon zwei Minuten her."
"Na gut, dann werde ich warten."
"Nehmen Sie doch einfach solange Platz", sagte Ellen und deutete auf die Plastikstühle, die in einer Sitzgruppe standen. Der Mann nickte und begab sich in Richtung der Stühle. Auf halbem Weg drehte er sich wieder um und kam zu Ellen an den Tresen.
"Noch etwas?", fragte sie.
"Ja ... ich hätte gerne etwas zu trinken, bitte."
"Hm, okay. Ich habe Ihre Taube zwar schon abgeschickt, aber dann schicke ich einfach eine andere hinterher. Also, was hätten Sie gerne?"
"Was haben Sie denn im Angebot?", fragte der Mann.
"Alles was Sie wollen", sagte Ellen.
"Na gut, dann möchte ich einen Holundersaft, bitte", sagte der Herr.
"Na, den haben wir nicht", sagte Ellen.
"Dann einen Apfelsaft."
"Einen Apfelsaft, alles klar. Dauert noch ein bisschen."
Der Mann ging zur Sitzgruppe und setzte sich hin. Ellen machte die zweite Taube startklar. Es kamen keine weiteren Kunden. Der Mann saß die ganze halbe Stunde da und betrachtete abwechseln Ellen und die Quetschung an seinem Arm. Ellen war drauf und dran zu fragen, was es denn zu glotzen gäbe, als die Rückmeldung aus dem Kundenzentrum kam. Bestellung angekommen, Kunden zum Schalter schicken, stand drauf. Ellen wollte lachen. Kunden zum Schalter schicken, der war gut. Es war nur der einzige Mann hier.
"Sie können dann zum Schalter, Ihre Bestellung ist gleich da", rief Ellen dem Herrn zu. Der nickte, stand auf und begab sich in Richtung Schalter. Ellen betrachtete ihre Fingernägel. Der Nagellack splitterte seit gestern ab und sie sollte ihn erneuern. Aber heute würde das nichts mehr werden und morgen sowieso nicht. Würde sie also noch drei Tage mit dem alten Nagellack herumlaufen müssen.
Ellen wollte sich überlegen, welche Farbe sie als nächstes auftragen würde, da merkte sie, dass der Herr wieder bei ihr am Tresen stand.
"Ja, bitte?", fragte sie. Der Mann hielt ihr ein weißes rechteckiges Ding hin.
"Was ist das?", fragte er.
"Ein Kühlakku", antwortete Ellen.
"Der ist aber nicht kalt", sagte der Mann.
Ellen fasste über den Tresen hinweg an den Kühlakku. Er war zimmerwarm. Sie seufzte.
"Was haben Sie denn aufgeschrieben?", fragte der Mann.
"Etwas zum Kühlen", sagte Ellen.
"Es ist aber nicht kalt. Was soll ich denn mit einem warmen Kühlakku?", fragte der Mann ärgerlich.
"Besser ein warmer Kühlakku als gar kein Kühlakku", sagte Ellen und sie wollte es am liebsten gleich wieder zurücknehmen. Der Mann sah sie verärgert an.
"Ich werde Ihnen eine schlechte Bewertung hinterlassen", sagte der Mann. Ellens Augen weiteten sich und sie kam hinter dem Tresen hervor gerannt und warf sich vor dem Mann auf den Boden.
"Bitte nicht! Nein, bitte nicht!", rief sie. Sie wusste, wie wichtig ihrer Chefin die Bewertungen waren und dass sie jede einzelne las.
"Nicht?", fragte der Mann schnippisch.
"Nein, bitte! Ich bestelle Ihnen nochmal einen Kühlakku, aber diesmal einen kalten! Aber bitte keine schlechte Bewertung abgeben!", rief Ellen.
"Besser eine schlechte Bewertung als gar keine Bewertung", sagte der Mann. Ellen seufzte.
"Bitte, bitte, bitte!"
"Hmm ... ich überlege es mir. Aber nur, wenn Sie mir endlich einen verdammten Kühlakku bestellen, der auch wirklich kühlt!"
"Ja!", rief Ellen und sauste zurück hinter den Tresen. Sie schrieb auf einen Zettel: Kalter Kühlakku bitte schnell. Sie band ihn der Taube an den Fuß und schickte sie los. Nach wenigen Minuten kam die Rückmeldung: Dauert noch eine halbe Stunde. Kühlakku muss erst kühl werden.
"Es dauert noch eine halbe Stunde", sagte Ellen dem Herrn. Der nahm dies gelassen zur Kenntnis.
"Macht nichts, ich habe heute nichts mehr vor. Hauptsache, ich bekomme endlich etwas zum Kühlen. Sagen Sie, arbeiten Sie eigentlich schon lange hier?"
"Ja, wieso?"
"Haben Sie wirklich Mittwoch auf Donnerstag ununterbrochen offen?"
"Ja, wieso?"
"Ach, nur so. Ich hatte mich nämlich schon immer gefragt, wer bitte schön um drei Uhr in der Nacht Kuchen braucht."
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